4. März – Kendra

Als Kendra noch ein kleines Mädchen war, da war die Welt in Ordnung. Sie half ihren Müttern auf dem Feld oder ihren Onkeln im Stall. Und sie spielte mit ihren Geschwistern und Freunden.

Manchmal schlichen sie sich in den Wald, aber das sollten sie nicht, weil es dort für Kinder gefährlich war. Vor allem wenn sie sich nicht mit den Zaubern auskannten, um Wölfe und Bären zu bannen. Kendra lächelte, als ihr einfiel, dass es eine Zeit gegeben hatte, da sie diese Dinge noch nicht wusste und beherrschte. Lange war das her.

Inzwischen war sie die mam’ti, das Familienoberhaupt, wörtlich die Mutter des Hauses – im Langhaus. Das bedeutete viel Ehre aber auch viel Verantwortung. Ihre Aufgabe war es, für die ganze Familie zu sorgen, die Entscheidungen zum Wohle aller zu treffen. Natürlich berücksichtigte sie die Wünsche und Bedürfnisse der anderen und auch ihre eigenen.

Aber manchmal fragte sie sich, ob sie das Richtige tat. Kerwin, der Bruder ihrer Mutter, der Älteste im Haus seit langer Zeit, schien häufig unzufrieden mit ihr. Kendra wusste einfach nicht, wie sie mit ihm umgehen sollte. Sie wusste, dass es wichtig war, den Mutterbruder zu ehren. Er war natürlich der wichtigste unter den Männern im Haus.

Aber die letztendliche Entscheidung traf nun einmal sie, gleichgültig wie sehr Kerwin sie missbilligte. Er neigte dazu, es Kendra spüren zu lassen, dass er ihre Entscheidungen für falsch hielt. Und obwohl alles gut lief, so gab es doch eins, das er Kendra genüsslich unter die Nase reiben konnte: Die Tatsache, dass sie bisher nur Söhne geboren hatte. Wenn Kendra keiner Tochter das Leben schenken würde, dann wäre die lange Linie der hen’ti, des Hauses ihrer Vorfahren unterbrochen. Natürlich, sie war jung, sie konnte noch viele Töchter bekommen. Nur das Kind, das sie im Leibe trug, war wieder ein Junge. Kendra spürte das. Und sie fühlte, wie angreifbar es sie auf einer Ebene machte, die nur ihren persönlichen Stolz anging.

Denn in Wahrheit wäre die lange Linie der hen’ti nicht durchbrochen. Dann ginge eben die mam’ti-Würde auf die jüngste Tochter ihrer älteren Schwester über. In den meisten Häusern wurde das ohnehin nicht so dogmatisch geregelt. Die Fähigste unter den Töchtern wurde zum Oberhaupt der Familie. Und ja, wäre Kendra nicht fähig gewesen, dann hätte sie niemals die mam’ti werden können. Also, warum regte sie sich eigentlich auf?

Nur ihr Stolz war der Grund dafür. Sie wünschte sich so sehnlich eine Tochter. Aber vielleicht könnte sie ihren jüngsten noch ungeborenen Sohn tauschen mit einem Mädchen aus einem anderen Zweig der Familie.

Aber ihr Stolz ließ diesen Schritt nicht zu. Dann würde es für alle offenbar, dass sie unfähig war. Kendra holte tief Luft. Das war ihre Schwäche. Eindeutig. Ohne diese Schmach hätte Kerwin überhaupt keine Macht über sie. Ihr eigenes Unvermögen nagte an ihr. Und sie fragte sich langsam, warum sie, ausgerechnet sie dieses Schicksal zu tragen hatte.