1. Juni – Maries Liste

Marie setzte sich eines Abends an ihren Küchentisch, klappte die leicht abwaschbare Tischdecke um und öffnete die Schublade. Ja, da zwischen alten Einmachgummis und dem Sammelwerk „Fixe Rezepte für die berufstätige Hausfrau“, lag es, das abgegriffene Schulheft von Uwe. Marie kramte es hervor, wühlte weiter nach einem Kugelschreiber.
Keiner da. Sie stemmte sich hoch und schlurfte in den Flur, auf der Telefonbank am Zettelkasten klemmte einer. Zurückgekehrt an den Küchentisch nahm Marie umständlich Platz und schlug das Heft auf.

Auf den ersten paar Seiten standen alte Diktate von Uwe aus der vierten Klasse. Was der immer gekleckst hatte! Sie schüttelte den Kopf. Zu ihrer Zeit hatte es für Kleckse in den Schulaufgaben auf die Pfoten gegeben. Sie blätterte weiter, es folgten einige Aufstellungen von Haushaltsausgaben, die sie eine Weile lang geführt hatte. Endlich eine leere Seite.

Marie strich sie mit der Hand glatt und schrieb in ihrer schönsten Schreibschrift in die Mitte der ersten Zeile „Maries Liste“, darunter teilte sie das Blatt durch eine vertikale Linie in zwei Spalten mit links „Pro Heinz“ und rechts „Contra Heinz“.

Sie starrte eine Weile auf die Blümchentapete vor sich. Und notierte unter „Pro“ „handwerklich begabt“, ihr Stift schwebte über dem Papier, sie stierte an die Wand, nein, es kam nichts mehr, so wandte sie sich der anderen Spalte zu und füllte sie mit „zuviel in Kneipe“, „Weibergeschichten“, „verschwenderisch“, „interessiert sich nicht für meine Bedürfnisse“, „interessiert sich nicht für unsere Kinder“, „hilft nie im Haushalt“, „lässt sich bedienen“, „ist launisch“.

Sie schlug um und teilte das Blatt erneut. „Contra“, sie drückte fest mit dem Stift auf, ohne lange nachzudenken, füllte sie die Rückseite und setzte ihre Liste auf der gegenüberliegenden Seite fort. Sie blätterte zurück „Pro“. Sie nagte an ihrer Unterlippe, sie kaute am Kugelschreiber, dass ihr aber so gar nichts einfiel. Es war doch unmöglich, dass ihr nur ein positiver Wesenszug in den Sinn kam. Endlich schrieb sie „sieht gut aus für sein Alter“ und darunter „Sex meistens ok“.

Dann zuckte Marie mit den Schultern und zählte alle Notizen in der Spalte „Contra“.
Es waren dreiundzwanzig. Dreiundzwanzig Punkte, die gegen Heinz sprachen, nur drei für ihn. Die brauchte sie nicht zu zählen.

Das war katastrophal, ein tausend Mal schrecklicher, als sie erwartet hatte. Sie klappte das Heft zu, legte den Kugelschreiber in gerader Linie daneben.
Dann lief sie ins Schlafzimmer, um Heinz’ Koffer zu packen.