6. September – Untergang

Untergang. Wie es geschah, dass weiß keiner, aber dass es geschah, daran erinnern sich noch viele. Ein kleines Boot, ein Segelboot, geliehen von unerfahrenen Seglern, unsinkbar diese Dinger, das Boot wurde auch wiedergefunden nur etwas zerzaust aber ohne Besatzung.

Und das war es dann. Suchaktion ohne große Hoffnung. Schließlich wurden irgendwann die Leichen gefunden, aufgebläht und seltsam wächsern, stinkend natürlich. Nichts für einen offenen Sarg. Traurige Reden auf den Beerdigungen, so unerwartet, so jung, so vielversprechend, so talentiert. Niemals, niemals werden wir euch vergessen.

So schworen wir damals. Und doch, irgendwann vergessen auch wir, vielleicht erst wenn wir tot sind. Was interessiert unsere Kinder, unsere Enkel das Leben und der unerwartete Tod von irgendwem, den sie nie kannten. An die ich mich kaum noch erinnern kann. Nur aus Hartnäckigkeit und treu meinem Schwur halte ich fest und fest. Wie lange noch?

5. September – Ein Lied

Wenn ich ein Lied schreiben müsste, dann wäre es dieses:
Please tell me, Big Mind,
who i am?
Please tell me, Big Mind,
please tell me, Big Mind,
please tell me, Big Mind,
who i am?
And Big Mind spoke to me and she said:
Look in a mirror
Look around you
You are these horses and the wheat too
You are the grass and the wind and the trees and the sky above
Look in a mirror
Look around you
You are these horses and the wheat too
You are all of them and one of them, always good enough
Bitte sag mir, Big Mind,
wer ich bin?
Bitte sag mir, Big Mind,
Bitte sag mir, Big Mind,
Bitte sag mir, Big Mind,
wer ich bin?
Und Big Mind sprach zu mir und sie sagte:
Schaue in einen Spiegel
Schau dich um
Du bist diese Pferde und der Weizen ebenfalls
Du bist das Gras und der Wind und die Bäume und der Himmel darüber
Schaue in einen Spiegel
Schau dich um
Du bist diese Pferde und der Weizen ebenfalls
Du bist alle von ihnen und eine von ihnen, immer gut genug

4. September – Im Schwitzkasten umklammert

Manchmal, wenn ich mit mir selbst ringe, michgerade im Schwitzkasten umklammert halte und mir genüsslich die Nase umdrehen will, da frage ich mich plötzlich: „Gehöre ich eigentlich noch zu den Guten? Kämpfe ich hier eigentlich auf der richtigen Seite?“

Dieser Gedanke überrascht mich dann derartig, dass ich mich loslassen muss. Dann sitze ich schwitzend und außer Atem neben mir, schaue zu, wie ich mir die schmerzende Nase reibe. Das tut nämlich verdammt weh, die Nase umzudrehen.

Und dann blicke ich mich so von der Seite an und überlege, ob ich denn wirklich noch Sir Galahad bin, Ritter der Armen und Entrechteten, oder ob ich inzwischen schon zu China mutiert bin, das Tibet die Sehnsucht nach Freiheit und Autonomie im Klammergriff auszutreiben sucht.

Dann frage ich mich selbst so neben mir sitzend: „Kämpfen wir eigentlich für eine gute Sache?“ Und die andere sagt wie aus der Pistole geschossen: „Na klar, ich schon!“

„Und warum kämpfen wir dann nicht zusammen sondern gegeneinander?“
Da schaut mich die andere ganz entgeistert an und tippt sich mit dem Zeigefinger an die Stirn.

„Ja“, sage ich dann, „ich war nur einen Moment unsicher. Aber jetzt weiß ich wieder, dass ich im Recht bin.“

„Nein, ich!“, brüllt da die andere und schon haben wir uns wieder in der Wolle.
Das Blöde daran ist nur, dass ich immer noch nicht weiß, welche von uns beiden nun wirklich Recht hat.

Weißt du es?

3. September – Im Kreis

Kennst du das auch? Im Kreis zu denken. In so einem merkwürdigen Gedankenkreislauf gefangen zu sein? Du weißt nicht, was ich meine. Na dann werde ich es dir erklären.

Stell dir vor, du würdest gerne Dompteur werden, hast aber fürchterliche Angst vor allen Arten großer Raubkatzen. Weil das nun einmal so ist, arbeitest du bei einer Schlachterei im Büro. So hast du zwar irgendwie auch etwas mit Tieren zu tun, aber doch nicht so richtig. Also bist du unglücklich und träumst vom Dasein als Raubtierdompteur.

