25. Mai – Sabine erzählt vom neuen Eheglück

Klosteratelier Ruth Schilling präsentiert stolz den letzten Teil des Mini-Brief-Romans um Sabine, Stella und diverse Herren. In der letzten Nachricht: Sabine erzählt vom neuen Eheglück. Viel Vergnügen beim Lesen!

Liebe Stella!

Nun habe ich treulose Tomate wieder solange Nichts von mir hören lassen. Vielen Dank noch einmal für die herrliche Zeit bei dir in Italien. Wie du von unserem letzten Telefonat weißt, ist Dieter nun reumütig zu mir zurückgekehrt.

Und er will sogar etwas für seine Fitness tun. Er hat es mir versprochen. Am Anfang war das wirklich herrlich. Wir haben uns ausgesprochen. Und sogar der Sex war erstklassig, als wären wir frisch verliebt. Wir haben wieder viel zusammen unternommen.

Aber seit ein paar Wochen muss Dieter ziemlich viel arbeiten und so langsam schleicht sich der alte Trott wieder ein

Na ja, aber es war wahrscheinlich doch die richtige Entscheidung mit Dieter zusammen zu bleiben

Zwanzig Ehejahre wirft man nicht einfach auf den Müll.
Ich habe aber trotzdem beschlossen mal wieder etwas Neues auszuprobieren

Nicht was du denkst. Ich habe mich für Pilates angemeldet. Solltest du auch mal versuchen

Alles Liebe Sabine

_________der letzte Teil eines Mini-Brief/E-Mail-Romans_________

29. Dezember – Mutig wie ein Mäuschen

Mutig wie ein Mäuschen. Seine Nasenspitze zittert. Wenn Sebastian Schnurrhaare hätte, würden auch die jetzt zittern. Unheimlich ist das heute in dem alten Haus von Oma. Mama ist in der Küche mit ihren Geschwistern, den Onkeln und Tanten, den Nachbarn von links und von rechts. Sie nehmen Mama in den Arm und helfen Kaffee kochen und Brote schmieren.

Die Oma liegt im Wohnzimmer, in ihrem Lieblingssessel. Sie atmet nicht mehr. Mama hat eine Decke über sie gelegt. Aber Omas Gesicht ist nicht zugedeckt und die Arme liegen auch über der Decke. Sebastian hat beobachtet, wie ein Nachbar nach dem anderen, ein Verwandter nach dem anderen hineingegangen ist zu ihr. Sie angeschaut hat, noch einmal ihre Hand berührt hat.

Manche haben nur schnell einen Blick geworfen und sind dann wieder zu den anderen gegangen. Sich in die Herde drängend. Leben atmen. Den Anblick des Todes vergessen. Sebastian hat sich nur bis an die Tür getraut. Die ganze Zeit haben sich die Leute an ihm vorbeigedrängt, Abschied genommen.

Heute ist Sonntag. Alle haben Zeit zu kommen. Sebastian staunt, wie viele Leute die Oma kannten. Wie ein Lauffeuer hat es sich im ganzen Dorf herumgesprochen. Wahrscheinlich hat jeder den Hubschrauber gehört, der heute Vormittag bei Omas Haus gelandet ist. Aber es war schon zu spät, die Notärzte sind wieder davongeflogen. Das hat Tante Lisa wieder und wieder jedem erzählt, Mamas Schwester. Sie hat Mama panisch angerufen, als Sebastian noch im Bett lag heute früh.

„Die Mutter stirbt, komm her, sofort!“, hat sie durchs Telefon gebrüllt, sofort wieder aufgelegt. Da gab es kein Überlegen, kein irgendwas. Mama hat Sebastian nur einen Mantel übergezogen und die Stiefel an. Dann sind sie mit dem Auto rübergebraust zu Oma. Das hat höchstens fünf Minuten gedauert, aber es war schon zu spät. Die Notärzte haben sich gerade verabschiedet. Tante Lisa sprang rum wie ein aufgescheuchtes Huhn und Mama wurde ganz blass.
Sebastian war an der Wohnzimmertür stehen geblieben. Die Nachbarn von gegenüber kamen durch die Terrassentür. Irgendwer rief den Arzt an, Mama rief die anderen Geschwister an. Die würden frühestens in einer Stunde hier sein. Immer mehr füllte sich der Raum. Im Garten standen die Leute, in der Küche begannen die Nachbarsfrauen mit Kaffeekochen. Sebastian hatte das Gefühl, dass all das nur so an ihm vorbeizog.

