Claire streckte sich und angelte die große Pappkiste vom Schrank. Mit der flachen Hand wischte sie den Staub von der Oberseite und rieb dann die Hand an ihrer Hose ab. Ein paar Staubflocken flogen durch die Luft und kitzelten Claire in der Nase.
Mit klopfendem Herzen setzte sie sich im Schneidersitz auf den Boden, die Kiste stellte sie vor sich. Einen Moment verharrte Claire, plötzlich sank ihr doch der Mut, schließlich hob sie den Deckel mit zitternden Fingern ab. Ein wildes Sammelsurium von alten, vergilbten Fotos, von abgegriffenen Briefen mit Stockflecken schaute ihr entgegen.
Wieder zögerte Claire und begann dann, die Bilder durchzusehen. Auf einigen erkannte sie ihre Mutter, als Kind, als junge Frau, wahrscheinlich mit deren Familie, Geschwistern und Eltern, Menschen, die Claire nicht kannte. Und dann, das musste er sein. Ihr Vater, in Uniform, in der deutschen Uniform eines Feindes, damals zumindest.
Niemals hatte Claire ihn kennengelernt. Bis heute hatte sie nicht einmal von ihm gewusst. Und er hatte niemals erfahren, dass es Claire gab. Claires Mutter hatte erst jetzt gesprochen, als sie schon zum Sterben im Krankenhaus lag. Und Claire hatte geweint.
Dann hatte sie den Schlüssel genommen von Mutters Haus, das jetzt verwaist und dunkel dalag. Claire war in den Keller gestiegen und hatte die alte Kiste vom Schrank geholt, von der Mutter gesprochen hatte und nun sah sie ihren Vater dort stehen in seiner Uniform. Jung und unbeschwert lachte er in die Kamera.
Damals war doch Krieg, wie konnte er so lachen?
Aber er war ja jung gewesen, jung und verliebt.
Claire erkannte sich selbst wieder in dem Gesicht, das sie dort sah. Irgendwann, als sie selbst jung gewesen war, hatte sie ihm noch ähnlicher gesehen.
Claire nahm das Foto in beide Hände, als könnte sie so die ganze Energie dieses jungen Mannes auf dem Foto in sich aufnehmen. Als könnte sie all die verlorenen Jahre nachholen.
Dann drückte sie das Foto an ihr Herz und fühlte sich in all der Verwirrung und Trauer das erste Mal in ihrem 62-jährigen Leben ganz.