In deiner Vorstellung stehst du in der Manege, lässt die Peitsche knallen, Simba und Daphne gehorchen dir aufs Wort nur Nelson ist immer ein bisschen eigensinnig. Aber gerade deshalb klappt bei ihm der Trick mit dem Kopf im Löwenmaul am besten. Applaus brandet auf, mit ein paar weiteren Bewegungen scheuchst du die Tiere aus der Manege. Verbeugst dich und bist glücklich. Ach, Schade, nur ein Traum. Dann überlegst du. Ich bin so unglücklich in meinem wirklichen Beruf, ich möchte viel lieber Dompteur werden, aber ich habe doch solche Angst vor Raubkatzen. Sogar um Nachbars Kater Paulchen machst du einen großen Bogen, dabei ist der wirklich winzig, geradezu ein Zwergkater und dann auch noch zutraulich.

Dann denkst du, ja, wenn ich nicht so viel Angst hätte, dann könnte ich das ja machen. Du erkundigst dich, dass es Verhaltenstherapie gibt, um seine Ängste zu verlieren. Das geht sogar relativ schnell. Aber dann müsstest du ja erst einmal richtig lernen, wie man Dompteur ist. Du müsstest in die Lehre gehen. Oh je. Du bist doch sicher schon viel zu alt dazu. Und außerdem verdienst du kein Geld, wenn du jetzt wieder ganz von vorn anfängst, was würde deine Frau dazu sagen oder dein Mann, deine Kinder, deine Schwippschwager-Großtante?

Nun, sie würden dich sicherlich für verrückt halten. Dann bleibst du doch besser bei deinem Job im Büro der großen Schlachterei. Aber da verdienst du ja auch nicht wirklich gut. Als Dompteur könntest du bestimmt richtig viel Geld verdienen, wenn du Glück hast und es richtig anstellst. Ach ja, das wäre schon toll. Außerdem wärst du ja auch viel lieber Dompteur. Nur deine Angst vor den Raubkatzen, die ist schon ein Hindernis. Ach ja, nun ja, du könntest natürlich eine Therapie machen und dann…

Wenn ich mich jetzt neben dich stelle, neben dich mit dem Gedankenkreislauf, da weiß ich ehrlich gesagt nur einen Rat: Steig aus. Streichel erst mal die Katze. Und dann sieh weiter. Vielleicht lässt sie dich ja den Kopf ins Maul stecken, wenn du schön artig bittest.

1. September – Marie

„Bist du wahnsinnig?“ Mit einer schnellen Bewegung riss Konrad seiner Tochter Marie das Messer aus der Hand, mit dem sie gerade in der Steckdose herumpulen wollte. Die Kindersicherung hatte sie bereits entfernt. Schweißtropfen glänzten auf Konrads Stirn. Irgendwie hatte er sich das Kinderhüten einfacher vorgestellt.

In Ruhe Zeitung lesen, vielleicht eine schöne Tasse Kaffee dazu trinken und ab und zu einen Blick auf die Kleine werfen. Sonst, wenn er abends nach Hause kam, war sie doch immer schön still und machte höchstens noch ein wenig Theater beim Ins-Bett-Gehen. Susanne hatte sie ganz gut im Griff. Außerdem las sie ihr noch vor, damit Marie schnell einschlief.

Konrad wunderte sich plötzlich, woher Susanne die Energie nahm. Sie ging vormittags arbeiten, kümmerte sich fast allein um den Haushalt und um Marie. Donnerstags machte sie Aqua-Gymnastik und Samstag Abend gingen Konrad und Susanne oft tanzen und ließen Marie bei der Oma.

Er war von seiner Arbeit normalerweise so erledigt, dass er es an Wochentagen abends höchstens noch vor den Fernseher schaffte. Manchmal baute er dann noch an seinen Flugzeugmodellen. Aber meistens hatte er gar keine Lust dazu und schlief stattdessen auf dem Sofa ein, bis Susanne ihn wach machte und ins Bett schickte.

