21. Oktober – Der Geist des Kriegers

Der Geist des Kriegers wacht über mich. Gesichtslos starrt er mich an aus dem Dunkel seines korinthischen Helmes. Was er denkt? Das bleibt mir verborgen.
Vielleicht ist er längst des Kämpfens müde und mag Helm und Harnisch von sich werfen. Vielleicht steht ihm der Sinn nach Blumen pflücken, Frauen küssen oder Erde umgraben. Es könnte aber auch sein, dass er den Frieden verdammt und sich verzweifelt nach der nächsten blutigen Schlacht sehnt, damit er sein Handwerk ausführen kann, das des Kriegers.

Ein Krieger kann sich mächtig fühlen und sicher, nicht so wie ein Soldat. Ein Soldat ist der erste, der draufgeht. Aber der Krieger ist der stolze Held, der seine Geschicke selbst lenkt, der sich misst im Kampfe und selbstverständlich nur die gerechte Sache verteidigt. Das Handwerk des Kriegers besteht vor allem darin, nicht darüber hinaus zu denken. Besser gar nicht zu denken, weder mit noch selbst noch darüber hinaus. Nachbeten, das ist schon eher seine Aufgabe.

Wer entscheidet? Wer definiert die gerechte Sache, die Ehre, die Wahrheit? Am Anfang war das Wort. Der Krieger kräuselt die Stirn hinter dem kühlen Metall. Er mag nicht folgen. Er bleibt in der Sicherheit seines Handwerks, seiner erlernten Werte, seiner vorgefassten Meinungen. Auf ihn ist Verlass. Wie wankelmütig müssen die sein, die selbst denken, wie unabhängig, wie frei, wie gefährlich.

Der Krieger bewegt sich nicht, richtet nur den Blick jetzt lieber in die Ferne. Diese Frau dort am Schreibtisch bildet sich am Ende noch ein, die Feder sei mächtiger als das Schwert. Worte und Werte definieren, Name und Bedeutung geben sei wichtiger als Kampf und Sieg.

1. Juli – Heute nur die Wahrheit

„Wird aber Zeit, dass du kommst! Ich warte schon fast ne halbe Stunde!“, rufe ich schlechtgelaunt, als die Geschichte des Tages nach Atem ringend und schweißgebadet um die Ecke kommt.

„Ging nicht eher. Du glaubst nicht, was mir passiert ist!“, ruft sie.
Skeptisch ziehe ich die Augenbrauen hoch, dass meine Stirn Falten wirft. Was kommt jetzt wohl wieder für eine Ausrede. Ich kenne das ja schon.

„Die Muse kam zu spät und wollte mich nicht küssen“, oder: „Der Bus war schon weg“, oder, am tollsten: „Meine Oma war zu Besuch. Konnte die alte Dame ja schlecht rauswerfen“. Ich wette, dass diese Geschichten gar keine Großeltern haben! Fast immer aber höre ich den Klassiker: „Ich hab’ verschlafen“.

Das ist nämlich ein ganz schön faules Gesindel, diese Erzählungen und Kurzgeschichten. Gedichte sollen noch schlimmer sein. Die sitzen oft in der Ecke und weinen. Dann kommen die gar nicht, gleichgültig wie sehr so eine arme Autorin wie ich dann bittelt und bettelt.

„Nun?“, sage ich, weil die Geschichte immer noch pustend und nach Atem ringend vor mir steht.

„Ich bin ausgeraubt worden!“, stößt sie hervor.

„Ach was!“, sage ich und werde langsam sauer. „Mit anderen Worten, es ist nichts da. Nur leere Seiten. Überhaupt nichts dran an dir, liebe Geschichte. Kommst extra angerannt und dann, kein Held, kein Konflikt, keine Erlösung, noch nicht einmal ein Apfelbaum mit wurmstichigen Äpfeln. Nichts. Kommst einfach so blanko, eine halbe Stunde zu spät. Und alles, was ich zu hören bekomme, ist: ‚Ich bin ausgeraubt worden’?“

Die Geschichte läuft knallrot an. „Aber ehrlich, ganz wirklich“, stammelt sie, „Da kam plötzlich so ein maskierter Kerl, zwei Meter groß, schwarzhaarig und mit einer Pistole! Der rief: ‚Buchstaben her oder ich knall dich ab’. Was hättest du denn da gemacht?“

„Das soll ich dir glauben? Für eine Geschichte ist das aber eine ziemlich dünne Vorstellung. Etwas mehr Phantasie hätte ich schon von dir erwartet“.

Wir stehen einander gegenüber und schauen uns in die Augen. Die Geschichte senkt zuerst den Blick und sagt:„Nun ja, ist ja auch egal. Es sind jedenfalls keine Buchstaben da, also auch keine Geschichte für heute. Und ich muss jetzt auch ganz schnell weg, meine Oma wollte noch vorbeikommen!“

Schon dreht sich die Geschichte um und rennt davon. Nur ein paar übriggebliebene Satzzeichen fliegen noch durch die Luft und sinken langsam zu Boden.

Was bleibt mir also anderes, als Euch heute diese völlig wahre Begebenheit zu berichten?