9. Juni – Stacheliger Untermieter

Ein kleiner Igel wohnt zur Zeit in der Katzenkiste von unserem Kater Paul. Die Katzenkiste hatten wir auf die Veranda vom Gartenhäuschen gestellt und wunderbar mit einer alten Matratze ausgepolstert. Durch ein großes rundes Loch konnte Paul prima dort hinein und wieder hinauskommen. Theoretisch.

Leider gefiel Paul diese Zweitwohnung aber aus irgendeinem Grunde nicht. Sogar im tiefsten Winter hatte er sie verschmäht. Kein Wunder also, dass er sie jetzt im Frühling völlig links liegen ließ. Und kürzlich hat Paul einen Untermieter bekommen.

Als ich neulich an der Katzenkiste vorbeikam, schaute mich plötzlich ein kleines spitzes Gesicht mit runden, schwarzen Knopfaugen an. Ich musste zweimal hinschauen, aber dann erkannte ich auch ohne die Stacheln sehen zu können den Igel. Der saß gemütlich in der Kiste und ließ die Welt – in diesem Falle mich – an sich vorüberziehen.

Was Paul zu seinem Untermieter sagt?

„Das ist mir doch völlig miau!“ – natürlich.

8. Juni – Loslassen

Weißt du noch, wie du als Kind Fahrradfahren gelernt hast? Erinnerst du dich noch daran, wie du auf dem Rad saßest, das erste Mal ohne Stützräder. Deine Mutter oder dein Vater lief neben dir her, hielt das Rad durch einen sicheren Griff unter den Sattel stabil, rief dir zu: „Treten, treten, nicht aufhören!“

Und immer, wenn deine Mutter oder dein Vater losgelassen hat, hast du aufgehört zu treten, das Gleichgewicht verloren und bist beinahe umgefallen.

Falls es dein Vater war, der dir Fahrradfahren beigebracht hat, dann war er vielleicht ein bisschen so wie meiner, nämlich ungeduldig.

Warum lernt das Kind so etwas Einfaches wie Fahrradfahren nicht. Dauernd fällt es wieder um, und ich sag doch noch: „Nicht umfallen, nicht aufhören zu treten!“

Aber obwohl er irgendwann wütend wurde und obwohl ich es wirklich schwierig fand dieses Radfahren, nahezu unmöglich, so wollte ich es doch unbedingt lernen.

Also sah ich über meine Angst, die Wut und Ungeduld meines Vaters hinweg und versuchte es weiter – und dann, plötzlich konnte ich es.

Tat es in Wahrheit schon eine ganze Weile, weil mein Vater einfach so außer Puste war, dass er nicht mehr nebenherlaufen und dabei noch unnütze Anweisungen rufen konnte.
Er hat also einfach losgelassen, ohne dass ich es mitbekommen habe. Und als ich es dann merkte, fuhr ich zwar einen kleinen Schlenker vor Schreck, aber ich konnte doch mein Gleichgewicht halten und trat einfach weiter in die Pedale. Ich fuhr ganz allein Fahrrad!

War das großartig!

7. Juni – Urlaubsgeld

Bettina sitzt am Küchentisch und zählt das Kleingeld aus der Mariacron 3 Liter Magnumflasche. Dort wirft sie seit ein paar Jahren alle kleinen Münzen hinein, die sie übrig hat. Manchmal verirrt sich sogar ein Euro dazu. Und wenn die Flasche voll ist, hat sie sich vorgenommen, wird sie von dem Geld in Urlaub fahren.

Heute ist es soweit, die Münzen drohten schon oben heraus zu purzeln, sie hat die Flasche umgekippt und macht jetzt lauter Häufchen mit Eincentstücken, Zweicentstücken, Fünf-, Zehn- , Zwanzig-, Fünfzigcentmünzen, ein bescheidener Stapel Eineuromünzen prangt in der Mitte.

Es dauert elend lange, bis sie alle Münzen fein säuberlich sortiert hat, ein paar alte Centimes und Pfennige wirft sie wieder zurück in die Flasche. Die Zungenspitze zwischen den Zähnen stapelt sie jeweils 10 gleiche Münzen aufeinander. Sobald sie damit fertig ist, steht der Tisch voller Geldstapel. Sie zählt das Geld.