Und nun hatte er Urlaub und musste das allererste Mal allein auf Marie aufpassen. Zumindest seit sie ins Krabbelalter gekommen war. Vielleicht hatte Marie einfach die unbändige Kraft von Susanne geerbt, denn anders konnte er sich nicht erklären wie sie derartig schnell durch die Wohnung robben, sich überall hochziehen und auch noch die meisten Schranktüren aufreißen konnte. Gerade zog sie am Tischläufer und drohte die Blumenvase in den Abgrund zu zerren. Mühsam entwand er Marie die Stoffbahnen aus den kleinen Fingern und nahm sie auf den Arm.

„Nach mir kommst du jedenfalls nicht“, murmelte er, als Marie ihn in die Nase zwickte und dabei lauthals lachte.

31. August – Sonntagswetter

Sonntagswetter. Hoch das Blau mit weißen Schlieren. Golden leuchtet die Abendsonne. Sie gibt dem Gras noch einmal diesen hellgrünen, frühlingshaften Farbton, obwohl bereits fast alles abgeerntet ist und die Felder mit blanker, aufgeworfener Erde in den Himmel blicken. Langsam lässt die Sauglust der blutgierigen Bremsen nach.

Die feinen Sommerblumen sind längst verblüht und machen jetzt den kräftigen Herbstfarben Platz. So schnell geht dieses Jahr die Zeit des Wachsens und der Reife vorbei. Trauer erfasst mich. Was nützt das Wissen, dass es nächstes Jahr wieder Frühling und Sommer geben wird.

Erfüllt bin ich nun von Abschied.

29. August – Jeder bemüht sich, so gut er kann

Jeder bemüht sich, so gut er kann. Das ist schließlich eine allseits anerkannte Tatsache. Was denn auch sonst? Niemand möchte freiwillig ein Idiot sein oder schlecht in Sport oder dumm in Mathematik.

Aber trotzdem gelingt nicht jedem alles gleich gut. Das ist wiederum gar nicht so schlecht, vor allem im Hinblick auf Individualität und Persönlichkeit und auch die Würde des Einzelnen, die doch unantastbar sein soll. Zumindest solange die Fernsehkameras ausgeschaltet sind und solange es sich mit der Geschäftspolitik vereinbaren lässt.

Das offenbart: Mit der Würde ist das auch so eine dehnbare Sache. Dehnbar wie zum Beispiel die Freiheit. Wir leben in Freiheit, selbstverständlich. Trotzdem haben wir unsere Freiheit selbst ein wenig eingeschränkt im Namen des Volkes. Was ja auch gut und richtig ist.

Denn wo kommen wir denn da hin, wenn jeder seine Bäume fällt, wie er lustig ist, oder womöglich lila Dachziegel eindecken lässt. Oder – Gott behüte – irgendjemand einfach so ein fraktales Haus baut oder ein kugelförmiges, womöglich in einem Wohngebiet, in dem sogar Dachgauben abgelehnt werden, wenn nicht kleine in völliger Freiheit angebotene Gefälligkeiten an entsprechender Stelle dargebracht werden.

Gedanken, die sind frei, solange sie keiner ausspricht selbstverständlich. Das könnte schon so ein klein wenig problematisch werden, wenn jetzt jeder meint, er könne seine Meinung einfach so äußern und würde damit sogar noch Gehör finden. Außerdem wollen wir ja auch keinen verletzen. Und so bleibt die Wahrheit schon manches Mal auf der Strecke.

Wer möchte schon gerne hören: „Du hast aber zugenommen“, oder „Früher hattest du aber mal mehr Haare.“ Und das sind harmlose Wahrheiten, die uns schon nicht über die Lippen kommen. Solche offensichtlichen Makel auszusprechen ist vielleicht noch Kindern oder Betrunkenen gestattet.

Aber die kleinen, gemeinen Geheimnisse, die hinter jeder Fassade lauern. Wer deckt die auf?

Niemand.

Und so sitzen alle in ihren Kammern und fürchten allein zu sein mit ihren schrecklichen Wahrheiten.

Dabei geht es uns doch allen so. Und wir müssten niemals allein sein im Angesicht der Wahrheit. Und trotzdem wählen wir lieber die Lüge, die uns trennt, die uns das Gesicht wahren lässt.

Nun ja, jeder bemüht sich eben, so gut er kann.

28. August – Die Bank am Ofen

Es war einmal ein kleiner Kater, der lag auf der Bank am Ofen und wärmte sich. Da kam der Herr des Hauses in die Stube und fand den Kater am besten und wärmsten Platz im ganzen Raum und wollte ihn verscheuchen.

