27. Oktober – Das Meer rauscht

Das Meer rauscht und plätschert und perlt und sprüht und tanzt seinen ganz eigenen Tanz mit dem Wind und der Kraft der Gezeiten. Weit fort am Horizont ziehen große Tanker vorbei wie kleine rote Spielzeuge. Fast kann ich sie mit der Hand greifen. Möwen schreien. Salzige Luft legt sich auf meine Haut. Der beständige Grundton des Meeres trennt mich von allen anderen und zieht mich unausweichlich in den Bann der See.

Trotz der Kälte muss ich wenigstens meine Hand das Wasser berühren lassen. Und die See brandet auf, umspült meine Finger, benetzt meinen Handrücken. In ewigem Geben und Nehmen zieht sie hinab und speit wieder aus. Hineinstürzen mag ich mich und mich vereinen, versinken in der kühlen Tiefe. Die Geborgenheit lockt mich. Nur mein Verstand sagt mir, wie unpraktisch es sei, bei einer Lufttemperatur um 10 Grad Celsius sich ins Meer zu stürzen. Ohne Badekleidung, ohne Handtuch, so völlig besinnungslos.

Schade. Vielleicht lüftete ich sämtliche Geheimnisse der Welt, wenn ich nicht täte, was praktisch, oder nicht lasse, was unnötig erscheinen mag.

26. Oktober – Nach langer Fahrt

Nach langer Fahrt ankommen, fünf Tage liegen jetzt vor uns. Tage voller Möglichkeiten. Tage voller Geheimnisse. Tage voller Begegnungen.

Jede von uns ergreift auf ihre Weise Besitz von dem Raum, den wir in den nächsten Tagen teilen werden. Die Betten werden ausgelost. Die Kleidung und wichtigen Besitztümer wohl verstaut. Die Schreibkladden, die Stifte, die Zeitschriften, Scheren und Kleber, um Collagen herzustellen, bereitgelegt. Pläne werden geschmiedet. Und beschlossen, sich einfach nicht daran zu halten, wenn „gerade etwas Anderes dran ist“.

Seltsame Einigkeit und Achtsamkeit herrscht zwischen uns. Mit Respekt und Liebe begegnen wir einander. So entfalten sich zwischen uns Flügel, die uns zum Himmel tragen. Gespinste, die alte Trauer umweben und in Leichtigkeit wandeln. Fünf unendliche Tage liegen vor uns und alles ist möglich.

25. Oktober – Ausruhen

„Wie, ich höre immer ausruhen, Pause machen! Was sind denn das für Töne? Willst du denn gar nicht fertig werden?“

Kai schaut Ludmilla herausfordernd an. Er lächelt, aber seinen Augen sieht Ludmilla an, dass er es überhaupt nicht lustig findet. Aber Ludmilla brauch jetzt einfach mal eine Pause.

Seit Wochen arbeiten die beiden an der Ausstellung. Ständig dreht sich alles nur um die Skulpturen, wo was stehen soll, wie das Licht fällt, was auf den Karten steht. Ludmilla kann es nicht mehr hören und nicht mehr sehen. Vor allem wird es nicht besser nur immer chaotischer und schlechter.

In solchen Augenblicken, daran erinnert sich Ludmilla genau, hat ihre Großmutter immer gesagt: „Mädchen, da hilft nur Pause machen, du brauchst Abstand, lass dir den Kopf freiblasen!“ Und genau das wird Ludmilla jetzt tun. Soll doch Kai im Dreieck springen.

24. Oktober – Nacht

Nacht. Tiefe Schwärze breitet sich aus, dringt durch das Fenster ein, sickert durch der Tür durch. Nur mühsam erhellt die trübe Lampe meinen Schreibtisch, taucht meine schrumpfende Welt in gelblich fahles Licht. Es ist so still, dass jedes Geräusch einem Crescendo gleichkommt. So wage ich kaum, zu atmen, streichele nur sanft die Tasten. Sehne mich nach flüsterleisem Anschlag und ruhigem Fluss meiner Gedanken. Rüde unterbrochen werden sie vom Hämmern meiner Finger. Nacht und Kälte. Tropft herein. Wabert um mich. So fern der Tag mit strahlendem Sonnenschein und vollen Klängen.

