8. November – Dreiheit

Dreiheit: Ich bin Körper. Mein Schweiß dringt aus jeder Pore. Mein Blut pulsiert. Wenn ihr mich lasst, dann funktioniere ich wie ein Uhrwerk. Nur bin ich viel wundersamer als das. Ein Wunder der Natur. Ein Wunder an Kollaboration. Jede Zelle in mir arbeitet mit den anderen auf erstaunlichste Weise zusammen. Ich überlebe in Kälte und Hitze. Ich ertrage Schmerz und Leid. Ich springe in die Luft aus höchster Freude. Ich schütze euch immer und ewig, solange ich lebe. Ich bekomme Beulen von eurer Unachtsamkeit. Ich bringe euch den großen Genuss von Lust und den großen Verdruss mit der Lust auch. Ich bin ein Abbild der Seele und die Verschmelzung zweier fremder DNA-Stränge zu einem. Mein Bauplan steckt in jeder meiner lebendigen Zellen und ich bin einzigartig, wandlungsfähig, eigensinnig. Ich bin Körper.

Ich bin Geist. Mein Sitz ist in den Außenregionen, den Spitzen, den Höhen. Mein Werkzeug ist das Wort, meine liebste Tugend die Ordnung. Am liebsten habe ich alles hübsch kategorisiert, erklärt, abgeheftet. Ich mag keine Überraschungen. Manchmal schwebe ich in hohen Sphären. Ich versuche zu verstehen, ich versuche, logische Schlüsse zu ziehen aus den Informationen, die ich hereinbekomme. Manchmal ist das schwierig für mich. Die ordentlich abgelegten Anweisungen stimmen nicht immer mit dem aktuellen Input überein. Was verwerfe ich dann? Die neue Erfahrung oder die überlieferte Tradition? Das Ist oder das Soll? Dürfen Widersprüche unaufgelöst nebeneinander existieren? Ich bin bemüht gut dazustehen. Meine Ordnung muss stimmen. Ich kann mir keine Fehler erlauben. Ich bin Geist. Ich bin Logos.

Ich bin Seele. Unwandelbare Wandlung. Meinen Sitz habe ich tief in den Wurzeln von Körper und Geist: im Unterleib, im Bauch, im Herzen, im Kopf. Ich wundere mich über nichts und staune ständig. Manchmal trauere ich. So lange bin ich hier und der Schmerz bleibt immerdar. Tränen fließen. Manchmal freue ich mich. So lange bin ich hier und der Quell der Freude versiegt nie. Lachen perlt aus mir. Es sind die kleinen Zeichen mit denen ich zu euch spreche, lieber Körper, lieber Geist. Ihr beide wärt ohne mich vielleicht ganz zufrieden aber doch nicht komplett. Ihr braucht mich, um den ewigen Streit zu schlichten. Ihr braucht mich, um heil zu werden. Ich bin Seele.

7. November – Bruder

Mein großer Bruder ist überhaupt nicht wie der oftmals bemühte Klischee-Bruder, der gerufen wird, um die bösen Kerle zu verhauen.

Mein Bruder hat sich nämlich noch nie gerne geprügelt. Außerdem war er auch nicht der angeberische Machertyp, eher der feinsinnige Künstler.

Anfangs hatte er überhaupt wenig Lust, sich mit der kleinen Schwester zu beschäftigen. Schließlich wollte die immer dabei sein. Ärgerte die Freunde, die er zu Besuch hatte, und war überhaupt eine ganz schöne Nervensäge.

Dabei war das für mich, die kleine Schwester, doch alles nur Spaß und Spiel und manchmal Lust am Provozieren. Trotzdem haben wir uns bemerkenswert wenig gestritten. Als ich langsam älter wurde, hat mich mein Bruder sogar manchmal mitgenommen zu Konzerten. Eine seiner Ex-Freundinnen wurde eine gute Freundin von mir.

Seit er vor langer Zeit ein paar Jahre vor mir aus unserem Elternhaus ausgezogen ist, sehen wir uns vielleicht ein oder zwei Mal pro Jahr, telefonieren ab und zu. Aber das gute Gefühl, einen großen Bruder zu haben, das bleibt tief in meinem Herzen – auch wenn er sich niemals für mich prügeln wollte.

6. November – Tipi

Tipi ist ein kleiner Hund. Er sitzt in Martins Bett und bewacht seinen Schlaf. Seine Knopfaugen bleiben in der Dunkelheit starr auf Martin gerichtet. Kein Blinzeln, kein Gähnen, kein mit den Augenrollen. Nur eiserne Konzentration.

