29. Mai – Wäldchestag

An Pfingsten war Mia drei Jahre alt und durfte das allererste Mal mit ihren Eltern und Geschwistern auf den Wäldchestag. So hieß der Rummel im Niederräder Wäldchen, der jedes Jahr an Pfingsten stattfand. Da ihre Geschwister so aufgeregt waren und immer wieder von diesem Wäldchestag redeten, steckten sie schließlich auch Mia damit an und sie konnte kaum erwarten, dass es endlich losging.

Am Samstag war Familientag und so zogen Mama, Papa, Esther, Robert und Mia bei herrlichstem Sonnenschein los zum Wäldchen. Für die langen Beine von Mama und Papa war der Weg nicht sehr weit, auch für Esther und Robert war die Strecke von ihrer Wohnung zum Wäldchen gemütlich zu überwinden, aber Mia mit ihren kurzen Beinchen hatte schon beim Erreichen des Wasserhäuschens auf halber Strecke keine Lust mehr und wollte lieber ein Eis haben.

Nun wurde diskutiert, ob sie doch die Straßenbahn nehmen sollten. Aber als Papa sagte, das geht alles vom Fahrgeld auf dem Rummel ab, waren Esther und Robert absolut dagegen. Also musste Mia weiterzockeln. Sie ließ sich Zeit. Dieser blöde Rummel, sie wusste ja sowieso nicht, was das überhaupt war. Vielleicht am Ende genau so langweilig wie dieses Museum, wo Mama sie manchmal mit hinnahm. Da hingen nur Bilder an der Wand und Mia musste still sein, durfte nicht rennen und schon gar nichts anfassen

Da am Straßenrand wuchsen Gänseblümchen, lauter Ameisen kamen aus einem kleinen Loch und liefen im Rinnstein entlang. Das war doch viel interessanter als so ein blöder Rummel.

„Mia, jetzt komm doch“, rief Mama. Aber Mia tat so, als hörte sie nichts. Dann kam Papa und nahm sie auf die Schultern. Das fand Mia dann doch lustig. Seine Glatze war ganz rot und fühlte sich feucht an. Von hier oben war die Aussicht auch viel besser. Nun ging es schneller voran. Schon konnte Mia das Wäldchen in der Ferne sehen und die ganzen Leute von oben betrachten, die dort hinströmten. Mia hörte auch ein Wummern und Johlen und eine verzerrte Stimme krächzte: „Bittä zuruckbleibän!“In den Bäumen hing ein großes, buntes Banner und alle Menschen strömten durch den Eingang darunter.

„Oh“, staunte Mia, als sie von Papas Schultern über alle Köpfe hinweg auf den großen Platz mitten im Wald blickte. Auf der einen Seite drehten sich kreischende Leute in bunten Pilzen und sich überschlagenden Rädern, auf der anderen Seite gab es gebrannte Mandeln, Schaumwaffeln und sonst allerlei Süßzeug. Aber das tollste erhob sich genau vor Mia: Ein riesengroßes Rad mit Gondeln, das sich weit über die Bäume erhob und mit dem man bis in den Himmel fahren konnte.

Die Leute strömten und schoben durch die Gänge zwischen den Buden. Weiße und rosa Zuckerwatte flog an Mia vorbei, ein junges Pärchen schleckte gemeinsam an einem mit knallrotem Zuckerguss überzogenen Liebesapfel. Plötzlich zuckte Mia zusammen, Geister und Hexen schauten von einer schäbigen Hütte auf sie herab.

Robert und Esther riefen: „Da, die Geisterbahn, Geisterbahn, wir wollen zur Geisterbahn!“

Da sagte Mama: „Ich bleibe bei den beiden Großen. Du kannst ja mit Mia zum Kettenkarussell“.

Sie gab Papa einen flüchtigen Kuss und ging rüber zum Kassenhäuschen, um drei Karten für die Geisterbahn zu erstehen. Dann ging es weiter auf Papas Schultern.

„Du hast doch bestimmt Durst“, rief er Mia zu und steuerte einen Bierpilz an.
Mit Schwung setzte er Mia auf den Tresen, knapp neben eine Wasserlache. Mia bekam eine Limonade mit Strohhalm und Papa ein Bier mit ganz viel Schaum. Er nahm einen langen Schluck von seinem Bier und seufzte dabei. Mia baumelte mit den Beinen, saugte an ihrem Strohhalm und guckte den Leuten zu, wie sie in einem großen Schiff hin und her geschaukelt wurden, immer höher und noch höher.

