5. Juni – Martas Entschluss

Marta guckte gelangweilt. Was der Lehrer da an die Tafel krakelte, stimmte doch hinten und vorn nicht. Überhaupt waren ihre ganzen Schulbücher hoffnungslos veraltet. Und alles wurde ohne Rücksicht bis zum Erbrechen wiedergekäut, obwohl es schon seit Jahren oder gar Jahrzehnten widerlegt war. Ihr erschien es sogar lehrreicher vor dem Fenster den Kastanien beim Wachsen zuzusehen oder die Kästchen im Heft mit lauter kleinen Figuren zu versehen.

Ihr Lehrer übersah höflich und in stiller Übereinkunft, dass sie, anstatt mitzuschreiben, nur Zeichnungen anfertigte. Sie hatte in jeder Klassenarbeit die besten Noten. Sie strengte sich nicht an. Das entsprach schlicht ihrem Naturell. Sie dürstete nach Wissen, sie sammelte Fakten, wo immer sie welche aufpickte. Es erfüllte sie mit Freude, Informationen in sich aufzusaugen und miteinander in Verbindung zu setzen bis Kaleidoskope von Erkenntnis erblühten und stets weitere, höhere, tiefere Fragen aufwarfen.

Von klein auf verfügte sie über eine große Bibliothek. Ihre Eltern hatten sie immer in all ihren Interessen unterstützt und so überflügelte sie ihre Altersgenossen mit Leichtigkeit, übersprang erst eine dann zwei Klassen. Aber was hatte es genutzt? Sie langweilte sich weiterhin im Unterricht und wurde von ihren älteren Mitschülern gehasst.

Marta war daran gewöhnt, anders zu sein. Mit der Einsamkeit kam sie klar. Sie störte nur, dass sie trotz all ihrer Intelligenz, bisher keinen Weg gefunden hatte, der Welt ihre eigenen Erkenntnisse mitzuteilen. Marta wurde zwar wie ein Wundertier vorgeführt, angeblich sogar gefördert. Aber sie merkte, dass sie in einer derartig verschiedenen Welt lebte, dass sie sich kaum mit anderen Menschen zu verständigen in der Lage war. Das frustrierte sie.

Marta hörte auf zu zeichnen. Ein Blitz fuhr wie gleißendes Leuchten durch ihr Zentrum und sie fällte eine Entscheidung. Ohne ein Wort packte sie ihre Tasche, stand auf und schritt zur Tür.

„Wo willst Du hin?“, fragte der Lehrer.

Marta blieb, die Hand auf der Klinke, stehen. Tausend Antwortmöglichkeiten schossen ihr durch den Kopf. Alle waren anmaßend und überheblich.

„Ich möchte mir endlich einen Lehrer suchen, der mir noch etwas beibringen kann.“

Betretenes Schweigen. Das Gesicht des Lehrers entgleiste. Die Schüler in der Klasse duckten sich in ihren Bänken und hielten gespannt den Atem an. Der Lehrer schien sich zu fassen.

„Ja, das ist sicher besser für dich“, sagte er mit fester Stimme und nickte Marta zum Abschied zu.

Leise drückte sie die Tür hinter sich ins Schloss und wusste zum allerersten Mal im Leben nichts mehr.

1. Juni – Maries Liste

Marie setzte sich eines Abends an ihren Küchentisch, klappte die leicht abwaschbare Tischdecke um und öffnete die Schublade. Ja, da zwischen alten Einmachgummis und dem Sammelwerk „Fixe Rezepte für die berufstätige Hausfrau“, lag es, das abgegriffene Schulheft von Uwe. Marie kramte es hervor, wühlte weiter nach einem Kugelschreiber.
Keiner da. Sie stemmte sich hoch und schlurfte in den Flur, auf der Telefonbank am Zettelkasten klemmte einer. Zurückgekehrt an den Küchentisch nahm Marie umständlich Platz und schlug das Heft auf.

Auf den ersten paar Seiten standen alte Diktate von Uwe aus der vierten Klasse. Was der immer gekleckst hatte! Sie schüttelte den Kopf. Zu ihrer Zeit hatte es für Kleckse in den Schulaufgaben auf die Pfoten gegeben. Sie blätterte weiter, es folgten einige Aufstellungen von Haushaltsausgaben, die sie eine Weile lang geführt hatte. Endlich eine leere Seite.

Marie strich sie mit der Hand glatt und schrieb in ihrer schönsten Schreibschrift in die Mitte der ersten Zeile „Maries Liste“, darunter teilte sie das Blatt durch eine vertikale Linie in zwei Spalten mit links „Pro Heinz“ und rechts „Contra Heinz“.

Sie starrte eine Weile auf die Blümchentapete vor sich. Und notierte unter „Pro“ „handwerklich begabt“, ihr Stift schwebte über dem Papier, sie stierte an die Wand, nein, es kam nichts mehr, so wandte sie sich der anderen Spalte zu und füllte sie mit „zuviel in Kneipe“, „Weibergeschichten“, „verschwenderisch“, „interessiert sich nicht für meine Bedürfnisse“, „interessiert sich nicht für unsere Kinder“, „hilft nie im Haushalt“, „lässt sich bedienen“, „ist launisch“.

Sie schlug um und teilte das Blatt erneut. „Contra“, sie drückte fest mit dem Stift auf, ohne lange nachzudenken, füllte sie die Rückseite und setzte ihre Liste auf der gegenüberliegenden Seite fort. Sie blätterte zurück „Pro“. Sie nagte an ihrer Unterlippe, sie kaute am Kugelschreiber, dass ihr aber so gar nichts einfiel. Es war doch unmöglich, dass ihr nur ein positiver Wesenszug in den Sinn kam. Endlich schrieb sie „sieht gut aus für sein Alter“ und darunter „Sex meistens ok“.

Dann zuckte Marie mit den Schultern und zählte alle Notizen in der Spalte „Contra“.
Es waren dreiundzwanzig. Dreiundzwanzig Punkte, die gegen Heinz sprachen, nur drei für ihn. Die brauchte sie nicht zu zählen.

Das war katastrophal, ein tausend Mal schrecklicher, als sie erwartet hatte. Sie klappte das Heft zu, legte den Kugelschreiber in gerader Linie daneben.
Dann lief sie ins Schlafzimmer, um Heinz’ Koffer zu packen.