Martin wälzt sich herum und stößt jammernde Laute aus. Tipi zuckt mit keiner Wimper. Stoisch sitzt er da und wacht. Er fragt sich auch nicht, was Martin wohl träumen mag. Tipi ist doch nur ein Stoffhund. Er denkt überhaupt nicht. Und wenn Martin schläft, da verlässt ihn jegliche Lebendigkeit. Seine Stimme, seine Beweglichkeit schlafen mit Martin die ganze Nacht.

Erst am nächsten Morgen, wenn Martin ihn mit heller Stimme begrüßt und in die Arme schließt, da wird Tipi wieder zum besten Freund des kleinen Jungen.

5. November – „Nichts geht mehr“

„Nichts geht mehr“, sagt der Croupier und ich beobachte die gierigen, hoffnungsfrohen, angespannten oder verzweifelten Gesichter. Die verbliebenen Jetons werden in den Händen hin und her gedreht. Die Augen folgen der Kugel, die nun springt und tanzt, bevor sie zur Ruhe kommt, langsam auf eine der Ziffern rollt und liegenbleibt.

„Zero“ sagt der Croupier. Dann schiebt er in unbeteiligter Geschäftigkeit die Jetons von hier nach da, kassiert ein, zahlt aus. Die Spieler um den Tisch scheinen sich allesamt auszukennen. Benötigen keine Erklärung, keine Anweisung. Nur einer entspannt sich, den Übrigen ist die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben.

Doch nur ein Enttäuschter sieht wirklich blass aus, angeschlagen, fast vernichtet. Vielleicht fällt ihm gerade ein, welche Rechnungen er nun noch nicht bezahlen kann – außer denen, die er bereits nicht bezahlt hat. Die Sucht treibt ihn. Die Sucht nach vergeblicher Hoffnung. Die Sucht nach dem Traum vom schnellen Geld. Die Sucht nach dem Unglück. Die Sucht nach dem Drama.

Jeder kann langweilig arbeiten gehen und doch nicht genug auf Tasche haben. Aber in Größe untergehen, das kann nicht jeder. So blass, so weiß um die Nase. Die Augen glimmen tiefschwarz. Er setzt seine letzten Jetons. Ich muss gehen. Ich kann mir den Ausgang nicht ansehen.

Selbst wenn er jetzt gewinnt, so zögert das seinen endgültigen Untergang nur kurz hinaus. Nein, treibt ihn noch weiter hinein. Vorbei. Eine sehr kostspielige Methode dem Leben mit seinen Höhen und Tiefen, mit seinen Zufällen und Glücksmomenten aus dem Wege zu gehen. Roulette ist sicher: Das Gewinnen ist nur eine Illusion, der Verlust garantiert.

4. November – Ein alter Hut

Kennt ihr das Gefühl, gerade irgendeine tolle Entdeckung gemacht zu haben und einen Augenblick später stellt ihr fest, dass genau diese Entdeckung bereits ein Dutzend anderer Menschen vor euch gemacht haben? Also nichts als ein alter Hut ist?

Warum also kommen so häufig alte Hüte dabei heraus, wenn wir auf Entdeckungsreise gehen? Das möchte ich doch gerne mal wissen. Habt ihr eine Idee dazu?

Nun ja, ich schon. Es liegt an den ausgetretenen Trampelpfaden unserer Vorstellungen und Denkweisen. Nur leider auch diese Erkenntnis ein alter Hut.
Ich habe noch ein paar auf Lager, wartet mal ab. Ihr habt doch bestimmt schon einmal vom Dualismus gehört, den zwei Seiten einer Medaille. Das meint zwei Begriffe, die so untrennbar miteinander verschweißt sind wie Kopf und Adler, Arsch und Eimer oder eben Liebe und Hass, Mut und Angst usw.

Im Grunde sind diese so gegensätzlich erscheinenden Begriffe nichts weiter als die zwei Seiten eines Objekts. Das wusste bereits die ollen Griechen, die ganz ollen, die ja bekanntlich alle sehr einfallsreich und gebildet waren. Deshalb gab es auch schon vor mehr als 3000 Jahren (oder so) in der griechischen Sprache neben Einzahl und Mehrzahl die Zweizahl. Also: ich, beide (sich einander bedingende Seiten einer Medaille), wir. Ja, im Deutschen schwer auszudrücken und auch zu verstehen.

Wo ich jetzt viele Worte machen muss, da machte der Grieche eben nur eines und jeder verstand sofort, was er damit meinte. Nun ja, dieser ganze Kram mit dem Dualismus wurde mir bereits in der Schule beigebracht. In irgendwelchen Büchern über Buddhismus las ich auch davon, dass dieser zu überwinden sei. Also der Dualismus begleitet mich mein ganzes bisheriges Leben.

