30. Juni – Der Schlüssel

Es war einmal ein armes Mädchen, das hatte keine Eltern mehr, keine Geschwister und kein Zuhause. Es besaß nicht mehr als die Kleider auf dem Leibe und einen großen, metallenen Schlüssel. Aber niemand wusste, an welches Schloss er passte, auch das Mädchen nicht. Das Mädchen wusste nur, dass es unbedingt das Schloss finden musste.

Also ging es tagein tagaus durch Dörfer und Städte, durch Wälder und Felder, über Berge und durch Flüsse. Überall, wo das Mädchen ein Schloss fand, probierte es den Schlüssel. Aber nirgendwo passte er. Nachdem es schließlich ein Jahr und ein halbes so gegangen war, setzte es sich erschöpft nieder auf einen Stein am Wegesrand und überlegte, was es weiter tun sollte. Seine Kleider waren inzwischen zerschlissen, die Schuhsohlen waren durchlöchert und hungrig war das Mädchen auch ständig, denn es ernährte sich nur von den milden Gaben der Menschen und den Beeren und Früchten am Wegesrand.

Vielleicht sollte es lieber aufgeben. Den Schlüssel einfach wegwerfen. Wie viel Millionen Schlösser gab es auf der Welt, in die dieser Schlüssel vielleicht passen mochte? Wie lange sollte es dauern diese alle zu erreichen? Und vielleicht verbarg sich hinter der Tür, in der Truhe oder wo der Schlüssel sonst Einlass bieten mochte, etwas völlig Nutzloses oder Gefährliches.

Da kam ein altes Weiblein mit einem großen Bündel Reisig auf dem Rücken den Weg entlang. Die Alte trug so schwer an dem Bündel, dass sie dem Mädchen leidtat. Also bot es an, das Bündel für sie nach Hause zu tragen. Die Frau bedankte sich, lud flugs dem Mädchen das schwere Bündel auf und ging in so schnellem Tempo voran, dass das Mädchen sich sputen musste, um sie einzuholen.

Die Alte führte das Mädchen in den dunklen Wald, der schmale Pfad war im Dickicht kaum sichtbar. Und das Mädchen, schwer gebeugt unter der Last, stolperte häufig über Wurzeln und Äste. Nach einer Weile aber teilte sich der Wald und auf einer großen Lichtung mitten im Wald stand ein großes herrschaftliches Haus mit einem Turm an der linken Seite.

Als das Mädchen diesen Turm sah, durchfuhr sie plötzlich ein Schauer. Eine große Tür mit einem großen Türschloss blickte sie an. Es war, als zuckte der Schlüssel in ihrer Tasche, weil er nun endlich das Schloss gefunden hatte, zu dem er passte. Eilig warf das Mädchen das Bündel nieder, wo die Alte hindeutete. Dann entschuldigte es sich kurz und eilte zum Turm.

Mit zitternden Fingern zog das Mädchen den Schlüssel hervor. Vorsichtig näherte es den Schlüssel dem Schloss. Er passte. Mit einem satten Ton ließ er sich drehen. Das Mädchen hörte ein Klacken. Voller Ehrfurcht drückte sie die Klinke hinunter und die Tür schwang auf.
In dem Turm erwartete sie ein behagliches Wohnzimmer, der Kamin brannte, eine Kanne mit dampfendem Tee stand auf dem Tisch und der gute Duft von frisch geröstetem Toastbrot drang dem Mädchen in die Nase.

Zögernd trat das Mädchen ein. Sie wagte kaum, etwas zu berühren. Voller Ehrfurcht betrachtete sie die hohen Bücherregale an den Wänden, die Gemälde, Teppiche, Möbel und Lampen. Linker Hand führte eine Treppe in das nächste Stockwerk. Dort gab es eine Küche. Auch dort war alles ordentlich und frisch, als hätte gerade jemand den Raum verlassen.
Also stieg das Mädchen noch eine Etage höher. Dort fand sie das Schlafzimmer. Ein großes Bett mit Baldachin, eine schwere Truhe mit Kleidung. Die schienen alle die Größe des Mädchens zu haben. Verwirrt schaute sich das Mädchen um. Plötzlich stand die alte Frau im Zimmer.

„Wem gehört das hier alles?“, fragte das Mädchen.

„Dir. natürlich“, sagte die Alte. „Du hast den Schlüssel“.

„Aber“, stammelte das Mädchen.

Da schüttelte die Alte den Kopf. „Weißt du denn nicht, dass alles für dich bereitet ist und nur auf dich wartet? Wo warst du solange?“

„Ich wusste doch nicht, wo der Schlüssel passt. Ich habe gesucht.“

Da schüttelte die Alte noch einmal den Kopf. „Na, jetzt bist du ja da!“