Es sind 9, 86 Euro in Eincentmünzen, 17,02 Euro in Zweicentstücken, 10,55 Euro in Füncentmünzen, die Zehn-, Zwanzig- und Fünfzigcent ergeben zusammen 23,70 Euro und dann hat sie 19 Eineuromünzen.

Na, das wird aber ein kurzer Urlaub!

6. Juni – Sängerwettstreit

Sabine schnürt die festen Schuhe und schleicht sich am frühen Morgen aus dem Haus. Mann und Kinder schlafen. Endlich aufatmen, ein bisschen gestohlene Zeit nur für sie allein.

Hinter dem Haus überquert sie eine frisch gemähte Wiese und läuft über die Feldwege Richtung Wald. Obwohl es so früh ist, wärmt die Sonne sie. Und Sabine ist froh, dass sie Sonnencreme auf Gesicht und Arme aufgetragen hat. Im Schatten des Waldes ist es noch kühl. Und die Vögel singen lauthals um die Wette.

In weiter Entfernung hört Sabine ein „Schuhuhuuuhuuu“, zwei Mal. Aber dann wird es vom Pfeifen und Tirilieren und Jubeln aus allen Richtungen übertönt. Was gäbe Sabine darum, wenn sie die Vögel verstünde.

Vielleicht rufen sie sich zu: „Schaut mal eine Menschenfrau! Was will die so früh hier? Warum stört sie uns? Wer traut sich, ihr auf den Kopf zu scheißen?“

Aber vermutlich, überlegt Sabine, kümmern die Vögel sich kein bisschen um mich.
Sie pfeifen und singen, weil das Leben in ihnen einen Druckausgleich sucht wie bei einem Dampfdrucktopf, weil das Leben immer einen Ausdruck sucht.

Und voller Inbrunst stimmt Sabine ein.

5. Juni – Martas Entschluss

Marta guckte gelangweilt. Was der Lehrer da an die Tafel krakelte, stimmte doch hinten und vorn nicht. Überhaupt waren ihre ganzen Schulbücher hoffnungslos veraltet. Und alles wurde ohne Rücksicht bis zum Erbrechen wiedergekäut, obwohl es schon seit Jahren oder gar Jahrzehnten widerlegt war. Ihr erschien es sogar lehrreicher vor dem Fenster den Kastanien beim Wachsen zuzusehen oder die Kästchen im Heft mit lauter kleinen Figuren zu versehen.

Ihr Lehrer übersah höflich und in stiller Übereinkunft, dass sie, anstatt mitzuschreiben, nur Zeichnungen anfertigte. Sie hatte in jeder Klassenarbeit die besten Noten. Sie strengte sich nicht an. Das entsprach schlicht ihrem Naturell. Sie dürstete nach Wissen, sie sammelte Fakten, wo immer sie welche aufpickte. Es erfüllte sie mit Freude, Informationen in sich aufzusaugen und miteinander in Verbindung zu setzen bis Kaleidoskope von Erkenntnis erblühten und stets weitere, höhere, tiefere Fragen aufwarfen.

Von klein auf verfügte sie über eine große Bibliothek. Ihre Eltern hatten sie immer in all ihren Interessen unterstützt und so überflügelte sie ihre Altersgenossen mit Leichtigkeit, übersprang erst eine dann zwei Klassen. Aber was hatte es genutzt? Sie langweilte sich weiterhin im Unterricht und wurde von ihren älteren Mitschülern gehasst.

Marta war daran gewöhnt, anders zu sein. Mit der Einsamkeit kam sie klar. Sie störte nur, dass sie trotz all ihrer Intelligenz, bisher keinen Weg gefunden hatte, der Welt ihre eigenen Erkenntnisse mitzuteilen. Marta wurde zwar wie ein Wundertier vorgeführt, angeblich sogar gefördert. Aber sie merkte, dass sie in einer derartig verschiedenen Welt lebte, dass sie sich kaum mit anderen Menschen zu verständigen in der Lage war. Das frustrierte sie.