Und plötzlich komme ich darauf, dass es ja auch Gegensatzpaare gibt, die eben nicht dem normalen dualen Verständnis entsprechen. Zum Beispiel ist für mich Vertrauen das Gegenteil von Angst. Oder Gleichgültigkeit das Gegenteil von Liebe. Ach Mensch, das kommt mir so toll vor, endlich mal ein richtig neuer Gedanke aus eigener Erfahrung gewonnen, destilliert und abgefüllt. Aber wahrscheinlich doch wieder nur ein alter Hut. Macht aber nichts, für mich ist er nagelneu.

3. November – Das Unglück mit den Wörtern

Ist dir schon einmal aufgefallen, dass alles Unglück mit den Wörtern anfängt. Im Grunde mit den Abkürzungen dazwischen, den vorgefertigten Gedanken aus der Fabrik. Mit den Fast-Food-Denkweisen aus dem Kühlregal, kurz angewärmt und dann leicht und schnell inklusive aller Farbstoffe und künstlichen Aromastoffe einverleibt.

So hörst du in jungen Jahren den Menschen zu, die du liebst und glaubst ihren Worten. Können sie fehlgehen? Nein! Denn sie sind ja deine Götter. Je älter du wirst umso häufiger werden deren Glaubenssysteme, Philosophien und Weisheiten widerlegt. Nicht alle, aber doch empfindlich viele. Widerlegt durch etwas, das sich Erfahrung nennt.

Wem glaubst du nun? Den Weisheiten deiner Götter oder deinen selbst erlebten Gefühlen? Deinem Kopf oder deinem Bauch? Voller Unsicherheit wendest du dich ab und suchst neue Götter. Götter mit ähnlichen Erfahrungen wie du. So steigst du aus dem tiefen Sumpf der Einsamkeit, in den dich der Zweifel geworfen hat. Der Streit zwischen Theorie und Praxis ist beigelegt.

Voller Freude lachst du denen zu, die dein Erleben teilen. Ist es deshalb Wahrheit? Nein, nur deine Wirklichkeit und die Erkenntnis, wie wohltuend es sich anfühlt verstanden zu sein.

2. November – Josefs Tagesform

Josef atmete schwer. Nur noch 100 Höhenmeter hatte er zu überwinden, aber noch niemals waren ihm diese letzten Meter so anstrengend vorgekommen.

Er keuchte und war dankbar dafür, allein zu sein. Wie peinlich, wenn ihn nun jemand beobachten würde. Josef musste sich setzen. Keinen Schritt mochte er mehr machen. Mühsam ließ er sich am Wegesrand nieder und ließ den Kopf auf die Knie sinken.

Nach einer Weile nahm er einen Schluck aus seiner Wasserflasche. Immerhin hatte sich sein Atem beruhigt. Aber nun zuckten seine Beine. Er war heute einfach nicht in Form. Dabei ging er jedes Jahr an seinem Geburtstag auf den Berg, seit seinem zwanzigsten Geburtstag tat er das, seit 65 Jahren. Und niemals war ihm der Weg so schwergefallen.

Er verstand einfach nicht, warum seine Tagesform heute so miserabel war.

1. November – Uralte Steine

Eine flache Schale habe ich extra besorgt. Viereckig mit gerundeten Ecken. Dort ruht nun der Ostseesand, auf ihm ein paar uralte Steine.

Natürlich ist ein Hühnergott dabei. Ein Stein mit Loch. Im Hühnerstall – so sagt es die Überlieferung – soll er bewirken, dass die Hühner mehr Eier legen und die Füchse von ihnen ferngehalten werden. Ob das wirkt, werde ich nun erproben.

Vielleicht hilft dieser Hühnergott und der große auf dem Fensterbrett zwischen den Blumentöpfen mir dabei, „mehr Eier“ zu legen, also noch kreativer zu sein und vielleicht sogar ein paar goldene, diamantene oder kunterbunte „Eier“ zu legen. Womöglich werden die im ganzen Hause verteilten Hühnergötter tatsächlich auch die Füchse fernhalten, die listigen Gedanken und vorwitzigen Zweifel. Wenn ich daran glaube, wird es so sein.

Aber ich habe nicht nur Hühnergötter gesammelt. Im sandigen Bett liegen auch noch ein paar interessant geformte Sedimentgesteine. Glattgeschliffene Kiesel zu einem Turm aufgeschichtet. Ein hellgrauer auf einem glitzernden dunkelgrauen auf einem tiefschwarzen auf einem weißen Stein. Insgesamt herrschen die schwarzen, weißen und grauen Töne vor. Den gelben Feuerstein und die rosafarbenen und blauen Steine habe ich woanders aufbewahrt.

31. Oktober – Wieder daheim

Ein paar Tage war ich getrennt von meiner gewohnten Umgebung und kehre zurück in Vertrautheit, bin wieder daheim. Aber als Erstes nehme ich mir Zeit. Dann Ruhe. Dann Zweisamkeit.

