2. Juni – Gesines Leben

Gestern besuchte mich eine Freundin und sagte: „Du, borg mir doch mal eben dein Leben aus.“

Ich musterte sie von oben bis unten. Sie sah aus wie immer, hennagefärbtes Haar, wilde Locken, Ringelpulli, Cordhose, zwei nicht zusammenpassende Socken in offenen Sandalen, Gesine eben. Nur ihre Augen hatten heute so einen merkwürdigen Glanz.

„Was willste denn damit?“, fragte ich.

„Jetzt sei doch nicht so. Als wollte ich jetzt irgendwas Besonderes oder so. Nur heute, ehrlich.“

Sie schaute mich ungeduldig an. Ich zuckte mit den Schultern, schüttelte leicht den Kopf.

„Hm, nö!“, sagte ich. „Mein Leben geb’ ich dir nicht.“

Gesine kullerte mit den Augen.

„Das hab ich mir doch gleich gedacht, dass du wieder soo bist. Da brauche ich einmal deine Hilfe. Echt jetzt.“

„Wie, wieder soo? Außerdem ist mein Leben schon was Besonderes. Kannste Dir nicht einfach ausleihen. Und was mach ich solange? Dein Leben hüten, oder was?“

„Ist doch für’n guten Zweck. Brauch das doch nur heute mal.“

„Aber warum?“

„Na, naja“, Gesine druckste herum, „ist nicht so einfach zu erklären.“

„Dann geb’ ich dir mein Leben erst Recht nicht. Wer weiß, was du damit anstellst. Ne, das geht nicht.“

„Ach menno, ich brauch’ das wirklich nur ganz kurz, heute Abend bring ich’s zurück. Lass dir auch meins als Pfand da.“

Sie ließ nicht locker und ich mich breitschlagen. Wir haben also getauscht.

Natürlich kam Gesine gestern Abend nicht wieder.

Sie ist mit meinem erstklassigen Leben durchgebrannt.

Es wundert mich nicht mehr, wenn ich mir den Saustall so angucke, den sie dagelassen hat.
Bei meinem Glück kommt die wieder, sobald ich alles aufgeräumt und in Ordnung gebracht habe.

Aber bis dahin wundert Euch nicht, wenn ich ab und zu mal verschiedene Socken anhabe. Das passiert einem schnell bei so einem chaotischen Gesine-Leben.