9. Januar – Der Kater ohne Namen

Es war einmal ein Kater, der war so wild, dass er keinen Namen hatte. Er unterhielt sich niemals mit den Hauskatzen, die sich von großen, zweibeinigen Wesen streicheln ließen und kamen, wenn man sie beim Namen rief. Diesen großen Wesen traute er nicht. Aber ihr Futter fraß er doch. Denn einige von ihnen stellten für wilde Katzen wie ihn Futter vor die Tür. Aber er schlich sich immer nur an den Napf, wenn er keines von diesen großen Wesen sehen konnte. Später dann fand er eine schöne warme Höhle vor einem Gartenhäuschen, nur 30 Katzenlängen vom Napf entfernt, der regelmäßig morgens und abends mit lecker duftendem Futter gefüllt wurde.

Die Höhle war in einem Holzkasten mit kreisrundem Loch, innen mit kuscheligen Decken rundum gepolstert. Wenn der Kater ohne Namen nachts darin schlief, spürte er auch in der kältesten Winternacht keinen beißenden Wind im Fell. Am Morgen hörte er dann immer, wenn die zweibeinigen Wesen ihr Haus verließen und etwas Futter für ihn in den Fressnapf taten. Dann quietschte das Garagentor und schließlich hörte er einen Motor dunkel und tief brummen. Erst wenn das tiefe Brummen des Autos verklungen war, schlich er sich schnell an den Napf und fraß eilig, was er dort vorfand. Nach einer Weile schlich er schon aus seiner Höhle, wenn er die Tür hörte, und rannte schnell hinter die Mülltonnen und beobachtete von dort, wie das Futter von den zweibeinigen Wesen ausgeteilt wurde. Sobald sich der Zweibeiner zur Garage wandte, sprang der Kater ohne Namen schnell zum Napf und fraß einen hastigen Bissen, immer auf dem Sprung sofort wieder hinter die Mülltonnen zu flüchten, falls der Zweibeiner sich wieder umdrehte.

Eines Tages kam noch ein anderer Kater zu seiner Futterquelle, ein großer schwarz-weißer Bolzer. Der wollte ihm sein Futter wegfressen, das konnte der Kater ohne Namen nicht zulassen. Also warnte er den Schwarz-weißen und fauchte ihn mit zurückgelegten Ohren böse an. Der sprang zurück, machte sich noch dicker, als er war und fauchte. So fauchten und heulten sich die Kater eine Weile bedrohlich an, bis schließlich der Kater ohne Namen angriff und dem Schwarz-weißen zeigte, was ein richtiger Straßenkämpfer ist. Wild kratzte er mit den Pfoten und versuchte, dem dicken Kater in die Schwanzwurzel zu beißen. Das tat am meisten weh. Aber dort kam er nicht heran.

Der andere Kater wehrte sich nach Kräften und versuchte, den Kater ohne Namen ebenfalls an einer empfindlichen Stelle zu erwischen. Nach einer kurzen erfolglosen Rangelei trennten sich die beiden und standen sich wieder lauernd gegenüber. Schließlich versuchte der Kater ohne Namen eine Finte und wirklich, es gelang ihm, den schwarz-weißen einen ordentlichen Biss in den Bauch zu verpassen. Das war noch besser als die Schwanzwurzel. Heulend strampelte sich der Schwarz-weiße frei und biss um sich. Dabei erwischte er den Hinterlauf des Katers ohne Namen. Aber der merkte fast gar nichts davon in seinem Triumph den dicken Bolzer besiegt zu haben. Zufrieden machte sich der Kater ohne Namen über das Futter her.

Aber am nächsten Tag hatte sich die kleine Wunde, eigentlich nur ein Kratzer, entzündet und der Kater ohne Namen hinkte nur zum Futternapf. Und am nächsten Tag konnte er das Hinterbein gar nicht mehr belasten und sprang nur noch auf drei Beinen. Trotzdem rannte er sofort weg, wenn ihm die zweibeinigen Wesen zu nahe kamen. Die versuchten nun den Kater ohne Namen zu locken. Sie hockten sich mit Futter in der Hand auf den Boden und riefen ihn. Aber der Kater ohne Namen lugte nur misstrauisch hinter den Mülltonnen hervor. Das Futter mochte er gerne haben, aber diesen Zweibeinern wollte er einfach nicht näher kommen.
Dann, eines Morgens war kein Futter im Napf. Traurig schlich der Kater ohne Namen zur Tür und schnupperte am leeren Schüsselchen. Er schlich eine Weile ums Haus und da endlich sah er Futter. Ach wie herrlich das duftete. Völlig ausgehungert stürzte er sich auf drei Beinen in den kleinen Drahtkäfig, in dem das Futter lockte. Er bemerkte gar nicht den metallischen Klang hinter sich, so sehr war er mit Schlingen beschäftigt. Erst als er satt war und wieder zu seiner Hütte laufen wollte, da merkte er, dass er gefangen war. Ein paar von den zweibeinigen Wesen näherten sich ihm. Der Kater drehte sich wild im Käfig, kratzte am Boden und biss in die Metallstäbe. Aber es nützte nichts. Die Zweibeiner kamen unaufhaltsam näher. „Wir werden ihn zum Arzt bringen“, sagte eine Stimme. „Er muss auch kastriert werden“, sagte eine andere.

Dann warfen sie ein Tuch über den Käfig und der Kater ohne Namen konnte nicht mehr sehen, was draußen geschah. Er hockte sich ganz eng zusammengekauert hin. Sein Herz schlug schmerzhaft im Brustkorb. Er lauschte. Lange Zeit geschah nichts. Dann hörte er wieder Schritte, der Käfig wurde hochgehoben. Er schwankte leicht und wurde dann in einen hohlen Raum geschoben. Er hörte einen Kofferraumdeckel zuschlagen, dann hörte er Autotüren sich öffnen, Zweibeiner, bedrohlich nahe.

Die Türen schlugen zu, der Motor heulte unangenehm auf und brummte dann beständig. Sie bewegten sich, der Käfig schien sich zu bewegen und zu vibrieren. Der Kater ohne Namen kauerte immer noch abwartend. Er hatte davon gehört. Sie würden ihn wegbringen, sie würden gut zu ihm sein, sie würden ihm einen Namen geben. Und er würde nie mehr sein, wer er einmal war: stolz und frei, der Kater ohne Namen.