Irgendwann kamen Onkel Georg und seine Freundin und Tante Sabine. Auch der Arzt kam, untersuchte die Oma und redete mit den Erwachsenen. Sebastian stand einfach da. Ließ es geschehen, dass ihm ab und zu jemand übers Haar strich. Die Oma lag da in ihrem Lieblingssessel und atmete nicht mehr. Im Wohnzimmer war jetzt niemand mehr.

Sebastians Nasenspitze zitterte. Wenn er Schnurrhaare hätte, würden auch die jetzt zittern. Langsam und vorsichtig schiebt sich Sebastian vor. Vielleicht, wenn er Omas Hand ganz fest in seine nimmt. Wenn er ihr das Haar aus dem Gesicht streicht. Wenn er ihr in den Bauch pikst. Vielleicht wacht sie dann wieder auf.

Aber dann steht Sebastian vor der Oma. Ihr Gesicht ist ganz grau. Ihre Hand ist unnatürlich kalt. Alles Lebendige an ihr ist verschwunden. Die Oma schläft nicht. Die Oma ist wirklich, wirklich tot. Sebastians Nasenspitze zittert. Tränen rollen ihm die Wange hinab. Er kauert sich zu Omas Füßen vor den Sessel und weint und weint.

Plötzlich kommt Mama und nimmt ihn in den Arm. Dann weinen sie beide, bis ihre Trauer zu einem kleinen Rinnsal zusammengeschmolzen ist.

6. Juli – Häuptling Leuchtender Schuh

Eines Tages kam Leuchtender Schuh, der Häuptling der Mohawks, von einer anstrengenden Sitzung im Aufsichtsrat des Casinos nach Hause. Da stellte er fest, dass seine Frau Ausgemergelte Feder, ihre Koffer gepackt und ihn verlassen hatte.

„Na sowas!“, wunderte sich Leuchtender Schuh und checkte seinen Blackberry, der wegen der Konferenz noch auf stumm geschaltet war. Dort fand er eine Nachricht vor und die lautete folgendermaßen:

Lieber Leuchtender Schuh!

Es tut mir sehr leid, aber ich habe einen anderen kennengelernt und ziehe zu ihm. Ich hoffe, du findest bald eine neue Frau und wirst glücklich.

Bye-bye Deine Ausgemergelte Feder.

Aber Leuchtender Schuh hatte gar keine Lust eine neue Frau zu suchen. Das war ihm viel zu anstrengend. Erst das Kennenlernen. Da musste er wieder seine beste Seite hervorkehren und die Dame tat das gleiche. Dann stellten beide fest, dass seine beste Seite und die beste Seite der Frau prima zusammenpassten.

Als Nächstes kam der Liebestaumel, keiner konnte mehr ohne den anderen leben, große Sehnsucht bei nur fünfminütiger Trennung. Anschließend zusammenziehen, womöglich heiraten – nach der Scheidung versteht sich – und schon kam der Alltag und die schlechten Seiten von beiden kehrten sich hervor.

Und dann war es doch ohnehin vorbei mit dem Glück. Warum also sich immer wieder aufs Neue anstrengen, nur um die schlechten Seiten einer Frau kennenzulernen? Und noch schlimmer die eigenen schlechten Seiten vorgehalten zu bekommen?

Nein, nein. Da ging Leuchtender Schuh lieber ein paar Mal öfter die Woche mit seinen Freunden Golf spielen.

25. Juni – Schweigen rettet Ehe

Heute habe ich in der Zeitung gelesen: Italienisches Ehepaar gesteht: Seit 48 Jahren kein Wort miteinander gesprochen!

Sofort fragte ich mich, wie soll das möglich sein? Aber dann wurde mir klar, Eheleute benötigen lediglich einen ganzen Stall voller Bambini. Und die beiden hatten verbriefte sieben Nachkommen und noch zahlreichere Enkelkinder. Denen wird erzählt, was der Partner hören soll. Ein direktes Gespräch ist überhaupt nicht notwendig.

Es wirkt beim ersten Lesen barbarisch, ist aber wahrscheinlich eine sehr wirksame Möglichkeit mit seinem ärgsten Feind in Harmonie zu leben. Natürlich bis zu dem Augenblick, wo einer der beiden Ehepartner durchdreht und den anderen mit der Axt erschlägt. Oder bis zu dem Moment, wo einer unbedingt reden muss. Es einfach nicht mehr aushält und die direkte Rede nach Jahrzehnten wieder an den Partner richtet.