23. Oktober – Karl zieht aus

Karl wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die letzte Kiste war endlich im Umzugswagen verstaut. Er musste ein wenig drücken, um die Türen des Transporters zu schließen.

Irmgard reichte ihm eine Flasche Wasser. Ein Bier wäre ihm lieber gewesen. Aber er musste ja noch fahren.

„Das war’s dann“.

Irmgard trat von einem Fuß auf den andern. Karl fragte sich, ob ihr nur die Situation unangenehm war oder sie ihn am liebsten schnell loswerden wollte. Warum überhaupt und schon wieder verabschieden. Schließlich hatte er nur noch seinen Krempel abgeholt. Ausgezogen war er vor mehr als sechs Wochen. Rausgeworfen worden traf es wohl eher. Aber er machte Irmgard keinen Vorwurf. Eigentlich hatten sie sowieso nie zusammen gepasst. Dafür waren 16 Jahre eine lange Zeit, die sie miteinander ausgehalten hatten.

„Ja“, er räusperte sich, „dann mach’s mal gut!“

„Du auch“, erwiderte Irmgard mit kratziger Stimme.

Jetzt glitzerten schon wieder Tränen in ihren Augen. Versteh einer die Frauen! Erst die Beziehung Knall auf Fall beenden und danach ewig rumheulen. Karl schraubte die Flasche zu und reichte sie ihr. Dabei ließ er seinen Blick über die Hofeinfahrt flirren. Alles, bloß jetzt nicht Irmgard anschauen. Er streckte ihr die Hand hin und wagte immer noch nicht, ihr ins Gesicht zu sehen.

Als er dann endlich im Auto saß und losfuhr, drehte er die Anlage bis hinten auf und weinte den ganzen weiten Weg bis zu seiner neuen Wohnung.

22. Oktober – Träume 1975

Träume 1975. Als ich ein kleines Mädchen war, träumte ich sehr häufig vom Atomkrieg. Es begann meist mit einer harmlosen Begebenheit, einem Ausflug, einem Picknick im Grünen.

Plötzlich kamen Militärfahrzeuge in die Idylle gebrettert. Hubschrauber durchwühlten die Luft, aus denen sich Froschmänner abseilten in den Waldsee, den Fluss oder was sonst an Gewässer gerade in meinem Traum vorhanden war.
Wir Zivilisten wurden von maskierten Soldaten angeschnauzt, herumgeschubst, zu sinnlosen Hilfsmaßnahmen gezwungen.

So rafften wir zusammen, was möglich war, stützten die Alten und halfen einer jungen Mutter, den Kinderwagen mit dem plärrenden Säugling über die steile Böschung zu tragen. Aber all unser Mühen war vergebens. Am Horizont wuchs der Atompilz in die Höhe und ich wachte auf.

Das also waren die Träume meiner Kindheit so um 1975.

21. Oktober – Der Geist des Kriegers

Der Geist des Kriegers wacht über mich. Gesichtslos starrt er mich an aus dem Dunkel seines korinthischen Helmes. Was er denkt? Das bleibt mir verborgen.
Vielleicht ist er längst des Kämpfens müde und mag Helm und Harnisch von sich werfen. Vielleicht steht ihm der Sinn nach Blumen pflücken, Frauen küssen oder Erde umgraben. Es könnte aber auch sein, dass er den Frieden verdammt und sich verzweifelt nach der nächsten blutigen Schlacht sehnt, damit er sein Handwerk ausführen kann, das des Kriegers.

