20. Februar – Reise durch das Sorgenland

Selina war neugierig auf das geheimnisvolle Sorgenland, das über die ganze Weite des Erdenrunds für seine Eigenart berühmt war. Sie hatte gehört, dass dort niemand eine Aufenthaltsgenehmigung oder gar Bleiberecht erhalten konnte, wenn er sich nicht fleißig und zuverlässig im Sorgenmachen geübt hatte.

Und sie wollte doch unbedingt wissen, wie sich Sorgen machen funktioniert. Es musste eine großartige Gabe sein; denn ihr war diese Kunst völlig unbekannt. Also drehte sie sich dreimal auf dem Absatz, dem linken, machte einen großen Schritt und schon hatte sie das Sorgenland erreicht.

#Sie landete in einer Fußgängerzone. Es war regnerisch und die Leute eilten schnell über die freien Flächen, um wieder unter eine Überdachung oder ins nächste Geschäft zu gelangen. Einige trugen große Regenschirme, andere hatten sich die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen. Keiner von ihnen beachtete Selina. Die schaute sich neugierig um und streckte die Zunge heraus, um ein paar Regentropfen zu fangen. Sie genoss die lustigen Regentropfen auf ihrem Haar und beobachtete, wie ihre Kleidung langsam feucht wurde.

Dann fiel ihr ein, dass sie doch so gerne wissen wollte, wie das Sorgenmachen funktioniert. Also sprach sie einen Mann an, der gerade mit tief ins Gesicht gezogenem Hut und gebeugten Schultern durch den Regen eilte. Aber der schien sie gar nicht zu hören. Er rannte einfach weiter. Selina zuckte mit den Achseln.

Dann sah sie eine ältere Frau mit einem großen, gelben Regenschirm auf sich zukommen. Selina rief ihr ein freundliches „Hallo“ zu. Die Frau blieb stehen.

„Mädchen, Du wirst Dir noch den Tod holen“, rief sie ganz bestürzt. „Komm unter den Schirm! Wie kannst Du an solch einem Tag nur ohne Jacke ausgehen. Du bist ja ganz naß!“

Die Frau zog Selina unter den gelben Regenschirm und lief mit ihr unter das Vordach eines Kaufhauses. Durch das Lüftungsgitter vor der Eingangstür blähte ein steter, warmer Luftstrom Selinas Rock. Und sie drehte sich ein wenig, damit es sie von allen Seiten wärmte.

Die Frau schaute ihr zu und redete immer noch auf sie ein, dass sie unvernünftig sei und sich ganz sicher den Tod holen werde. Aber Selina lachte nur.

„Liebe Frau“, sagte sie, „ich bin von weit her gekommen, um zu erfahren, wie ich mir Sorgen machen kann. In dem Land, wo ich herkomme, gilt das als große Kunst. Aber bei uns beherrscht sie niemand. In Eurem Land sollen große Meister dieser Kunst wohnen und jedes Kind soll sie beherrschen. Bitte, verratet mir, wie mache ich mir Sorgen?“

Die Frau starrte Selina entgeistert an. Endlich war sie sprachlos. Ihr Mund bewegte sich zwar, aber es kam kein Laut heraus. Dann schnaufte sie, drehte sich empört um, ließ Selina stehen und stapfte energisch davon. Der gelbe Schirm wippte dabei aufgeregt auf und ab. Selina guckte ihr eine Weile nach.

Dann hielt sie weiter nach jemandem Ausschau, der wissen könnte, wie das Sorgenmachen funktioniert. Vielleicht, überlegte sie, ist doch nicht jeder in diesem Lande Meister darin. Aber sie würde sicherlich bald einen guten Lehrer finden.