23. Juni – Der goldene Vogel

Wenn ich nicht so müde wäre, dann würde ich Euch erzählen, wie mir heute ein goldener Vogel begegnet ist, der sehr interessante Ansichten zur Kükenaufzucht vertrat.

Ich konnte ihn leider nur schwer verstehen, weil er zwischen den Worten ständig pfiff und trillerte. Bevor ich mir vor lauter Schmerzen die Ohren zuhalten musste, bekam ich aber noch Folgendes mit:

„Es gibt“, sagte der Vogel, „mehrere Methoden seine Kinder aufzuziehen. Wenn sie noch im Ei sind, brauchen sie Wärme und Liebe, damit sie wachsen und gedeihen. Irgendwann wird es ihnen dann zu eng in der Eierschale, weil sie einfach zu stark gewachsen sind. Dann strengen sich die kleinen Vögelchen fürchterlich an, picken mit ihrem Eizahn die Schale auf und kommen heraus.

Freilich, nicht jedes Küken mag aus seiner Schale herauskommen, manche entscheiden sich aufzugeben. Es ist nämlich fürchterlich anstrengend so eine Eierschale von innen aufzupicken und sich herauszustemmen. Ich weiß ja nicht, ob du das schon einmal versucht hast?“

Der Vogel legte den Kopf schief und schaute mich fragend an. Ich guckte verdutzt, zuckte mit den Schultern und wiegte den Kopf hin und her. Sehe ich aus wie aus einem Ei geschlüpft? Wie kommt er darauf?

„Ich kann es mir vorstellen“, antwortete ich schließlich.

„Dann verstehst du, dass viele kleine Vögel da schon aufgeben. Manche wachsen auch einfach nicht in ihrem Ei, weil sie nicht genug Wärme und Liebe bekommen haben, andere glauben nicht daran, dass es ihnen außerhalb des Eis gefallen wird und dann gibt es natürlich die Vogelkinder, die es gar nicht erwarten können endlich aus dem engen Ei herauszukommen. Die reißen dann auch als erste den Schnabel ganz weit auf um von ihren Vogeleltern gefüttert zu werden.“

Ich nickte, um anzudeuten, dass ich noch folgen konnte. Also fuhr der goldene Vogel fort:

„Und dann kommt irgendwann der Tag, wo die Eltern ihre Küken aus dem Nest werfen, damit sie fliegen lernen. Nun ja, die meisten jungen Vögel wollen von selbst fliegen lernen, aber manchmal gibt es hartnäckige Nesthocker und die müssen dann einfach raus aus dem Nest. Schließlich haben wir alten Vögel auch noch etwas anderes zu tun außer unsere Brut aufzuziehen.“

„Ah, ja!“, sagte ich und lächelte verständnisvoll.

„Wenn natürlich die alten Vögel gar keine Zeit für die Aufzucht haben, dann legen sie schon das Ei in das Nest eines anderen Vogelpaares. Das ist natürlich am wenigsten zeitraubend.“

Ich hüstelte verlegen.

Was, um Himmels willen, machen die alten Vögel denn so Wichtiges? Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, welche Lebensziele so ein Vogel verfolgen mag. Nur weil mir die Ohren so wehtaten, mochte ich nicht weiter nachfragen.

ußerdem war mir das auch ein bisschen peinlich, womöglich hätte ich den Vogel mit dieser Frage beleidigt. Mit etwas Glück erzählt mir der goldene Vogel das bei seinem nächsten Besuch. Oder fragt Ihr ihn doch mal und sagt es mir dann weiter.

6. Juni – Sängerwettstreit

Sabine schnürt die festen Schuhe und schleicht sich am frühen Morgen aus dem Haus. Mann und Kinder schlafen. Endlich aufatmen, ein bisschen gestohlene Zeit nur für sie allein.

Hinter dem Haus überquert sie eine frisch gemähte Wiese und läuft über die Feldwege Richtung Wald. Obwohl es so früh ist, wärmt die Sonne sie. Und Sabine ist froh, dass sie Sonnencreme auf Gesicht und Arme aufgetragen hat. Im Schatten des Waldes ist es noch kühl. Und die Vögel singen lauthals um die Wette.

In weiter Entfernung hört Sabine ein „Schuhuhuuuhuuu“, zwei Mal. Aber dann wird es vom Pfeifen und Tirilieren und Jubeln aus allen Richtungen übertönt. Was gäbe Sabine darum, wenn sie die Vögel verstünde.

Vielleicht rufen sie sich zu: „Schaut mal eine Menschenfrau! Was will die so früh hier? Warum stört sie uns? Wer traut sich, ihr auf den Kopf zu scheißen?“

Aber vermutlich, überlegt Sabine, kümmern die Vögel sich kein bisschen um mich.
Sie pfeifen und singen, weil das Leben in ihnen einen Druckausgleich sucht wie bei einem Dampfdrucktopf, weil das Leben immer einen Ausdruck sucht.

Und voller Inbrunst stimmt Sabine ein.