15. Oktober – Gib nicht auf, kleiner Tiger

„Gib nicht auf, kleiner Tiger, gib nicht auf“. Wie ein Mantra wiederholte Judith diesen Satz, während sie den kranken Kater streichelte.

Wenn sie ihm nur ihre Kraft übertragen könnte, damit ihm das Atmen leichter fiele und sein Fieber sänke. Die Tierärztin hatte Judith keine Hoffnung gemacht. Sie wollte das Tier am liebsten Einschläfern. Judith hatte gezögert. Einerseits wollte sie ihren Kater nicht sinnlos leiden lassen, aber andererseits konnte sie ihn auch nicht einfach so gehen lassen.

Da hatte ihr der Kater plötzlich mit einem Auge zugeblinzelt. Und da sagte Judith: „Nein!“ Und so lag sie jetzt neben dem Kater auf dem Teppich. Ganz nah an der Heizung, halb darunter, schräg hinter das Sofa hatte sich der Kater gekauert und war bis auf seinen schweren, rasselnden Atem ganz still. Da überlegte Judith, dass sie vielleicht ihre Botschaft überdenken sollte. Nicht aufgeben war ja streng genommen keine wirkliche Option. Nicht aufgeben hieß nur weiterhin kämpfen, weiter zwischen Leben und Tod hängen.

„Werd gesund, kleiner Tiger, werd gesund. Spring wieder über die Felder. Jage den Mäusen hinterher. Sitze stundenlang geduldig vorm Mauseloch. Räkel dich faul in der Sonne. Fauch den Nachbarshund an. Klettere auf den Baum und jammere kläglich, weil du nicht mehr herunterkommst. Dabei habe ich dich heimlich beobachtet. Wenn keiner guckt, kommst du auch allein den Baum herunter. Werd gesund, kleiner Tiger, werd gesund.“

Lange Zeit lag Judith neben dem Kater auf dem Boden und erzählte ihm Geschichten vom schönen Katerleben. Plötzlich hörte das Rasseln auf. Dann holte der Kater dreimal keuchend Luft und nieste so heftig, dass grüngelber Nasenschleim nur so herausflog. Zum Glück an Judith vorbei. Dann schaute der Kater Judith an und begann zu schnurren. Eine halbe Stunde später stand er mit steifen Beinen auf, streckte sich und schlich klapperdürr und zottelig, leicht schwankend in die Küche, um etwas zu fressen. Endlich bereit gesund zu sein.

19. August – Kleiner Tiger

Kleiner Tiger, liegst vor mir auf dem Schreibtisch. Lauter Katzenhaare verbreiten sich über meinen Pullover. Aber du schnurrst so schön. Deine Flanken heben und senken sich bei deinen tiefen Atemzügen. Noch bist du nicht eingeschlafen.

Denn dann wird dein Atem ganz flach werden, ganz leise. Selbst wenn ich genau hinsehe, werde ich kaum ein Heben und Senken deines Brustkorbs feststellen. Er später dann entspannst du dich im Schlaf.

Du gibst die gekringelte Form auf und räkelst dich lasziv mit dem Bauch nach oben und gespreizten Beinen.

Von was du träumst? Ich weiß es nicht. Dann drehst du dich wieder, liegst auf dem Bauch, den Kopf aufs Polster geschmiegt.

Manchmal zucken deine Pfoten oder die Barthaare. Manchmal liegst du stundenlang fast regungslos. Ich weiß nur, dass ich es wunderschön finde einer Katze beim Schlafen zuzusehen.