Aber da wies die Herrin in zurecht und sagte: „Hast du heute Morgen schon Mäuse gefangen, diese Plagegeister, die unsere Vorräte anknabbern?“

Der Herr verneinte.

„Hast du heute Morgen schon um meine Beine geschnurrt und mir lieb getan?“

Wieder verneinte der Herr.

„Dann lass den kleinen Kerl in Frieden schlafen. Setz dich gefälligst woanders hin.“

Und der Herr des Hauses setzte sich auf einen Stuhl und wärmte sich die Füße am Ofen. Da erwachte der Kater, reckte sich und streckte sich, miaute einmal zur Begrüßung, als er den Herrn sah. Dann sprang er ihm auf den Schoß, schnurrte und tat auch ihm lieb.

Da war der Herr aber froh, dass er den Kater auf der Ofenbank hatte schlafen lassen.

27. August – Rebecca in arger Bedrängnis

Eines Tages sah sich Rebecca in arger Bedrängnis. Völlig unerwartet, aus heiterem Himmel, ganz und gar ohne Vorankündigung kam das Unglück in Gestalt des Postboten an ihre Haustür.

Arglos öffnete sie, nahm zwar verwundert aber noch völlig, ohne etwas Schlimmes zu vermuten zusammen mit der übrigen Post ein amtliches Schreiben entgegen. Sie öffnete es neugierig. Und dann las sie es. Sie hatte geerbt. Noch wusste sie nicht, um was und wie viel es sich handelte.

Anscheinend war sie die einzige Erbin einer unlängst verstorbenen Großtante, die sie – wie sie sich mühsam erinnerte – wohl einmal als Kind getroffen hatte. Da sie weder Geschwister noch Eltern oder andere Verwandte hatte und als einzige übrig war von ihrer alten und ehemals großen Familie, kam es ihr nicht so sehr verwunderlich vor, dass irgendeine alte Großtante ihr ihre mageren Ersparnisse hinterlassen haben sollte. Viel mehr aber sorgte sie sich darüber, wo diese Tante denn nun begraben sei. Ob sie überhaupt schon beerdigt war.

Rebecca hatte einen guten Job und einen Lebensgefährten, der ebenfalls gut situiert war. So glaubte sie keine Sekunde, dass diese Erbschaft nun wirklich etwas an ihrem Leben würde ändern können. Die Formalitäten der Erbschaft waren nicht neu für Rebecca, sie hatte diese beim Tode ihres Vaters an der Seite ihrer Mutter kennengelernt und nach dem Tode ihrer Mutter selbst erledigen müssen. Und als sie dann beim Notar saß, sie saß zum Glück, blieb ihr fast das Herz stehen, als er ihr erklärte, was sie geerbt hatte. Es handelte sich um eine sehr große Zahl, um Investments, Bankschließfächer, Schmuck, Pelze, um eine lange Liste von Immobilien und Wertgegenständen. Rebecca wurde ganz weiß um die Nase. Der Notar schenkte ihr einen Weinbrand ein und schob ihn ihr über den Tisch.

Rebecca räusperte sich und rang nach Fassung. Der brennend scharfe Geschmack des Alkohols brachte sie soweit zur Besinnung, dass sie dem Notar mitteilen konnte, es handele sich sicherlich um einen Irrtum. Sie habe sich doch verhört, habe einfach nicht so ganz aufgepasst. Ihre Großtante, an die sie sich kaum erinnern könne, das gebe sie zu, sei doch eine ganz einfache, normale Frau gewesen. Zumindest als sie, Rebecca, noch ein Kind gewesen sei.

Der Notar versicherte Rebecca, dass es ganz sicher kein Irrtum sei und sie könne sich gerne noch eine Weile ausruhen, bevor er ihr erklären würde, wie es weiterginge. Rebecca begann zu zittern. Sie gehörte nicht zu den Menschen, die Probleme mit Geld hatten, noch nie in ihrem Leben hatte sie sich mehr gewünscht, als sie besaß. Sie war immer zufrieden. War niemals auf die Idee gekommen an einem Glücksspiel teilzunehmen. Sie lächelte immer nur voller Unverständnis, wenn Menschen sich in ihrer Gegenwart darüber beschwerten, dass sie zu arm seien. Vielleicht hatte ihre Mutter ihr das beigebracht. Das Leben war eben schön, ob sie sich nun Pellkartoffeln oder Kaviar leisten konnte.

