23. Januar – Michaela Köhler – das warme Herz

Michaela Köhler schloss leise die Tür und bat die Eltern der kleinen Nicole, Platz zu nehmen. Die Mutter schaute sie mit vertrauensvollen Augen an. Michaela setzte sich und holte tief Luft.

„Leider habe ich keine guten Nachrichten für Sie“, begann sie, „der Tumor wächst wieder und hat bereits Metastasen gebildet.“

Die Mutter schluchzte, der Vater umklammerte die Hand seiner Frau. Dann fragte er mit belegter Stimme.

„Und was jetzt?“

Michaela schüttelte unmerklich mit dem Kopf.

„Ich kann Ihre Tochter leider nicht mehr gesund machen. Alle Therapiemaßnahmen sind gescheitert. Wir können nur noch die Schmerzen lindern. Und Sie, soweit es möglich ist, darin unterstützen, Ihre Tochter gehen zu lassen.“

Michaela konnte die Mutter kaum ansehen. Wenn sie nur bessere Nachrichten hätte, wenn sie nur jedes einzelne Kind heilen könnte, wenn sie nur den Schmerz nicht immer und immer wieder fühlen müsste. Ihr Herz zog sich zusammen und sie wünschte sich mindestens zum tausendsten Mal, dass sie so kaltschnäuzig sein könnte wie ihr Chef.

Der war routiniert und dabei sehr freundlich zu den Patienten und deren Angehörige, aber er fühlte niemals mit. Die Schicksale prallten an ihm ab. Und Michaela hatte er unprofessionell genannt, weil sie nur allzu gut nachempfinden konnte, was in den Eltern vorging und wie sehr die Kinder litten, die endlich gehen wollten und nicht durften, weil die Eltern es nicht aushielten, ihr Kind sterben zu sehen. Und so griffen die Eltern nach jedem Strohhalm und drängten darauf, jede Therapie auszuprobieren, die es gab.

Das war richtig so, natürlich. Aber manchmal, wenn es keine große Chance zur Heilung gab, da war jeder Patient irgendwann austherapiert. Es gab nichts mehr, was den Tod verhindern könnte. Vielleicht konnten sie das Leiden und die Qualen noch etwas verlängern. Aber das war es auch schon.

War es da nicht besser, wenn sie den Eltern dabei half loszulassen. Wenn Sie den Eltern dabei half, sich und ihrem Kind noch eine gute Zeit des Abschieds zu ermöglichen.
Natürlich machte das Angst, natürlich erforderte das sehr viel Kraft von den Eltern und auch von Michaela.

„Ich habe mit Nicole gesprochen. Sie möchte so gerne noch einmal auf ihrem Pony reiten. Und sie möchte gerne nach Hause, um Ihnen allen so nah wie möglich zu sein.“
Beide Eltern weinten jetzt.

„Ihre Tochter ist sehr tapfer.“

Michaela kämpfte ebenfalls mit den Tränen.

„Wir können wirklich nichts mehr tun?“, fragte die Mutter. „Ich habe von einer Therapie gelesen, vielleicht…“ Sie verstummte.

„Lass uns zu Nicole gehen. Sie braucht uns“, sagte der Vater.

Die beiden verabschiedeten sich.

Auf dem Regal stand ein großes Modell vom menschlichen Herzen, aus kaltem, hartem Kunststoff.

Michaela nahm es in die Hand. Es war schwer. Sie strich mit dem Finger über die glatte, künstliche Oberfläche. In dem Augenblick wusste sie, dass sie lieber ihr warmes Herz im Körper hatte, auch wenn es manchmal schmerzte.