„Alle haben uns für ein glückliches Paar gehalten!“, wurde die Ehefrau zitiert. Das sagte sie natürlich dem Reporter.

Und der Ehemann ergänzte: „Nicht miteinander zu reden, hat unsere Ehe gerettet.“

Oh je, was für eine Nachricht! Was sollen die Heerscharen von Eheberatern und Paartherapeuten nun tun. Nehmt Eure Diplome von der Wand! Reden ist out. Völlig überflüssig. Wer nicht redet, streitet nicht. Wer nicht miteinander spricht, rettet die abendländische Kultur, zumindest die Familienkultur.

Nur eine Frage wurde wirklich nicht geklärt, wie macht man die vielen Bambinis, wenn man nicht miteinander redet? Das ist doch wirklich fremdartig, oder?

So ein Blödsinn, werdet Ihr sagen, das ist doch erfunden!

Stimmt! Wahrscheinlich sogar von mir.

24. Juni – Brunos Hündin

Heute Abend machte ich einen schönen Spaziergang übers Feld und dann durch den Wald. Aber schon am Waldrand lief plötzlich eine schwarze Hündin mit weißen Pfoten, weißer Schwanzspitze und kecken, weißem Kragen auf mich zu. Ich schaute mich um, weit und breit kein Mensch zu sehen. Da ich nicht wollte, dass die Hündin mich mit staubigen Pfoten ansprang, rief ich: „Aus“. Und sie setzte sich brav vor mich und schaute mich erwartungsvoll an.

„Wer bist du denn?“, fragte ich und tätschelte der Hündin vorsichtig den Kopf. Das schien ihr nicht ganz so gut zu gefallen, denn sie schüttelte sich, sprang auf und ging vor mir den Weg entlang, dem ich auch gerade folgte.

Na ja, dachte ich mir, sie macht wohl auch gerade ihren Abendspaziergang. Jedenfalls kann die nicht mit mir nach Hause. Ich will mich jetzt nicht noch um einen Hund kümmern.
Also ging ich weiter und die Hündin trabte mir voran. Dann blieb sie stehen und schnüffelte. Ich gewann einen Vorsprung. Sie eilte mir wieder nach. Die Hündin wollte abbiegen. Ich ging geradeaus. Die Hündin machte einen Schlenker – geradeaus.

So ging das eine ganze Weile. Ein Auto fuhr vorbei. Ich ging nach rechts, die Hündin nach links. Ein Fahrradfahrer kam uns entgegen und fuhr zwischen uns hindurch. Dann bog ich rechts ab und die Hündin folgte mir. Hier war der Wald besonders dicht, nur noch spärlich drangen die Sonnenstrahlen durch das Blätterdach. Ich schob meine Sonnenbrille hoch und sagte:

„Machen das jetzt Hunde auch schon wie Katzen, sich einfach ihr Herrchen aussuchen?“ Die Hündin scharwenzelte von meinen Worten unberührt durch das Dickicht am Wegesrand und setzte sich alle paar Meter zum Markieren nieder.

„Was würdest du sagen, wenn ich das andauernd machen würde?“, fragte ich. Plötzlich sah ich einen orangenen Fleck auf uns zukommen. Nach einer Weile erkannte ich eine Frau mit einem kleinen zotteligen Irgendwas-Terrier. Beunruhigt schielte ich zu der Hündin hinüber, die den anderen Hund anscheinend noch nicht bemerkt hatte. Genüsslich beschnüffelte sie das Grün am Wegesrand und pinkelte auf einen heruntergefallenen Ast. Auch als die Spaziergängerin näher kam, blieb sie desinteressiert. Wahrscheinlich nahm sie den kleinen Köter nicht weiter Ernst. Von dieser Entwicklung beruhigt, sprach ich die Spaziergängerin an:

„Sagen Sie mal, kennen Sie diesen Hund? Der läuft mir dauernd nach.“

„Ach, ich dachte, das wäre ihr Hund.“

„Nein, nein!“ – und falls er ihren kleinen Hund anfällt, ist es nicht meine Schuld.

