7. Mai – Wege der Erleuchtung

Jürgen suchte Erleuchtung. Er hatte am Meditationszentrum mitgebaut und er meditierte inzwischen jeden Morgen und jeden Abend mindestens eine Stunde lang. Natürlich war er Vegetarier. Die meisten Wochenenden verbrachte er im Meditationszentrum und belegte Kurse oder machte ein Retreat. Manchmal hielt er abends selbst Vorträge. Mit anderen Worten er war selten zu Hause.

Seine Frau Dagmar hatte sich inzwischen damit abgefunden, dass Jürgen unbedingt erleuchtet werden wollte. Und sie wusste, dass er längst davon träumte einen echten langjährigen Retreat mitzumachen. Irgendwo auf einem Berg in einer abgelegenen Hütte nichts weiter zu tun, als zu meditieren. Dagmar verstand nicht so sehr viel von diesem ganzen spirituellen Kram.

Aber sie fand Jürgen ziemlich egoistisch und wusste nicht, was das alles mit Erleuchtung zu tun haben sollte, wenn er seine Familie im Stich ließ, wenn er es Dagmar überließ, sich um die Kinder zu kümmern und für das nötige Kleingeld zu sorgen.

Natürlich hatte Jürgen keine Zeit, sich um solche profane Dinge wie Arbeit oder Familie zu kümmern. Er beschäftigte sich lieber damit sich in bedingungsloser Liebe zu allen Wesenheiten zu üben. Dagmar fand, dass irgendetwas nicht stimmen konnte, an dieser Lebensweise, wenn diese Übungen dazu führten, dass die Liebe zu ihr und zu ihren gemeinsamen Kindern darüber längst erloschen war.

Auch wenn Jürgen in seiner Familie kein besonders großes Ansehen genoss, so war dies in der spirituellen Gemeinschaft im Meditationszentrum doch ganz anders. Und viele hielten ihn für jemanden, der auf dem Pfad der Erleuchtung bereits weit vorangeschritten war.
Aber dann geschah eines Tages etwas Merkwürdiges. Ein Mann tauchte im Zentrum auf. Er wirkte ein bisschen schmuddelig in seinen dunklen Jeans, den schweren Stiefeln und der schwarzen Lederjacke. Seine Haare waren einmal schwarz gewesen und nun mit einigen grauen Strähnen durchzogen.

Als er ins Zentrum kam, nickte er den Leuten, die vor der Meditationsstunde draußen zusammenstanden und gewichtige Unterhaltungen führten kurz zu. Dann ging er als Erster in den Andachtsraum ohne sich die Stiefel auszuziehen und setzte sich nach vorn auf das auf einem Podest etwas erhöht liegende Meditationskissen.

Jürgen sollte die heutige Abendmeditation anleiten. Aber als er auf den Mann zuging, noch unentschlossen, wie er ihn vertreiben könnte, schlug der bereits die Klangschale an. Die anderen strömten in den Raum, schauten zwar verdutzt und unsicher von Jürgen zu dem Unbekannten. Aber schließlich setzten sich alle auf ihre Kissen und fielen in die einleitende Rezitation mit ein.

Nur Jürgen stand noch, fühlte sich etwas verloren. Da schaute ihn der unbekannte Mann durchdringend an. Und obwohl ihm kein einziges Wort über die Lippen kam, hatte Jürgen das Gefühl, seine Stimme ganz deutlich in seinem Kopf zu hören.

Und diese Stimme sagte ihm: „Jürgen, geh’ nach Hause. Du findest keine Erleuchtung, indem Du Dich vor dem Leben und vor der Liebe und vor der Verantwortung versteckst.“

„Aber…“ Jürgen stand der Mund offen, seine Arme hingen hilflos hinab. Er schaute fassungslos von dem Unbekannten zu den Meditierenden am Boden.

„Geh!“, sagte die Stimme noch einmal und da setzte sich Jürgen langsam in Bewegung und ging nach Hause.