Als Mia nur noch Blasen in ihre Limonade pustete, hob Papa sie vom Tisch und sagte: „Du kannst jetzt mal laufen“.

Aber das gefiel Mia gar nicht. Sie sah nur noch Beine und Schuhe vor sich. Wenn Papa sie nicht an der Hand hielte, würde sie bestimmt zertreten werden.

„Guck, da ist das Kettenkarussell“. Papa war stehen geblieben und nahm Mia wieder auf den Arm.

„Willst Du mal fahren?“

„Au ja!“, jauchzte Mia und strampelte, weil sie ganz schnell zum Karussell laufen wollte.

„Warte, warte, wir müssen Dir erst ein Billet kaufen“, sagte Papa und nahm sie mit zum Kassenhäuschen.

„Drei für Zwei“, sagte er zu der Dame, die hinter einer Glasscheibe mit einem kleinen runden Loch saß. Mia drehte sich auf Papas Arm soweit herum, wie sie nur konnte, damit sie das Karussell sehen konnte, das gerade wieder anfing sich zu drehen.

„Och, menno!“, rief sie.

„Hör doch mal auf zu zappeln“, sagte Papa und steckte das Wechselgeld umständlich ein, ohne Mia loszulassen.

„Dann fährst Du halt das nächste Mal mit.“

Mia maulte ein bisschen und schaute zu, wie toll die Kinder immer im Kreis wirbelten.
Endlich saß Mia auch im Karussell und lachte und jauchzte, als sie den Wind spürte und ihr ganz schwindelig wurde. Immer wenn sie an Papa vorbeikam, winkte sie ganz doll und lachte noch mehr. Der musste aber Durst haben, er hatte schon wieder einen Becher mit ganz viel Schaum in der Hand.

Als die letzte Fahrt vorüber war, weinte Mia ein bisschen. Aber dann wurde es wieder besser. Papa nahm sie mit zur „Reitschul“. Ein Karussell mit lauter bunten Holzpferden, die sich im Kreis drehten und dabei Auf und Ab galoppierten.

„Oh“, Mia machte kugelrunde Augen, als sie das sah. Und auch hier erlaubte ihr Papa drei Runden zu drehen. Dann trafen sie sich mit Mama, Esther und Robert am Autoskooter. Mia durfte bei Papa mitfahren. Er ließ sie sogar lenken. Das war klasse, vor allem als sie voll Karacho Robert in die Seite fuhr und der erschrocken aufschrie.

Dann gab es Würstchen mit Senf und Limonade für alle. Das war toll! Und zum Schluss fuhren sie gemeinsam im Riesenrad. Da staunte Mia noch mehr. Ganz weit konnte sie über die Stadt sehen.

„Guck mal, guck mal!“, krähte sie und hopste auf und ab. Mia wollte am liebsten immer hier oben bleiben und weinte bittere Tränen, als sie wieder auf Papas Schultern nach Hause getragen wurde.

„Wir kommen Morgen nochmal her“, sagte Papa, damit sie still war.

Aber am nächsten Tag musste Papa arbeiten gehen, sein Chef hatte angerufen. Also wurde es nichts mit dem Wäldchen und Mia heulte ihrer Mutter den ganzen Tag die Ohren voll.
Doch die sagte: „Papa hat Dir das versprochen, nicht ich.“

Am Pfingstmontag musste Papa schon wieder zur Arbeit und Mama schickte Mia mit ihren Geschwistern auf den Spielplatz, um Ruhe zu haben.

Am Dienstag hatte Papa endlich frei. Als er beim Frühstück saß, rief Mia: „Komm Papa, Wäldchen!

Aber Papa sagte: „Mia, der Wäldchestag ist vorbei.“

„Du hast es versprochen!

„Papa war arbeiten, einer muss ja die Brötchen verdienen. Heute ist kein Wäldchestag mehr, Pfingsten ist vorbei. Es ist alles weg.“

„Aber Du hast es versprochen!“

Mia quengelte und quengelte.

Schließlich sagte Mama: „Geh doch mit ihr hin, dann sieht sie selbst, dass kein Rummel mehr ist. Und ein Spaziergang tut Euch beiden gut!“

Also zog Mia mit Papa los zum Wäldchen. Heute waren fast keine Menschen zu Fuß unterwegs, dafür fuhren viel mehr Autos als am Samstag. Mia wurde der Weg heute gar nicht lang, tapfer hielt sie Schritt mit Papa. Schließlich kamen sie am Wäldchen an und gingen hinein, aber dort war es ganz leer.