Ein Krieger kann sich mächtig fühlen und sicher, nicht so wie ein Soldat. Ein Soldat ist der erste, der draufgeht. Aber der Krieger ist der stolze Held, der seine Geschicke selbst lenkt, der sich misst im Kampfe und selbstverständlich nur die gerechte Sache verteidigt. Das Handwerk des Kriegers besteht vor allem darin, nicht darüber hinaus zu denken. Besser gar nicht zu denken, weder mit noch selbst noch darüber hinaus. Nachbeten, das ist schon eher seine Aufgabe.

Wer entscheidet? Wer definiert die gerechte Sache, die Ehre, die Wahrheit? Am Anfang war das Wort. Der Krieger kräuselt die Stirn hinter dem kühlen Metall. Er mag nicht folgen. Er bleibt in der Sicherheit seines Handwerks, seiner erlernten Werte, seiner vorgefassten Meinungen. Auf ihn ist Verlass. Wie wankelmütig müssen die sein, die selbst denken, wie unabhängig, wie frei, wie gefährlich.

Der Krieger bewegt sich nicht, richtet nur den Blick jetzt lieber in die Ferne. Diese Frau dort am Schreibtisch bildet sich am Ende noch ein, die Feder sei mächtiger als das Schwert. Worte und Werte definieren, Name und Bedeutung geben sei wichtiger als Kampf und Sieg.

20. Oktober – Gipfeltreffen der Liebe

Die romantische Liebe sei heutzutage die Grundlage der Paarbeziehungen in der westlichen Welt. Auf Hochzeitskarten, bunten Servietten und kitschigen Bildern da sehen wir häufig ein Bild von traut sich zuneigenden Schwänen, die mit ihren langen Hälsen ein Herz formen.

Schwäne – so hört man immer wieder – seien sehr treue Vögel. Gewöhnlich bleiben sie ein Leben lang beieinander. Aber manchmal frage ich mich, was eigentlich dran ist an dieser Vorstellung von Zweisamkeit.

Sind Beziehungen nicht viel häufiger wie die Begegnung zweier großer, mächtiger Eisberge, die im Meer treiben. Manche touchieren einander nur leicht. Andere ziehen derartig langsam aneinander vorbei, dass sie erscheinen wie ein großer Eisberg mit zwei aufragenden Gipfeln. Im Untergrund, bei den neun Zehnteln unter Wasser, da knirscht es, da herrscht Spannung, da werden womöglich Eisbrocken in gigantischen Ausmaßen abgesprengt, verschmolzen, verdichtet.

Ein Beobachter sieht diese Eisberge gemeinsam und sagt: „Sie gehören zueinander. Sieh doch, wie Zwillinge ragen sie auf. Nichts kann sie trennen.“ Womöglich glauben sogar die Eisberge daran, dass sie in Wahrheit ein großer Berg geworden sind.

Aber dann, vielleicht erst nach Jahren ist der Austausch im Untergrund beendet, die letzten Wunden sind geschlagen, die liebsten Eiskristalle getauscht und die Eisriesen trennen sich wieder. Jeder treibt weiter in entgegengesetzter Richtung seiner Bestimmung zu – der eine sich mit dem ewigen Eis zu vereinen, der andere im warmen Äquatorialmeer zu schmelzen.

19. Oktober – Abendrot

Abendrot. Verheißung für den neuen Tag. Weit streckt die Sonne ihre letzten Strahlen über den Horizont, zaubert rosiges Leuchten in die Wolken, grüßt uns ein letztes Mal mit ihrem Farbenspiel zur Nacht, bevor sich langsam alle Farben auflösen und die hellen und dunklen Schatten ihre Herrschaft antreten.

18. Oktober – Nachts am Meer

Völlige Dunkelheit umgibt uns, kaum haben wir unser Auto am Parkplatz abgestellt. Außerhalb der Saison sind um diese späte Stunde weder Strandbars geöffnet noch Promenadenbeleuchtung eingeschaltet. Hinter der Düne höre ich das Meeresrauschen aufsteigen. Mit dem funzeligen Licht unserer kleinen Taschenlampe finden wir den Weg zum Strand. Das Meer brandet in tiefer Schwärze an.

