30. Mai – Claire

Claire streckte sich und angelte die große Pappkiste vom Schrank. Mit der flachen Hand wischte sie den Staub von der Oberseite und rieb dann die Hand an ihrer Hose ab. Ein paar Staubflocken flogen durch die Luft und kitzelten Claire in der Nase.

Mit klopfendem Herzen setzte sie sich im Schneidersitz auf den Boden, die Kiste stellte sie vor sich. Einen Moment verharrte Claire, plötzlich sank ihr doch der Mut, schließlich hob sie den Deckel mit zitternden Fingern ab. Ein wildes Sammelsurium von alten, vergilbten Fotos, von abgegriffenen Briefen mit Stockflecken schaute ihr entgegen.

Wieder zögerte Claire und begann dann, die Bilder durchzusehen. Auf einigen erkannte sie ihre Mutter, als Kind, als junge Frau, wahrscheinlich mit deren Familie, Geschwistern und Eltern, Menschen, die Claire nicht kannte. Und dann, das musste er sein. Ihr Vater, in Uniform, in der deutschen Uniform eines Feindes, damals zumindest.

Niemals hatte Claire ihn kennengelernt. Bis heute hatte sie nicht einmal von ihm gewusst. Und er hatte niemals erfahren, dass es Claire gab. Claires Mutter hatte erst jetzt gesprochen, als sie schon zum Sterben im Krankenhaus lag. Und Claire hatte geweint.

Dann hatte sie den Schlüssel genommen von Mutters Haus, das jetzt verwaist und dunkel dalag. Claire war in den Keller gestiegen und hatte die alte Kiste vom Schrank geholt, von der Mutter gesprochen hatte und nun sah sie ihren Vater dort stehen in seiner Uniform. Jung und unbeschwert lachte er in die Kamera.

Damals war doch Krieg, wie konnte er so lachen?

Aber er war ja jung gewesen, jung und verliebt.

Claire erkannte sich selbst wieder in dem Gesicht, das sie dort sah. Irgendwann, als sie selbst jung gewesen war, hatte sie ihm noch ähnlicher gesehen.

Claire nahm das Foto in beide Hände, als könnte sie so die ganze Energie dieses jungen Mannes auf dem Foto in sich aufnehmen. Als könnte sie all die verlorenen Jahre nachholen.

Dann drückte sie das Foto an ihr Herz und fühlte sich in all der Verwirrung und Trauer das erste Mal in ihrem 62-jährigen Leben ganz.

6. September – Untergang

Untergang. Wie es geschah, dass weiß keiner, aber dass es geschah, daran erinnern sich noch viele. Ein kleines Boot, ein Segelboot, geliehen von unerfahrenen Seglern, unsinkbar diese Dinger, das Boot wurde auch wiedergefunden nur etwas zerzaust aber ohne Besatzung.

Und das war es dann. Suchaktion ohne große Hoffnung. Schließlich wurden irgendwann die Leichen gefunden, aufgebläht und seltsam wächsern, stinkend natürlich. Nichts für einen offenen Sarg. Traurige Reden auf den Beerdigungen, so unerwartet, so jung, so vielversprechend, so talentiert. Niemals, niemals werden wir euch vergessen.

So schworen wir damals. Und doch, irgendwann vergessen auch wir, vielleicht erst wenn wir tot sind. Was interessiert unsere Kinder, unsere Enkel das Leben und der unerwartete Tod von irgendwem, den sie nie kannten. An die ich mich kaum noch erinnern kann. Nur aus Hartnäckigkeit und treu meinem Schwur halte ich fest und fest. Wie lange noch?

14. Juli – Blind Date

„Warst du jemals in einer Leichenhalle?“, fragt mich Michael, mein Blind Date, und rührt in seinem Cappuccino. Sein Augenaufschlag bei dieser Frage haut mich um. Solche tiefen, braunen Augen haben mich noch nie angeblickt. Darin könnte ich baden, aufgehen, sie ausschlürfen wie den Kakao, der vor mir in einer großen, weißen Tasse dampft.

„Äh, wie bitte?“, frage ich verwirrt nach einer peinlich langen Pause und rühre meinerseits in meinem Heißgetränk.

„Ob du schonmal in einer Leichenhalle warst?“, sagt er.

„Hm, nö“, lüge ich.

Was ist das denn für eine Frage beim ersten Date? Aber diese Augen, schon wieder kann ich mich kaum losreißen. Zum Glück schaut Michael jetzt in eine andere Richtung und ich kann meinen Blick diskret nach unten wandern lassen. Ich gebe zu, mir gefällt, was ich da sehe. Gepflegt der Mann und gut gekleidet, auch gut gebaut, soweit ich das erkennen kann. Und seine Stimme, sehr angenehm, wenn sie mich nicht nach Leichenhallen fragen würde. Was für eine Idee, mich so etwas zu fragen. Ich rühre wieder, um mich zu sammeln. Der Kakao muss langsam kalt sein.

Dann erzählt er, dass er vor kurzem das erste Mal in einer Leichenhalle gewesen sei. Eigentlich nur in einem Besucherraum. Denn die ganze Halle, wo die Leute womöglich aufgeschnitten würden, wo es vielleicht bis an die Decke weiß gekachelt sei wie beim Metzger, wie im Schlachthaus, da wäre er selbstverständlich auch nicht gewesen. Außerdem wolle er sich das gar nicht vorstellen. Nein, lieber nicht.

Nun, schön, denke ich, aber jetzt stelle ich mir das vor. Meine Hand legt automatisch den Löffel auf der Untertasse ab und schiebt den Kakao weit fort von mir. Ein letztes Mal versuche ich, mich in seine tiefbraunen Augen zu versenken. Aber sie haben ihre Magie verloren. Ich sehe nur noch weiß gekachelt vor mir, bis unter die Decke.

Er mache da nämlich so einen Kurs, fährt Michael fort, bei der Volkshochschule, um sich mit dem Thema Tod anzufreunden. Das beträfe ja schließlich jeden, irgendwann, und würde in unserer Gesellschaft doch ausgeblendet, totgeschwiegen sozusagen.

Ha, denke ich, wie passend. Und dann denke ich an die Prosektur und den süßlichen Geruch des Todes, der mir immer noch manchmal in die Nase steigt. Vor allem wenn ich zu schnell auf der Autobahn unterwegs bin. Und dann denke ich an kalte Haut, so kalt wie keines Menschen Haut sich jemals anfühlen sollte. Und ich denke daran, wie unterdrückte Emotionen sich in einem kleinen Raum anstauen können, bis die Kehle zugeschnürt ist.

Und ich denke daran, wie ich plötzlich erst im Tod sehen konnte, dass mein Mann viel größer war, als er mir lebend immer erschien. Lange konnte ich über nichts anderes reden. Über den Verlust. Über ihn. Über alles, was ich vermisse und noch erleben wollte. Meine Freundinnen haben mich bekniet, mich wieder ins Leben zu stürzen. Meine Schwester schließlich hatte mich überredet, mich mit Michael zu treffen, einem ihrer Arbeitskollegen.

Er sei so sensibel und gutaussehend. Und ich war doch nach der langen Zeit mehr als bereit dazu wenigstens für diesen Nachmittag alles zu vergessen. Vielleicht hätte sie ihm sagen sollen, dass ich vor 26 Monaten und vier Tagen meinen Mann verloren habe. Oder sie hat es ihm gesagt, fällt mir ein. Vielleicht ist Michael gründlich und hat sich deshalb bei der Volkshochschule eingeschrieben. Mir ist der Appetit trotzdem vergangen. Nicht nur nach dem Kakao.