Ich ordne und pflege. Lasse dann alles los und gönne mir noch mehr Zeit.
Der Rhythmus des Meeres pulsiert noch in meinem Blut und lässt mich das Staccato der täglichen Hektik noch ein paar köstliche Tage ignorieren.

Vielleicht für immer.

30. Oktober – Ostsee-Elfchen

Ostsee-Elfchen

Wind
Fegt um
Das Haus. Sicher
Behütet es unseren Schlaf.
Geborgenheit!

Kuscheln
In warme
Kissen und sägen,
was Marilu halten kann:
Damp

Vier
Lachende Schwestern
Stehen am Strand
Und tanzen im Sonnenaufgang:
Magie!

Löcher
Suchen am
Strand mit Stein
Drumherum für Marions Mobile:
Hühnergötter!

29. Oktober – Am Rande der See

Allein und mir selbst genug balancierte ich am Rande der See. Mit zuverlässigem Schlag warf sich das Meer an den Strand, zog sich zurück und rollte aufs Neue.
Goldenes Sonnenlicht ließ das Wasser bis zum Horizont in Azur mit einem Hauch Gletscherblau erstrahlen. Hyperrealistisch. Höher als die Wirklichkeit. Sich einbrennend in die Seele, tief hinabsinkend in jede Zelle. Es lockte mich das Wasser.

Also zog ich die Schuhe und Strümpfe aus, rollte die Hosenbeine bis zum Knie hinauf und durchwatete einer Sandbank folgend das seichte Wasser in zwei, drei Meter Entfernung vom Ufer. Die Wellen schlugen höher und zogen an meinen Beinen. Es schien, als sehnten und drängten sich die vier fünftel Wasser in mir nach Vereinigung, als bäten sie um Auflösung in der Ursuppe, dem ewigen Meer.

So einfach loszulassen und sich mit Quallen und Larven und Seesternen und Fischen und Krebsen und Plankton und Algen zu vereinen zu einem langsamen Tanz. Die Last und Lust der Einheit. Sehnsucht greift nach mir mich aufzulösen in der Weite und Tiefe des Meeres. Wieder Wasser mit allen Wassern zu sein.

Aber ich bin Fleisch gewordenes Wasser, geordnete Gewimmel, hochspezialisierte Zellen haben ihre Freiheit geopfert, um mich autonomes, einzigartiges Wesen zu formen, das nun dort auf Milliarden Jahren alten Steinen steht, den weiten seit Äonen wartenden Himmel über sich.

28. Oktober – Schwanenpantomime

Schwanenpantomime. Schwäne machen es sich hier an der Ostsee gerne in Strandnähe gemütlich. Im flachen Wasser treiben sie dahin und gründeln. Mit einem entschlossenen Zurückwerfen ihres Kopfes lassen sie ihre Ernte den Schlund hinabrollen.

Von April bis September ist dieser Teil des Strandes für Spaziergänger gesperrt und allein den brütenden Vögeln vorbehalten. Nun im Oktober scheinen die Brutgeschäfte erledigt und wir Touristen dürfen auch hier im hellen Sand am Rand des Meeres balancieren.

Das Rauschen der See scheint mich von den übrigen Spaziergängern zu entfernen und ganz der Beobachtung der Natur zu öffnen. Ein junger Schwan, dick und mächtig aber immer noch in graues Gefieder gekleidet, schwimmt nahe am Ufer. Nicht weit von ihm entfernt ein etwa gleichgroßer, weißer Schwan. Immer wieder ins salzige Wasser abtauchend. Als ich mich dem grauen Schwan langsam aber unaufhaltsam nähere, denke ich nach über die Geschichte vom hässlichen Entlein. Ich frage mich, ob dieser minderjährige Schwan nicht recht spät dran sei, ob Schwäne nicht auch in den Süden ziehen.

Dabei beobachtete ich den Grauen, der ein wenig gelangweilt im Wasser entlang dümpelt, als plötzlich der weiße Schwan durch das Heben seines orangefarbenen Beines aus dem Wasser meine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Er streckt es nach hinten aus, als mache er Stretching. Dann wendet er sich ganz mir zu und entfaltet für einen kurzen Augenblick seine Schwingen, breitet sie aus und streckt mir fast spielerisch in Zeitlupe den Hals entgegen. Eine Drohung nur und ich verstehe sofort.

„Wag es nicht meinem Kinde zu nahe zu kommen, sonst bekommst du es mit mir zu tun.“ Respektvoll entferne ich mich mit zügigen Schritten. Ohne es zu beabsichtigen, habe ich eine Grenze überschritten und bin mit einer wohlwollenden Ermahnung davongekommen.