So ging ich weiter und die Hündin trottete neben mir her. Manchmal lief sie auch voraus. Auf jeden Fall fühlte auch ich, dass wir zusammengehörten. Dann bog ich auf einen kleinen Pfad ab. Der war durch eine große, hölzerne Umlaufsperre gesichert, damit Fahrradfahrer absteigen müssen. Aber auch die Hündin blieb ratlos stehen.

„Komm“, sagte ich, „hier entlang“, und wartete auf sie. Schließlich fand sie den Weg um die Holzbalken herum und wieder trotteten wir gemeinsam. Die Hündin lief meistens voraus und drehte sich nur um, wenn ich knackend auf einen Zweig trat.

Eigentlich wollte ich die große Runde machen, die mich noch ein Stück über Feldwege, dann am Rand einer Ortschaft entlang und über die Kreisstraße geführt hätte. Aber die Hündin hechelte schon genug von der Hitze. Also nahm ich einen kleinen Trampelpfad im Waldesinnern.

Dort war es schattig und kühl und es gab viel zu schnüffeln. Einträchtig gingen wir. Wenn der Weg besonders schlammig war und ich ein möglichst trockenes Durchkommen suchte, wartete die Hündin auf mich. Wenn sie irgendwo besonders intensiv die Nase in den Waldboden steckte und ein bisschen wühlte, wartete ich.

Schließlich kamen wir wieder an unserem Ausgangspunkt an. Dort joggte uns eine Frau mit einer großen, freilaufenden Dogge entgegen. Als sie uns sah, legte sie ihrem Hund die Leine an.

„Entschuldigung“, sagte ich, „kennen Sie diesen Hund?“

„Ach“, rief die Frau, „ich dachte, das wäre ihrer! – Ach ne, das ist ja Brunos Hündin!“

Eilig leinte sie ihren Hund wieder ab.

„Dann mach ich meinen aber los, denn meine Zitta kann sie nicht leiden.“

Und tatsächlich, als die Frau mit dem Hund vorbei war, rannte die Hündin plötzlich hinter den beiden her und bellte und knurrte. Das war ja die Gelegenheit, mich schnell und heimlich aus dem Staub zu machen. Also ging ich schnell Richtung Heimat. Aber vergebens, ich hörte eilige Trippelschritte hinter mir. Ich blieb stehen.

„Aus!“ Die Hündin setzte sich hin und schaute mich erwartungsvoll an. Ich tätschelte ihren Kopf.

„Das war ein schöner Spaziergang, aber jetzt musst du nach Hause.“

Dann ging ich weiter, die Hündin hinterher. Ich hob die Hand in Gegenrichtung und sagte in scharfem Ton:

„Los, geh heim, los!“

Da ließ die Hündin die Ohren hängen, wandte sich um und trottete nach Hause. Ich schaute mich noch oft nach ihr um. Aber sie schaute nicht zurück. Kein einziges Mal.

23. Juni – Der goldene Vogel

Wenn ich nicht so müde wäre, dann würde ich Euch erzählen, wie mir heute ein goldener Vogel begegnet ist, der sehr interessante Ansichten zur Kükenaufzucht vertrat.

Ich konnte ihn leider nur schwer verstehen, weil er zwischen den Worten ständig pfiff und trillerte. Bevor ich mir vor lauter Schmerzen die Ohren zuhalten musste, bekam ich aber noch Folgendes mit:

„Es gibt“, sagte der Vogel, „mehrere Methoden seine Kinder aufzuziehen. Wenn sie noch im Ei sind, brauchen sie Wärme und Liebe, damit sie wachsen und gedeihen. Irgendwann wird es ihnen dann zu eng in der Eierschale, weil sie einfach zu stark gewachsen sind. Dann strengen sich die kleinen Vögelchen fürchterlich an, picken mit ihrem Eizahn die Schale auf und kommen heraus.

Freilich, nicht jedes Küken mag aus seiner Schale herauskommen, manche entscheiden sich aufzugeben. Es ist nämlich fürchterlich anstrengend so eine Eierschale von innen aufzupicken und sich herauszustemmen. Ich weiß ja nicht, ob du das schon einmal versucht hast?“

Der Vogel legte den Kopf schief und schaute mich fragend an. Ich guckte verdutzt, zuckte mit den Schultern und wiegte den Kopf hin und her. Sehe ich aus wie aus einem Ei geschlüpft? Wie kommt er darauf?

„Ich kann es mir vorstellen“, antwortete ich schließlich.