Aber nun, da sie mit einem Vermögen belastet war, ja sich fast bestraft sah. Was sollte sie mit so viel Geld bloß anfangen? Welch eine Verantwortung wurde ihr da aufgeladen? Da fragte sich Rebecca, ob sie hier mit der Philosophie ihrer Mutter noch weiterkam. Wenn sie wollte, konnte sie sich tonnenweise Kaviar kaufen, den in goldenen Schalen den obdachlosen ihrer Stadt servieren und das 365 Tage im Jahr und sie wäre immer noch stinkend reich.

Was würden ihre Freunde sagen, ihr Lebensgefährte? Würden jetzt nicht plötzlich viele Leute sie um Geld anhauen? Und wie sollte sie darauf reagieren? Wie sollte sie entscheiden? Und wie wüsste sie in Zukunft wer es ehrlich mit ihr meinte und wer es nur auf das Geld abgesehen hatte. Sie musste es geheimhalten, das war die einzige Lösung oder das Erbe doch noch ausschlagen. Aber dann würde es einfach der Staat bekommen und das konnte doch nicht im Sinne ihrer Tante sein?

Schließlich hatte sie ihr das Geld hinterlassen. Sie musste unbedingt herausfinden, was ihre Tante für ein Mensch gewesen war. Wie sie gelebt hatte und wie sie zu dem ganzen Geld gekommen war. Dann würde sie sich entscheiden. Dann würde sie die ganze Verantwortung auf sich nehmen, diesen großen, sehr großen Reichtum gerecht und sinnvoll zu verwalten.

26. August – Im Baumarkt

Mir ist letztens etwas Merkwürdiges passiert. Ich suchte im Baumarkt ziemlich lange nach einem bestimmten Bohrer, der aber leider nicht im Sortiment vorhanden war. Also schickte ich mich an, den Markt wieder zu verlassen, ohne etwas zu kaufen.

An der Kasse schlängelte ich mich an den Wartenden vorbei. Die Kassiererin schaute mich böse an und ich hob die Hände, um anzudeuten, dass ich nichts zu bezahlen hätte. Da nickte sie mir zu und ich ging weiter. Kurz vor der Schiebetür mit den Detektoren zur Diebstahlsicherung hielt mich ein junger Mann auf und bat mich, meine Jackentaschen auszuleeren.

Ich schaute ihn verdutzt an. Weil ich aber gerade keine Lust hatte zu streiten oder auf meine Bürgerrechte zu beharren, zeigte ich ihm den Inhalt meiner Taschen. Es handelte sich lediglich um mein Portemonnaie, einen Einkaufszettel, meinen Haustürschlüssel und meinen Autoschlüssel.

Der junge Mann fuhr sich mit dem Finger zwischen Hals und Kragen entlang, räusperte sich und bat mich, ihm zu folgen.

Nun wurde ich doch ärgerlich und sagte:„Ich habe es eilig!“

Als er mich am Ellbogen packen wollte, wich ich aus.

„Moment mal! Was wollen Sie von mir?“

Wieder räusperte sich der Bursche und sagte im Flüsterton: „Ich habe Sie beobachtet, geben Sie auf.“

Meine Augen weiteten sich vor Erstaunen. Der Kerl musste verrückt geworden sein. Detektivkoller oder so.

„Nun mal sachte, mein Junge! Ich gehe durch die Tür und wenn nichts Alarm schlägt, kann ich ja nicht gestohlen haben.“

Ich machte einen Schritt zwischen die Detektoren, die stumm blieben wie erwartet.

Aber da hatte ich mich getäuscht. Streng schaute er mich an.

„Das beweißt gar nichts, Sie könnten ja den Magnetstreifen entfernt haben.“

Nun blieb mir die Spucke weg.

„Kommen Sie bitte mit“, sagte der Junge diesmal etwas forscher und griff wieder nach meinem Arm.

„Ich möchte den Geschäftsführer sprechen!“, sagte ich mit aller Autorität, die ich aufzubieten hatte.

Der Kerl schüttelte nur stumm den Kopf und versuchte mich in Richtung einer weißen Tür zu drängen, die mir zuvor noch nie aufgefallen war. Ich schaute mich um.

Ein paar Leute hasteten an mir vorbei durch den Ausgang. Einer raffte gerade seinen Einkauf zusammen und spurtete an uns vorbei. Ich konnte deutlich erkennen, dass ein vermutlich nicht bezahlter Spezialbohrer aus seiner Jackentasche ragte.

