12. Januar – Im Reinhardswald

Beruflich bin ich viel im Auto unterwegs und manchmal zwischendurch brauche ich einfach ein bisschen Bewegung. Dann halte ich irgendwo an, wo es schön und friedlich aussieht, und drehe eine Runde durch einen Park oder über das Feld. Vor einiger Zeit führte mich mein Weg durch den Reinhardswald, einen großen Staatsforst in Nordhessen, in dem viele Eichen stehen aber auch einiges Nadelgehölz. Angelockt von einem wunderbar lichten Nadelwald und der Nachmittagssonne, hielt ich kurzentschlossen auf einem Waldparkplatz an und machte mich auf einen kleinen Spaziergang.

Es gab fast kein Unterholz in diesem Kiefernwald, also ließ ich mich nach einer Weile verleiten den breiten Weg zu verlassen und einfach in den Wald hinein zu gehen. Es war etwas schattig da unter den immergrünen Kiefern. Ihre Stämme waren glatt und hoch, die Kronen konnte ich nur sehen, wenn ich meinen Kopf in den Nacken legte. Je tiefer ich in den Wald kam, umso lauter knarzten und knackten die Bäume, manche Stämme bogen sich leicht im Wind. Ich legte meine Hand an die Rinde eines besonders mächtigen Stammes und fühlte ihn zittern und beben.

Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich gar nicht auf meine Füße geachtet hatte. Ich drehte mich um und sah, dass hinter mir nur Nadelwald lag, licht und schön, aber dennoch kein Weg weit und breit, weder hinter mir, noch rechts, noch links, noch geradeaus. Mir fröstelte plötzlich, die Bäume knackten jetzt ein bisschen lauter.

„Nur nicht die Nerven verlieren“, sagte ich mir selbst. „Du bist in diesen Wald hineingekommen, Du wirst auch wieder hinausfinden.“

Auf keinen Fall aber wollte ich den Weg zurückgehen, den ich gekommen war. Erstens war ich mir nicht sicher, der Wald sah überall gleich aus. Zweitens hasse ich es, den gleichen Weg zwei Mal zu laufen. Ich war von jeher eine Freundin von Rundwegen. Also ging ich rund.

„Aber ohje“, fragte ich mich bei jedem zweiten Schritt, „würde ich jemals ankommen? Kann ich in einem deutschen Forst einfach verloren gehen, verhungern und verdursten?“

Ich wurde etwas langsamer.

„Ach, nein“, machte ich mir Mut, „Du wirst den richtigen Weg schon finden. Hab einfach Vertrauen, in Dich selbst und Dein Schicksal. Das sieht bestimmt nicht vor, dass Du im Reinhardswald verreckst.“

So schritt ich wieder forscher aus.

„Hatte ich nicht letztens in der Zeitung gelesen, dass ein Forstarbeiter im Wald erstochen aufgefunden wurde. Was, wenn sich hier ein Irrer rumtreibt?“

Wieder zögerte ich und blickte ängstlich um mich, lauschte, ob sich jemand Unbekanntes näherte.

„Reg‘ Dich ab, das war doch eine Beziehungstat, die haben den Täter doch längst“, sprach ich mir wieder Mut zu.

„Aber Wildschweine, die sind doch gewiss gefährlich!“ „Nein, nein, die lieben den Eichenwald und halten sich dort auf.“

Merkwürdigerweise trat ich genau in dem Moment, als ich endgültig aufgeben wollte, mit einem letzten Schritt aus dem Wald und stand direkt vor meinem Auto auf dem Waldparkplatz.

2. August – Mittag

Es ist Mittag. Hitze staut sich über den Feldern. Die Sonne brennt herunter. Kein Wölkchen ist am Himmel. Kaum ein Insekt wagt es jetzt zur heißesten Zeit des Tages herumzufliegen. Sogar die sonst so fleißigen Hummeln wirken träge. Die Schnecken haben sich irgendwo im Dickicht am Wegesrand, im dunklen Schatten verkrochen.

Und ich bedauere schon, dass ich dort nicht ebenfalls hineinpasse, unter ein paar Blätter am Feldrain. Wie konnte ich nur auf die Idee verfallen, um diese Zeit einen Spaziergang zu machen. So viel Dummheit gehört bestraft, und zwar sofort. Also glühe ich und schwitze zur Strafe.

Dann beginne ich zu kichern. Ich wollte so gerne mal in die Sahara. Die Wüste sehen und erleben, wie das dort ist. Aber ich überlebe ja kaum einen heißen Sommertag in der Mitte Deutschlands. Da fühle ich mich schon wie im Backofen. Wie soll das erst in der Sahara sein? Gibt es die Sahara auch vollklimatisiert, mit Schatten und Vollpension? Ich bekomme doch so leicht Sonnenbrand.

Ich schleppe mich weiter und höre ein Knistern von links, als knüllte jemand rhythmisch 100.000 Butterbrottüten zusammen und zusammen und wieder zusammen ohne Unterlass.