„Dann verstehst du, dass viele kleine Vögel da schon aufgeben. Manche wachsen auch einfach nicht in ihrem Ei, weil sie nicht genug Wärme und Liebe bekommen haben, andere glauben nicht daran, dass es ihnen außerhalb des Eis gefallen wird und dann gibt es natürlich die Vogelkinder, die es gar nicht erwarten können endlich aus dem engen Ei herauszukommen. Die reißen dann auch als erste den Schnabel ganz weit auf um von ihren Vogeleltern gefüttert zu werden.“

Ich nickte, um anzudeuten, dass ich noch folgen konnte. Also fuhr der goldene Vogel fort:

„Und dann kommt irgendwann der Tag, wo die Eltern ihre Küken aus dem Nest werfen, damit sie fliegen lernen. Nun ja, die meisten jungen Vögel wollen von selbst fliegen lernen, aber manchmal gibt es hartnäckige Nesthocker und die müssen dann einfach raus aus dem Nest. Schließlich haben wir alten Vögel auch noch etwas anderes zu tun außer unsere Brut aufzuziehen.“

„Ah, ja!“, sagte ich und lächelte verständnisvoll.

„Wenn natürlich die alten Vögel gar keine Zeit für die Aufzucht haben, dann legen sie schon das Ei in das Nest eines anderen Vogelpaares. Das ist natürlich am wenigsten zeitraubend.“

Ich hüstelte verlegen.

Was, um Himmels willen, machen die alten Vögel denn so Wichtiges? Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, welche Lebensziele so ein Vogel verfolgen mag. Nur weil mir die Ohren so wehtaten, mochte ich nicht weiter nachfragen.

ußerdem war mir das auch ein bisschen peinlich, womöglich hätte ich den Vogel mit dieser Frage beleidigt. Mit etwas Glück erzählt mir der goldene Vogel das bei seinem nächsten Besuch. Oder fragt Ihr ihn doch mal und sagt es mir dann weiter.

22. Juni – Juckreiz

Das fing alles mit so einem unangenehmen Juckreiz an, hinter den Ohren, an den Fußsohlen. Christiane versuchte es zunächst mit allerlei Salben, aber nichts nützte. Ob das wieder die Schuppenflechte war?

Dabei hatte sie doch längst ihre Ernährung umgestellt, es gab nichts Scharfes, keine Zitrusfrüchte und überhaupt – so gesund wie sie konnte kaum einer leben. Christiane rauchte nicht, trank nicht, nahm keine Tabletten, noch nicht einmal gegen Kopfschmerzen, sie aß nur Fleisch von glücklichen Tieren und davon wenig, sie griff nur zu Bio-Gemüse und Bio-Obst. Und diese Umstellung hatte ihr in den letzten zehn Jahren keinen einzigen Rückfall beschert. Warum also juckte es jetzt? Hatte sie vielleicht zu viel Stress?

Aber nein, ihr ging es gut, ihre Arbeit erfüllte sie – Christiane arbeitete als Floristin – und auch sonst war alles in Ordnung. Ihr Freund war wie immer. Mit der Familie alles in Ordnung. Sogar die Katze war gesund und munter. Vielleicht hatte sie zu wenig Stress. Fühlte sie sich vielleicht unterfordert, unausgelastet? Sie hatte schon einmal davon gelesen, dass es Leute gab, die einen Burn-out bekamen, weil sie zu wenig Arbeit hatten oder sie zu wenig geachtet und respektiert wurden. Aber auch das traf nicht auf Christiane zu. Merkwürdig.

Also ging Christiane zu ihrer Heilpraktikerin und die verschrieb ihr ein Mittel. Danach juckte es auch in den Kniekehlen und in den Ellenbeugen. Zuerst dachte Christiane, das sei die Anfangsverschlimmerung. Aber dann juckte es auch im Nacken, unter den Achseln und im Schritt. Das war doch nicht normal. Morgens beim Meditieren konnte sie sich oft sehr schwer auf ihren Atem konzentrieren. Das Jucken war einfach unerträglich und noch unerträglicher war es, dass sie einfach nicht wusste, warum ihr das widerfuhr.

Sie ging wieder zu ihrer Heilpraktikerin, die ließ sich alles genau erzählen, schaute sich die juckenden Stellen an, wiegte den Kopf etwas hin und her, schließlich verschrieb sie Christiane ein anderes Mittel. Danach juckte es auch am Rücken, das ganze Rückgrat entlang. Christiane glaubte an keine Anfangsverschlimmerung mehr.

