26. Oktober – Nach langer Fahrt

Nach langer Fahrt ankommen, fünf Tage liegen jetzt vor uns. Tage voller Möglichkeiten. Tage voller Geheimnisse. Tage voller Begegnungen.

Jede von uns ergreift auf ihre Weise Besitz von dem Raum, den wir in den nächsten Tagen teilen werden. Die Betten werden ausgelost. Die Kleidung und wichtigen Besitztümer wohl verstaut. Die Schreibkladden, die Stifte, die Zeitschriften, Scheren und Kleber, um Collagen herzustellen, bereitgelegt. Pläne werden geschmiedet. Und beschlossen, sich einfach nicht daran zu halten, wenn „gerade etwas Anderes dran ist“.

Seltsame Einigkeit und Achtsamkeit herrscht zwischen uns. Mit Respekt und Liebe begegnen wir einander. So entfalten sich zwischen uns Flügel, die uns zum Himmel tragen. Gespinste, die alte Trauer umweben und in Leichtigkeit wandeln. Fünf unendliche Tage liegen vor uns und alles ist möglich.

20. Juni – Einmal Karma und zurück

Gemeinhin wird Karma überschätzt. Die meisten schwärmen zwar davon, fühlen sich auch irgendwie ganz geläutert, wenn sie zurück sind. Aber für mich, ehrlich gesagt, ist das nichts.

Selbstverständlich kenne ich auch die Plakate und die Werbefilme, aber das allein hätte mich nicht dazu gebracht dieses sehr preisgünstige Last-Minute-Angebot nach Karma in Anspruch zu nehmen. Eher, würde ich sagen, waren es die enthusiastischen Schilderungen meiner Freundinnen. Die sagten, sie fühlten sich jetzt so rein und auch sehr viel schlauer als vorher. Und ein unvergessliches Erlebnis sei es auch gewesen.

Natürlich, als unvergesslich würde ich mein Erlebnis auch bezeichnen. Allein schon diese irre Talfahrt ins gleißende Licht nach dem ewigen Rumgehänge in so einem Vorbereitungsraum. Es ging dann schon gleich los, anstatt meiner Betreuerin an die Brust gelegt zu werden, wurde ich sofort entführt und in so einen Kasten gesteckt, da war es sehr warm aber auch elend einsam.

Das hatten die wahrscheinlich im Kleingedruckten erwähnt, dass es auch richtig mieses Karma geben kann. Irgendwie erinnere ich mich auch dunkel, dass da so irgendetwas stand, von wegen „die Ursachen entfalten jetzt ihre Wirkung“, oder so ähnlich. Na, muss ich das verstehen? Bei einem eben mal schnell gebuchten Last-Minute-Trip? Eben!

So fing das an. Später kam ich dann doch wieder zu meiner Betreuerin, die bestand darauf, dass ich sie Mama nenne, also tat ich ihr den Gefallen – allerdings erst viel später. Denn lachhafterweise konnte ich weder sprechen noch herumgehen. Ich war ganz auf die freundliche Hilfe meiner Betreuerin angewiesen.

Die schleppte mich zu sich nach Hause, da traf ich noch so ein paar arme Reisende, die nicht recht wussten, wie ihnen geschah. Ein paar Jahre Erfahrung hatten sie mir dennoch voraus. Also hielt ich mich erst einmal an ihre Ratschläge.

Von der Reiseleitung weit und breit keine Spur. Ich konnte mich also noch nicht einmal beschweren. Das war schon sehr ärgerlich. Vor allem als das so richtig losging mit den unangenehmen Erlebnissen. Zähne bekommen, ständig Umfallen beim Laufen lernen, ständige Konfrontation mit mies gelauntem, männlichem Hausgenossen, der in irgendeiner nicht genau zu ergründenden Beziehung zu meiner Betreuerin stand.

Dann natürlich Streit mit den anderen Reisenden, die dachten doch glatt, sie wüssten alles besser. Dann wurde ich in etwas geschickt, was sich Schule nannte, ganze neun Jahre musste ich da zubringen! Und dann die Komplikationen mit den anderen Schulbesuchern. Da gab es nämlich männliche und weibliche Kategorie. Bis ich da erst einmal dahinter kam, dauerte es ein paar Jahre.

Als ich dann aber entdeckte, dass die weibliche Kategorie echt voll blöde war, weil ich dann angeblich immer mit Puppen spielen sollte und nicht mit Autos einen Verkehrsunfall nachstellen durfte. Außerdem sollte ich nicht auf Bäume klettern, keine Jungs verhauen und überhaupt mein Licht ständig unter den Scheffel stellen, damit die Jungs sich nicht benachteiligt fühlen, sondern groß und stark und heldenhaft.

Da dachte ich doch, irgendwas ist hier echt schief gelaufen mit meinem Trip nach Karma. Und gerade habe ich auf meinem Ticket gesehen, dass die Rückreise in frühestens 54 Jahren anzutreten ist. Was mir da wohl noch alles bevorsteht? Aber eins weiß ich genau, wenn ich zu Hause bin, da schwärme ich den Daheimgebliebenen auch was vor, wie toll das hier ist. Ich sehe doch nicht ein, dass ich die Einzige bin, die auf diese falschen Empfehlungen reingefallen ist.