6. Mai – Königin

Es war einmal eine Königin, die hatte drei Töchter. Die älteste Tochter hieß Helena und war klug und schön. Sie konnte acht Sprachen fließend sprechen, spielte Klavier und malte kraftvolle Ölgemälde. Die mittlere Tochter hieß Daphne und war fein und zart. Sie konnte siebzehn Teesorten mit verbundenen Augen allein am Duft auseinanderhalten, sie spielte Harfe und bemalte zerbrechliches Porzellan. Die jüngste hieß Diana und war clever und stark. Sie konnte Motocross fahren, spielte E-Gitarre und schweißte Skulpturen aus Altmetall.

Die Königin liebte alle ihre Töchter und so wusste sie auch nicht, welcher Tochter sie nach ihrer Abdankung das Reich überlassen sollte. Sie überlegte hin und überlegte her. Schließlich gab sie den Mädchen eine Aufgabe.

Weit, weit fort in einem fremden Reich gab es einen hohen, hohen Berg. An dessen Flanke stand ein verwunschenes Schloss. Dort gelangte nur hin, wer vorher durch einen finsteren Wald und über einen tiefen See kam. In dem verwunschenen Schloss aber gab es einen Zauberer, der bewachte eine große, schwarze Truhe, in der sich eine Glaskugel befand, mit der man in die Zukunft sehen konnte. Und welche der Töchter ihr diese Glaskugel schaffen könne, die sollte Königin werden.

Da rüsteten sich die drei Töchter, um den Auftrag der Mutter zu erfüllen. Zuerst ging Helena, besser gesagt, sie nahm die königliche Reiselimousine samt Fahrer. Die Limousine hatte ein hervorragendes Navigationssystem, so gelangten sie an den Rand des finsteren Waldes. Dort gab es aber keine Straße, die hindurch führte, nur Waldwege, die voller Schlamm und Dreck waren.

Da überlegte die kluge Helena eine Weile und rief dann ihre jüngste Schwester an. Sie solle doch mal schnell mit dem Motorrad kommen, denn allein käme sie nicht durch den Wald.
„Klar, kein Problem“, rief Diana, packte ein paar Kleinigkeiten zusammen und brauste auf ihrem Motorrad zu Helena. Die schwang sich hinter ihrer Schwester auf das Gefährt. So fanden sie einen Weg durch den Wald und gelangten an das Ufer des tiefen Sees. Der war so kalt, dass er unmöglich zu durchschwimmen war.

Da überlegten Helena und Diana eine Weile und schließlich riefen sie Daphne an, sie solle doch mit dem Luftschiff kommen und sie abholen, damit könnten sie bestimmt bis zum Schloss gelangen.

„Klar, kein Problem“, rief Daphne und flog mit dem Luftschiff über den Wald, sammelte am Ufer des Sees ihre beiden Schwestern ein und nur eine Tasse Tee später waren sie bereits auf dem Schlosshof gelandet. Der Zauberer erwartete sie bereits.

„Ich weiß, was Ihr von mir wollt! Aber ich werde Euch die Glaskugel nur geben, wenn ihr bei mir arbeitet und ich mit Euch zufrieden bin.“

Da steckten die drei Schwestern die Köpfe zusammen.

Schließlich wandte sich Helena an den Zauberer: „Na, wenn es nicht anders geht. Was sollen wir machen.“

Da kratzte sich der Zauberer am Kopf. Er hatte nur mit einer Tochter auf einmal gerechnet und die Arbeit war gar nicht zahlreich genug für drei. So hatten die Mädchen doch sofort alles im Handumdrehen erledigt.

„Also“, sagte er, „Ihr müsst mir Frühstück, Mittag und Abendbrot bereiten, außerdem wünsche ich morgens um 10 Uhr eine Jause und nachmittags um 17 Uhr einen Tee mit Gebäck. Und dann müsste Ihr das Feuerholz hacken, die Böden wischen, die Tiere in den Ställen versorgen, alles aufräumen, putzen und meine Bibliothek sortieren. Abends verlange ich wunderschöne musikalische Darbietungen und am Freitag gibt es ein Fest, zu dem alle meine Kollegen von der Zauberegilde eingeladen sind. Da verlange ich ein Festmahl und ein herausragendes Showprogramm.“

Die Schwestern schauten sich an. Das artete ja in Arbeit aus.

Aber dann krempelten sie die Ärmel hoch und legten los.

Die Älteste kümmerte sich um die Bibliothek, die Mittlere kümmerte sich um die Küche, die Jüngste um Feuerholz und Ställe. Putzen und Aufräumen erledigten sie alles zusammen und abends Musik machten sie auch zusammen. Der Zauberer war sehr zufrieden, versuchte aber, sich das nicht anmerken zu lassen.

Aber so gemütlich hatte er es in seinem ollen verwunschenen Schloss noch nie gehabt.
Am Freitag brauste es in der Luft und die Zauberer kamen auf ihren Besen angeritten, um so ein richtig gelungenes magisches Fest abzuhalten. Und die drei Töchter hatten sich mächtig ins Zeug gelegt, nicht nur, dass sie alles blitzeblank gewienert hatten, sich die Tische von leckerem Essen bogen, nein, sie sorgten auch noch für ein einzigartiges Unterhaltungsprogramm.

Diana jonglierte mit brennenden Fackeln und laufender Kettensäge.
Daphne spielte Harfe und sang dazu so herzzerreißend traurige Lieder, dass alle Zauberer weinten und ins Tischtuch schnäuzen mussten.

Und Helena organisierte einen zünftigen Tanz, um alle wieder fröhlich zu stimmen.
Alle Zauberer waren begeistert und sich einig, dass sie noch niemals so ein schönes Fest erlebt hatten. Da konnte der alte Zauberer nicht anders, er stieg in sein Verlies hinab, schloss die Truhe auf und übergab den Mädchen die Glaskugel, mit der man die Zukunft sehen konnte.

Da verabschiedeten sich die drei, stiegen in ihr Luftschiff und fuhren nach Hause. Dort wartete ihre Mutter, die Königin, bereits gespannt. Als ihre Töchter ihr dann aber erzählten, dass sie alle drei gemeinsam die Glaskugel errungen hatten, verzweifelte sie fast. Nun war sie ja genauso weit wie zuvor.

Aber dann schlug sie sich mit der flachen Hand vor die Stirn.

„Ich bin ja auch blöd!“, rief sie. „Weil Ihr Drei so hervorragend zusammenarbeiten könnt, mache ich Euch alle Drei zu Königinnen, das wird das beste sein.“

Da lachten die Mädchen und freuten sich. Und so regierten sie glücklich und zufrieden das Reich, bis sie die konstitutionelle Demokratie einführten und sich aufs Repräsentieren konzentrieren konnten.

Die Glaskugel liegt heute noch irgendwo im Schloss in einer alten Truhe. Keine von den Schwestern hat sie jemals benutzt. Schließlich gibt es eine ganz einfache Methode zu sehen, was die Zukunft bringt: Es erleben.