Am Abend, als sie langsam zur Ruhe kam und zu Bett gehen wollte, spürte sie den Juckreiz so stark, dass sie das erste Mal in ihrem Leben zwei große Gläser Rotwein trank, um sich zu betäuben. Schwer wie ein Spelzensack fiel sie ins Bett und schlief sofort ein. Sie merkte nicht, wie sie sich im Schlaf kratzte und wand und scheuerte.

Am nächsten Morgen schlug Christiane die Augen auf und sah goldenes Sonnenlicht durch ihr Fenster fallen. Die Amseln sangen im Duett und ein kleiner Zaunkönig rief sein lautstarkes Tschilp dazwischen. Christiane räkelte und streckte sich wohlig. Dann erst merkte sie: Das Jucken war fort. Einfach verschwunden. Mit Schwung sprang sie aus dem Bett und verfing sich mit den Füßen fast in einem knisternden, nicht ganz durchsichtigen Gewebe.

Vorsichtig hob sie es auf. Es sah beinahe aus wie ein Maleranzug aus Papier, an den Gelenken, am Hals, im Schritt und am Rückgrat aufgescheuert, aufgeplatzt. Es fühlte sich merkwürdig an, pergamentartig. Sie hielt den Anzug mit spitzen Fingern eine Armlänge von sich weg. Und plötzlich wurde ihr klar, was sie da in der Hand hielt. Christiane hatte sich gehäutet. Sie war tatsächlich aus der Haut gefahren.

Christiane schaute in den Spiegel. Ihr kam es so vor, als sei sie ein paar Zentimeter gewachsen. Die Hosen ihres Pyjamas endeten plötzlich deutlich über ihren Fußknöcheln. Auch die Ärmel des Oberteils waren zu kurz. Dann schaute Christiane genauer hin. Die Haut an ihrem Körper sah rosig und frisch aus. Keinerlei Kratzspuren oder trockene Stellen mehr. Sie lächelte sich zu. Dann nahm sie ihre alte Haut, faltete sie ordentlich zusammen und legte sie in ihren Schrank. Vielleicht wäre es einiges Tages nützlich zu wissen, wie oft sie sich gehäutet hatte.

11. Juni – Tierische Gartenparty

Du denkst vielleicht, dass es nachts in Deinem Garten völlig ruhig und gesittet zugeht. Die Vöglein haben sich alle schlafen gelegt, die Würmer räkeln sich endlich unbekümmert in der Erde und sogar die Bienen, Hummeln und sonstigen Flieg- und Krabbeltiere haben sich zur Nachtruhe begeben. Aber in Wahrheit ist es aus einem ganz anderen Grunde so ruhig.

Der kleine Maulwurf hat wie jede Nacht außer montags in seinen Nightclub geladen. Die Grillen spielen auf zum Tanz, die Glühwürmchen leuchten, was die Hinterleiber hergeben und alle Tiere, die tagsüber brav ihren Aufgaben nachgehen, scheren sich einen Dreck um all das, was gemeinhin von ihnen erwartet wird. Die Vögel und die Würmer stehen einträchtig an der Bar und schlürfen einen leicht vergorenen Nektar, die Motten summen zur Musik und die Igel legen mit den Mardern eine kesse Sohle aufs Parkett.

Nur die Schnecken treffen meist zu spät ein, weil sie solange überlegen, ob sie heute als Männchen oder Weibchen kommen. Manchmal dürfen sogar ein paar Hauskatzen mitfeiern. Die sind ja bekannt für ihre Diskretion und Verschwiegenheit. Und wenn er besonders gut gelaunt ist, dann spielt der Maulwurf ein Lied auf seiner Stehgeige und singt dazu.

Meistens ist die Party dann so gegen Mitternacht schon vorbei, manchmal auch erst um drei Uhr morgens. Dann schlafen die Tiere wirklich. Der nächste Tag verlangt ja wieder allerhand tierisches Gehabe von ihnen. In Brehms Tierleben steht darüber natürlich nichts. Für uns Menschen muss schließlich alles seine Ordnung haben. Und daran wird auch nicht gerüttelt.

7. Juni – Urlaubsgeld

Bettina sitzt am Küchentisch und zählt das Kleingeld aus der Mariacron 3 Liter Magnumflasche. Dort wirft sie seit ein paar Jahren alle kleinen Münzen hinein, die sie übrig hat. Manchmal verirrt sich sogar ein Euro dazu. Und wenn die Flasche voll ist, hat sie sich vorgenommen, wird sie von dem Geld in Urlaub fahren.