Dann begreife ich, dass das der Weizen ist, der singt. Er ist reif und der heiße Wind lässt ihn knistern, wenn er über ihn hinwegstreicht. Jetzt freue ich mich doch, dass ich mich um diese Zeit aus dem Haus gewagt habe. Wer weiß, ob ich sonst jemals den Weizen hätte singen hören: „Ich bin reif, ernte mich, hörst du, ich will vom Halm, ernte mich, ernte mich.“

24. Juni – Brunos Hündin

Heute Abend machte ich einen schönen Spaziergang übers Feld und dann durch den Wald. Aber schon am Waldrand lief plötzlich eine schwarze Hündin mit weißen Pfoten, weißer Schwanzspitze und kecken, weißem Kragen auf mich zu. Ich schaute mich um, weit und breit kein Mensch zu sehen. Da ich nicht wollte, dass die Hündin mich mit staubigen Pfoten ansprang, rief ich: „Aus“. Und sie setzte sich brav vor mich und schaute mich erwartungsvoll an.

„Wer bist du denn?“, fragte ich und tätschelte der Hündin vorsichtig den Kopf. Das schien ihr nicht ganz so gut zu gefallen, denn sie schüttelte sich, sprang auf und ging vor mir den Weg entlang, dem ich auch gerade folgte.

Na ja, dachte ich mir, sie macht wohl auch gerade ihren Abendspaziergang. Jedenfalls kann die nicht mit mir nach Hause. Ich will mich jetzt nicht noch um einen Hund kümmern.
Also ging ich weiter und die Hündin trabte mir voran. Dann blieb sie stehen und schnüffelte. Ich gewann einen Vorsprung. Sie eilte mir wieder nach. Die Hündin wollte abbiegen. Ich ging geradeaus. Die Hündin machte einen Schlenker – geradeaus.

So ging das eine ganze Weile. Ein Auto fuhr vorbei. Ich ging nach rechts, die Hündin nach links. Ein Fahrradfahrer kam uns entgegen und fuhr zwischen uns hindurch. Dann bog ich rechts ab und die Hündin folgte mir. Hier war der Wald besonders dicht, nur noch spärlich drangen die Sonnenstrahlen durch das Blätterdach. Ich schob meine Sonnenbrille hoch und sagte:

„Machen das jetzt Hunde auch schon wie Katzen, sich einfach ihr Herrchen aussuchen?“ Die Hündin scharwenzelte von meinen Worten unberührt durch das Dickicht am Wegesrand und setzte sich alle paar Meter zum Markieren nieder.

„Was würdest du sagen, wenn ich das andauernd machen würde?“, fragte ich. Plötzlich sah ich einen orangenen Fleck auf uns zukommen. Nach einer Weile erkannte ich eine Frau mit einem kleinen zotteligen Irgendwas-Terrier. Beunruhigt schielte ich zu der Hündin hinüber, die den anderen Hund anscheinend noch nicht bemerkt hatte. Genüsslich beschnüffelte sie das Grün am Wegesrand und pinkelte auf einen heruntergefallenen Ast. Auch als die Spaziergängerin näher kam, blieb sie desinteressiert. Wahrscheinlich nahm sie den kleinen Köter nicht weiter Ernst. Von dieser Entwicklung beruhigt, sprach ich die Spaziergängerin an:

„Sagen Sie mal, kennen Sie diesen Hund? Der läuft mir dauernd nach.“

„Ach, ich dachte, das wäre ihr Hund.“

„Nein, nein!“ – und falls er ihren kleinen Hund anfällt, ist es nicht meine Schuld.

So ging ich weiter und die Hündin trottete neben mir her. Manchmal lief sie auch voraus. Auf jeden Fall fühlte auch ich, dass wir zusammengehörten. Dann bog ich auf einen kleinen Pfad ab. Der war durch eine große, hölzerne Umlaufsperre gesichert, damit Fahrradfahrer absteigen müssen. Aber auch die Hündin blieb ratlos stehen.

„Komm“, sagte ich, „hier entlang“, und wartete auf sie. Schließlich fand sie den Weg um die Holzbalken herum und wieder trotteten wir gemeinsam. Die Hündin lief meistens voraus und drehte sich nur um, wenn ich knackend auf einen Zweig trat.

Eigentlich wollte ich die große Runde machen, die mich noch ein Stück über Feldwege, dann am Rand einer Ortschaft entlang und über die Kreisstraße geführt hätte. Aber die Hündin hechelte schon genug von der Hitze. Also nahm ich einen kleinen Trampelpfad im Waldesinnern.

Dort war es schattig und kühl und es gab viel zu schnüffeln. Einträchtig gingen wir. Wenn der Weg besonders schlammig war und ich ein möglichst trockenes Durchkommen suchte, wartete die Hündin auf mich. Wenn sie irgendwo besonders intensiv die Nase in den Waldboden steckte und ein bisschen wühlte, wartete ich.

Schließlich kamen wir wieder an unserem Ausgangspunkt an. Dort joggte uns eine Frau mit einer großen, freilaufenden Dogge entgegen. Als sie uns sah, legte sie ihrem Hund die Leine an.