Ich kann es hören und spüren aber nicht sehen. Überhaupt ist es mir rätselhaft, wie ich in dieser totalen Schwärze überhaupt einen Weg finde. Aber obwohl ich nicht wirklich sehen kann, gelange ich genau an diese Linie, wo das Meer mit seiner gierigen Zunge am Strand leckt, ein klein wenig Schaum zurücklässt, ein wenig Sand mit zurück ins Meer nimmt.

Das Geräusch der Brandung, das Streicheln des Windes, der Geruch der See, das alles lässt mich jubeln und tanzen dort im tiefen Schwarz am Strand. Ich vergesse völlig meinen Begleiter, der geistesgegenwärtig ein Foto schießt, wie ich wild am Strand entlang hüpfe. So außer mir vor Glück habe er mich noch niemals erlebt.

Natürlich zeigt das Foto nur ein undeutliches völlig überstrahltes Gesicht vor undurchdringlicher Schwärze. Wie ein Herzmonitor ja auch nur den Rhythmus anzeigt, aber niemals, was ein Herz fühlt.

17. Oktober – Herbst

Habt Ihr mich jemals klagen hören, wie schrecklich es sei, dass der leuchtende und warme Sommer nun vorbei ist, dass nun der Herbst Einzug hält?

Habe ich mich jemals beschwert, dass die Bäume und Sträucher nun in voller Pracht der Herbstfarben blühen, die Blätter in zartem Gelb, kräftigem Ocker, in Rosarot, in Burgunderfarben und in hellem Braun zeigen?

Habe ich über den Nebel geschimpft, der an vielen Tagen hoch über uns hängt, sich manchmal auflöst und goldenen Sonnenstrahlen Platz macht?

Oder habe ich den Regenwolken gezürnt, die sich manchmal mit stürmischen Winden gepaart über uns ergießen?

Vielleicht habe ich hin und wieder ganz zaghaft gemäkelt, weil die Temperaturen nicht mehr so angenehme Höhen erreichen.

Es mag auch sein, dass ich mich über die kürzer werdenden Tage ein klein wenig negativ geäußert habe.

Aber im Großen und Ganzen finde ich den Herbst wunderschön und malerisch.
Auch er wird wieder viel zu kurz sein.

16. Oktober – Fieber

Ganz selten habe ich Fieber. Das letzte Mal vor vielen, vielen Jahren als ich gerade von meinen Eltern fortgezogen war, in eine andere Stadt.

Und als mich dann meine Mutter für ein Wochenende besuchen kam, da wurde ich plötzlich krank, hatte hohes Fieber und meine arme Mutter war verurteilt Krankenwache zu halten.

Das tat sie auch – ohne zu klagen. Was nicht selbstverständlich sein mag. Vor allem, weil es in meiner kleinen Ein-Zimmer-Wohnung nur ein Bett gab und kein Sofa, auch keine bequemen Sessel.

Ich weiß nicht mehr, wie sie überhaupt die Nacht verbracht hat. Ob sie es gewagt hat sich neben mir auf dem Futon zum Schlafen zu legen oder ob sie sich mühsam auf einem meiner unbequemen Holzstühle ab und zu mit dem Kopf auf den Küchentisch sinkend wachgehalten hat.

Ich erinnere mich nur noch, dass ich froh war, nicht allein zu sein mit meinem hohen Fieber. Ich fühlte mich so krank und hilflos, dass mir die Tränen aus den Augen rannen, und ich glaubte sterben zu müssen. So hoch war das Fieber. Manchmal frage ich mich, ob ich an diesem Wochenende ohne den Besuch meiner Mutter einfach nicht krank geworden wäre. Vielleicht konnte ich mich nur deshalb so gehen lassen und krank werden, weil die Sicherheit der mütterlichen Pflege in greifbarer Nähe war.