Die Detektoren schlugen tatsächlich nicht an, als er hindurchmarschierte.
Eine Frau trug ganz offen eine unbezahlte Gartenschere durch die Kasse und an uns vorbei. Auch bei ihr blieben die Detektoren stumm.

So viel Dreistigkeit konnte es doch nicht geben. Wahrscheinlich versteckte Kamera, schoss es mir durch den Kopf. Okay, hier wollte mich einer auf den Arm nehmen. Na, das konnte er haben.

„Wissen Sie was, damit Sie mir endlich glauben, kann ich mich ja ausziehen.“ Ich zog also meine Jacke aus, dann den Pullover, mein T-Shirt, die Stiefel.

„Sehen Sie, alles okay.“ Ich drehte mich im Kreis herum. „Die Hose auch noch?“, fragte ich. „Oder wollen Sie noch in meine Körperöffnungen sehen? Vielleicht rufen Sie lieber gleich die Polizei und lassen mich ins Klinikum fahren zum Röntgen. Ich könnte ja etwas verschluckt haben.“ Ich lächelte absichtlich ein wenig irre.

„Nein, nein, schon gut, ziehen Sie sich wieder an“, stotterte der Bursche.

„Also wirklich, wenn Sie immer so einen Aufstand machen, klaue ich hier aber nichts mehr“, rief ich zum Abschied und ließ den jungen Mann stehen.

Leider war es doch keine versteckte Kamera. Dabei hatte ich mir schon Hoffnungen gemacht, endlich auch mal ins Fernsehen zu kommen.

24. August – Nie mehr Teufel

„Hol dich der Teufel! Hol dich, verdammt nochmal, der Teufel!“ Hochrot im Gesicht brüllt er’s heraus. Die Ader an der Schläfe pulsiert, die Augen sind klein und schwarz.

Anstrengung. Solche Anstrengung diese Wut, diese Konzentration auf das „Hol dich der Teufel“. Aber der Teufel kommt nicht, holt mich auch nicht. Stehe ich also immer noch da. Keine Arme halten den anderen zurück. So voller Zorn, außer sich, über sich, ganz tief in sich und kann nicht heraus.

Gelassen betrachte ich, was ich da sehe. Wut, Zorn. Auch häufige Gäste in mir, kenne die beiden sehr gut. Dann springt das Teufelchen heraus und holt mich. Lässt mich Dinge sagen. Unaussprechlich wahre Dinge. So wahr, dass sie besser nie gesagt werden.

Aber der Teufel holt mich nicht. Diesmal nicht. Stehe da ganz ruhig und hebe keine Hand zum Schutz. Mache mich nicht bereit davonzulaufen. Flucht oder Schlacht, tief eingegraben in meinen tierischen Instinkten, sind außer Kraft gesetzt.

„Du willst mir nicht wehtun“, sage ich nur und das unfassbare geschieht. Die Fratze vor mir wird wieder ein Gesicht. Die Glieder fallen locker, ein Schritt zurück, schafft Raum. Ich nehme den Kampf nicht mehr auf. Heißt das jetzt „Leb wohl?“

23. August – Wenn ich groß bin

Wenn ich groß bin, möchte ich in die weite Welt reisen. Ich möchte auf dem Amazonas im Einbaum dahingleiten, die vielfältigen Geräusche des Urwaldes hören, die buntschillernden Papageien in den mächtigen Bäumen sitzen sehen, das bemalte Gesicht eines Einheimischen am Flussufer erspähen und dabei wohlig erschauern.

Ich möchte mit einer Rakete ins Weltall geschoßen werden, in einem weißen Raumanzug in der Schwärze des Alls schweben und auf die blaue Erde hinabsehen.

Ich möchte uralte Höhlen durchwandern und die Zeichnungen an den Felswänden deuten.

Ich möchte mit Aboriginies schweigen und eine Traumreise durch die Zeitalter machen.

Ich möchte mit Virginia Woolf einen Tee trinken und mit Astrid Lindgren einen Schneemann bauen. Ich möchte mit dem Motorrad durch die Sahara fahren.

Ich möchte im Himalaja buddhistische Klöster besuchen und die grüne Tara treffen.

Ich möchte in New York vom Empire State Building spucken und in Paris Metro fahren.

Ich möchte alle Menschen fragen:

Wünschst du dir ein besseres Leben?

Was bedeutet das für dich konkret?

Was kannst du selbst beitragen?

Warum fängst du nicht sofort damit an?