„Entschuldigung“, sagte ich, „kennen Sie diesen Hund?“

„Ach“, rief die Frau, „ich dachte, das wäre ihrer! – Ach ne, das ist ja Brunos Hündin!“

Eilig leinte sie ihren Hund wieder ab.

„Dann mach ich meinen aber los, denn meine Zitta kann sie nicht leiden.“

Und tatsächlich, als die Frau mit dem Hund vorbei war, rannte die Hündin plötzlich hinter den beiden her und bellte und knurrte. Das war ja die Gelegenheit, mich schnell und heimlich aus dem Staub zu machen. Also ging ich schnell Richtung Heimat. Aber vergebens, ich hörte eilige Trippelschritte hinter mir. Ich blieb stehen.

„Aus!“ Die Hündin setzte sich hin und schaute mich erwartungsvoll an. Ich tätschelte ihren Kopf.

„Das war ein schöner Spaziergang, aber jetzt musst du nach Hause.“

Dann ging ich weiter, die Hündin hinterher. Ich hob die Hand in Gegenrichtung und sagte in scharfem Ton:

„Los, geh heim, los!“

Da ließ die Hündin die Ohren hängen, wandte sich um und trottete nach Hause. Ich schaute mich noch oft nach ihr um. Aber sie schaute nicht zurück. Kein einziges Mal.

16. Juni – Begegnung

Rita schlenderte die Goethestraße entlang. Endlich frei! Was sollte sie mit diesem wunderschönen Sommertag anfangen? Vielleicht im Park einen ausgedehnten Spaziergang und danach ein Eis bei „da Carlo“, den gehetzten Menschen zuschauen, den quengeligen Kindern, den gestressten Müttern. Und sie hatte heute alle Zeit der Welt.
„Hey, Rita, wie geht’s denn so? Lange nicht gesehen!“

Rita drehte sich um. Die Stimme kam ihr doch bekannt vor. Schon sah sie Georg über die Straße zwischen zwei Autos hindurch auf sie zulaufen. Oh, nein ausgerechnet Georg. Rita zwang sich zu einem Lächeln.

„Hi!“

„Gut siehst du aus!“ Georg grinste sie breit an.

Rita konnte dieses Kompliment nun wirklich nicht erwidern. Georg hatte sich völlig verändert. Sein Gesicht aufgedunsen und auch sonst wirkte er moppeliger als früher. Dabei war er auch in der Oberstufe schon keine Schönheit gewesen. Sie erinnerte sich noch gut an seine stillen aber ausdauernden Annäherungsversuche.

Er kapierte einfach nicht, dass sie ihn zum Kotzen fand. Einfach unausstehlich. Widerlich. Und jetzt schaute er schon wieder so.

„Mensch, dass wir uns mal wiedersehen! Bist du immer noch mit diesem Dings, dem Anwalt zusammen?“

Rita runzelte die Stirn.

„Bastian meinst du? Nein, nein.“

Um Gottes willen! Georg erinnerte sich noch an den! Das war doch mindestens 15 Jahre her. Wie kam er darauf, dass sie immer noch mit diesem Totalversager zusammen war?

„Und, was treibst du so?“

„Och“, sagte sie.

Was konnte sie erzählen? Bloß nichts sagen, aus dem Georg Rückschlüsse auf ihren Arbeitsplatz oder Wohnort ziehen konnte. Der fing wieder an mit albernen Geschenken und schmalzigen Briefen!

„Ich bin jetzt beim Fernsehen“, platzte Georg heraus, „kleiner Privatsender, aber voll seriös. Nicht so Spiele, richtig Moderation!“

„Schön, gratuliere.“

Rita rang sich ein Lächeln ab. Das passte zu Georg, vor 15 Jahren hatte er rumgesponnen mal den Gottschalk abzulösen. Große Samstagabendshow. Klar! Was war falsch mit ihr, dass solche Totalversager auf sie abfuhren? Sie schaute auf ihre Armbanduhr.

„Du, war nett. Hab’s leider eilig!“ Seitdem ich dich Hirni getroffen habe, ergänzte sie bei sich und lächelte wieder gequält.

„Oh, ja klar“, sagte Georg, „toll, dass wir uns mal getroffen haben!“

„Ja, wirklich toll.“ Warum merkte er nicht, dass sie diese Begegnung alles andere als toll fand? Sie wandte sich halb zum Gehen.

„Will dich nicht aufhalten.“ Und warum laberte er dann weiter?

„Mach’s gut. Viel Erfolg noch mit deiner Sendung“. Mühsam hielt sie die Maske der Höflichkeit aufrecht. Drei Meter hatte sie schon zwischen sich und ihn gebracht.

„Ja, Tschüß dann, hab’ auch noch n Termin!“, rief er.

Wer’s glaubt, wird selig!

Rita schlenkerte unbestimmt mit der rechten Hand in der Luft, lächelte ein letztes Mal wie aufgezogen und ging mit eiligen Schritten davon.

Als sie sich noch einmal umdrehte, sah sie, wie Georg ihr nachblickte, die Hand immer noch zum Abschiedsgruß erhoben.