Heute ist es soweit, die Münzen drohten schon oben heraus zu purzeln, sie hat die Flasche umgekippt und macht jetzt lauter Häufchen mit Eincentstücken, Zweicentstücken, Fünf-, Zehn- , Zwanzig-, Fünfzigcentmünzen, ein bescheidener Stapel Eineuromünzen prangt in der Mitte.

Es dauert elend lange, bis sie alle Münzen fein säuberlich sortiert hat, ein paar alte Centimes und Pfennige wirft sie wieder zurück in die Flasche. Die Zungenspitze zwischen den Zähnen stapelt sie jeweils 10 gleiche Münzen aufeinander. Sobald sie damit fertig ist, steht der Tisch voller Geldstapel. Sie zählt das Geld.

Es sind 9, 86 Euro in Eincentmünzen, 17,02 Euro in Zweicentstücken, 10,55 Euro in Füncentmünzen, die Zehn-, Zwanzig- und Fünfzigcent ergeben zusammen 23,70 Euro und dann hat sie 19 Eineuromünzen.

Na, das wird aber ein kurzer Urlaub!

1. Juni – Maries Liste

Marie setzte sich eines Abends an ihren Küchentisch, klappte die leicht abwaschbare Tischdecke um und öffnete die Schublade. Ja, da zwischen alten Einmachgummis und dem Sammelwerk „Fixe Rezepte für die berufstätige Hausfrau“, lag es, das abgegriffene Schulheft von Uwe. Marie kramte es hervor, wühlte weiter nach einem Kugelschreiber.
Keiner da. Sie stemmte sich hoch und schlurfte in den Flur, auf der Telefonbank am Zettelkasten klemmte einer. Zurückgekehrt an den Küchentisch nahm Marie umständlich Platz und schlug das Heft auf.

Auf den ersten paar Seiten standen alte Diktate von Uwe aus der vierten Klasse. Was der immer gekleckst hatte! Sie schüttelte den Kopf. Zu ihrer Zeit hatte es für Kleckse in den Schulaufgaben auf die Pfoten gegeben. Sie blätterte weiter, es folgten einige Aufstellungen von Haushaltsausgaben, die sie eine Weile lang geführt hatte. Endlich eine leere Seite.

Marie strich sie mit der Hand glatt und schrieb in ihrer schönsten Schreibschrift in die Mitte der ersten Zeile „Maries Liste“, darunter teilte sie das Blatt durch eine vertikale Linie in zwei Spalten mit links „Pro Heinz“ und rechts „Contra Heinz“.

Sie starrte eine Weile auf die Blümchentapete vor sich. Und notierte unter „Pro“ „handwerklich begabt“, ihr Stift schwebte über dem Papier, sie stierte an die Wand, nein, es kam nichts mehr, so wandte sie sich der anderen Spalte zu und füllte sie mit „zuviel in Kneipe“, „Weibergeschichten“, „verschwenderisch“, „interessiert sich nicht für meine Bedürfnisse“, „interessiert sich nicht für unsere Kinder“, „hilft nie im Haushalt“, „lässt sich bedienen“, „ist launisch“.

Sie schlug um und teilte das Blatt erneut. „Contra“, sie drückte fest mit dem Stift auf, ohne lange nachzudenken, füllte sie die Rückseite und setzte ihre Liste auf der gegenüberliegenden Seite fort. Sie blätterte zurück „Pro“. Sie nagte an ihrer Unterlippe, sie kaute am Kugelschreiber, dass ihr aber so gar nichts einfiel. Es war doch unmöglich, dass ihr nur ein positiver Wesenszug in den Sinn kam. Endlich schrieb sie „sieht gut aus für sein Alter“ und darunter „Sex meistens ok“.

Dann zuckte Marie mit den Schultern und zählte alle Notizen in der Spalte „Contra“.
Es waren dreiundzwanzig. Dreiundzwanzig Punkte, die gegen Heinz sprachen, nur drei für ihn. Die brauchte sie nicht zu zählen.

Das war katastrophal, ein tausend Mal schrecklicher, als sie erwartet hatte. Sie klappte das Heft zu, legte den Kugelschreiber in gerader Linie daneben.
Dann lief sie ins Schlafzimmer, um Heinz’ Koffer zu packen.