Keine Bude, keine Fahrgeschäfte, kein Riesenrad. Mia schaute sich entsetzt um.

„Siehst Du“, sagte Papa, „niemand mehr da, der Rummel ist vorbei. Die kommen erst nächstes Pfingsten wieder!“

Mia strahlte erleichtert und guckte zu Papa hoch: „Dann warten wir halt solange!“

3. April – Vater und Tochter

Du lebst doch hier im Schlaraffenland!“, brüllt der Vater seine Tochter Johanna an. „Wo das ganze Geld herkommt, interessiert dich doch gar nicht. Ich schufte mich krumm und buckelig und das ist dann der Dank!“

„Papa, sorry, aber ich hab’ dich nicht gebeten, dich für mich krumm und buckelig zu schaffen“.

„Was soll denn das jetzt – aber dein Taschengeld – dein fürstliches Taschengeld – das nimmst du gerne!“

„Ich wäre ja blöd, wenn nicht! Ich meine doch nur, dass es nicht immer nur aufs Geld ankommt.“

„Ach ja, auf was denn sonst?“

„Auf Liebe, auf Glück, auf Zusammenhalt, sowas eben.“

Der Vater schnaubt durch die Nase.

„So ein Mist“, murmelt er und schüttelt den Kopf. „Wer hat dir denn den romantischen Scheiß eingeredet. Wer glaubt denn an sowas? Da draußen herrscht Krieg!“

Nun schüttelt Johanna den Kopf. „Ach Papa!“

Wie soll sie ihm nur erklären, dass die Welt nur so ist, weil er sie so macht. Wie soll sie ihm nur erklären, dass Glaube Berge versetzt.

Das bedeutet leider auch, dass wirklich Krieg dort draußen herrscht, wenn er daran glaubt. Für ihn ist das so.

Wie soll sie ihn davon überzeugen, dass die Welt viel mehr ist als ein Ort der Pflichten und Kämpfe, des Verzichts und des Undanks.

„Vielleicht“, sagt sie, „wärst du einfach nur glücklicher, wenn du dich nicht für mich krumm und buckelig arbeiten würdest. Sondern das tun würdest, was du tun willst. Das meinte ich. Klar, vielleicht wäre ich dann unglücklicher. Also danke ich dir dafür, dass du aus Sorge um mein Glück auf deines verzichtest. Aber dein ewiges Gemecker macht mich auch unglücklich.“

8. Juni – Loslassen

Weißt du noch, wie du als Kind Fahrradfahren gelernt hast? Erinnerst du dich noch daran, wie du auf dem Rad saßest, das erste Mal ohne Stützräder. Deine Mutter oder dein Vater lief neben dir her, hielt das Rad durch einen sicheren Griff unter den Sattel stabil, rief dir zu: „Treten, treten, nicht aufhören!“

Und immer, wenn deine Mutter oder dein Vater losgelassen hat, hast du aufgehört zu treten, das Gleichgewicht verloren und bist beinahe umgefallen.

Falls es dein Vater war, der dir Fahrradfahren beigebracht hat, dann war er vielleicht ein bisschen so wie meiner, nämlich ungeduldig.

Warum lernt das Kind so etwas Einfaches wie Fahrradfahren nicht. Dauernd fällt es wieder um, und ich sag doch noch: „Nicht umfallen, nicht aufhören zu treten!“

Aber obwohl er irgendwann wütend wurde und obwohl ich es wirklich schwierig fand dieses Radfahren, nahezu unmöglich, so wollte ich es doch unbedingt lernen.

Also sah ich über meine Angst, die Wut und Ungeduld meines Vaters hinweg und versuchte es weiter – und dann, plötzlich konnte ich es.

Tat es in Wahrheit schon eine ganze Weile, weil mein Vater einfach so außer Puste war, dass er nicht mehr nebenherlaufen und dabei noch unnütze Anweisungen rufen konnte.
Er hat also einfach losgelassen, ohne dass ich es mitbekommen habe. Und als ich es dann merkte, fuhr ich zwar einen kleinen Schlenker vor Schreck, aber ich konnte doch mein Gleichgewicht halten und trat einfach weiter in die Pedale. Ich fuhr ganz allein Fahrrad!

War das großartig!