1. März – Oma

Meine Großmutter sah überhaupt nicht aus wie eine Oma aus der Fernsehwerbung. Meistens trug sie einen flotten Kurzhaarschnitt, auch als ihre Haare nicht nur grau, sondern schon schlohweiß waren. Meine Großmutter besaß auch nie einen Ohrensessel oder eine Stehlampe.

Aber das hatte wahrscheinlich damit zu tun, dass sie aus einer Familie stammte, die wir heute bildungsferner Haushalt nennen würden. Noch viel schlimmer. Sie war eines von sieben Kindern und wurde nach dem frühen Tod ihrer eigenen Mutter zu kinderlosen Bauern gegeben. Die ließen sie nicht zur Schule gehen, sondern arbeiten.

Das war Anfang des 20. Jahrhunderts in vielen Regionen Deutschlands anscheinend normal. Die Leute waren arm, Kinder waren zum Arbeiten da, zu schwerer körperlicher Arbeit. Fähigkeiten wie Rechnen, Lesen und Schreiben waren da gar nicht so wichtig.

Also arbeitete meine Großmutter schon als Siebenjährige auf dem Hof, lernte Schweine schlachten, kümmerte sich um den Haushalt, half auf dem Feld. Ein bisschen Lesen und Schreiben lernte sie in der Sonntagsschule. Trotzdem gab ihr später, als sie dreizehn oder vierzehn Jahre alt war eine Schneiderin eine Lehrstelle.

So schneiderte sie später uns Enkeln immer irgendwelche Kleider oder änderte Hosen und Röcke mit ihrer alten Pfaff-Nähmaschine. Ihre zweite Leidenschaft war der Garten, dort konnte sie alles zum Wachsen und Blühen und Früchtetragen bringen.

Sie wusste ungemein viel über Pflanzen und Bodenbeschaffenheit, über Schädlinge und deren Bekämpfung, über Kräuter und Gemüse. Und sie konnte für eine ganze Kompanie kochen. Das musste sie auch häufig zu ihren legendären Geburtstagsfeiern im Juli, zu denen alle aus der Familie kamen und noch ihre Freundinnen aus der Nachbarschaft. Meine Großmutter konnte uns alle versammeln.

Seit sie nicht mehr bei uns ist und niemand ihr Erbe angetreten hat, ist unsere große Familie in alle Winde verstreut. Keiner weiß mehr etwas von dem anderen.