Marta hörte auf zu zeichnen. Ein Blitz fuhr wie gleißendes Leuchten durch ihr Zentrum und sie fällte eine Entscheidung. Ohne ein Wort packte sie ihre Tasche, stand auf und schritt zur Tür.

„Wo willst Du hin?“, fragte der Lehrer.

Marta blieb, die Hand auf der Klinke, stehen. Tausend Antwortmöglichkeiten schossen ihr durch den Kopf. Alle waren anmaßend und überheblich.

„Ich möchte mir endlich einen Lehrer suchen, der mir noch etwas beibringen kann.“

Betretenes Schweigen. Das Gesicht des Lehrers entgleiste. Die Schüler in der Klasse duckten sich in ihren Bänken und hielten gespannt den Atem an. Der Lehrer schien sich zu fassen.

„Ja, das ist sicher besser für dich“, sagte er mit fester Stimme und nickte Marta zum Abschied zu.

Leise drückte sie die Tür hinter sich ins Schloss und wusste zum allerersten Mal im Leben nichts mehr.

4. Juni – Nie passiert etwas

Doris sitzt am offenen Fenster und beobachtet. Meyers schwarze Katze läuft über Boltes Hofeinfahrt, schnüffelt an ein paar Grasbüscheln, die zwischen den Steinen hervorsprießen, und tappst dann den langen Weg am Haus entlang Richtung Garten.

Jede Katze der Nachbarschaft hat Doris dort schon entlanglaufen sehen. Was sie auf Boltes Grundstück zu suchen haben, ist ihr ein Rätsel. Dann kommt der Peppi mit seinem Einkaufstrolley die Straße hinaufgeschnauft. Er hält an jedem Briefkasten und steckt das Blättchen hinein.

Ein blaues Auto fährt vorbei, das Doris nicht kennt. Ein rotes Auto kommt vorgefahren, stoppt bei Trägers schräg gegenüber. Ein Mann im dunklen Anzug steigt aus, stapft die Treppen zur Haustür hinauf und schellt. Keiner öffnet. Trägers sind beide arbeiten.
Der Mann klingelt erneut, schaut auf seine Schuhspitzen, rückt die Krawatte gerade. Er schreibt etwas auf ein Kärtchen, das er aus der Innentasche seines Sakkos fischt, klemmt es an die Tür und fährt wieder davon.

Es ist ruhig, so ruhig, dass sich eine Rabenkrähe in Sicherheit wiegt und aufgeregt an dem Gelben Sack neben Meyers Mülltonnen zerrt. Eifrig stochert sie mit ihrem Schnabel. Das Plastik ist schon halb aufgerissen, die leeren Verpackungen quillen hervor. Dann schlittert eine Dose laut scheppernd zu Boden. Erschrocken flattert die Krähe davon.

Etwas später kommt der Postbote. Doris sieht ihn schon von weitem die Straße heraufkommen mit seinem gelben Minitransporter. Alle zehn Meter hält er an und verteilt die Post an die zwei oder drei naheliegenden Häuser. Es dauert fast eine Viertelstunde bis er endlich auf der Höhe von Doris‘ Fenster angekommen ist.

Trägers bekommen nur Briefe, Meyers ein Paket, Boltes eine Zahlungsaufforderung. Für Doris hat der Postbote nichts, nicht einmal Reklame.

Der Schmidt aus dem Hegelweg fährt in seinem alten VW vorbei.

Doris stemmt sich hoch, um Mittag zu kochen, Da sieht sie Frau Träger nach Hause kommen und mit vollgepackten Armen umständlich die Haustür aufschließen, dabei flattert das kleine Kärtchen von ihr ungesehen zu Boden.

Doris holt tief Luft, um der Träger zuzurufen.
Aber dann sagt sie sich: „Lieber nicht, die denkt sonst noch, ich hänge den ganzen Tag nur am Fenster herum.“

3. Juni – Menschen stören

Direkt unterm Nistkasten im Schatten des Baumes liegt eine Frau gemütlich auf einer Gartenliege. Manchmal wedelt sie mit der Hand, um ein Insekt zu vertreiben. Aber meistens liest sie nur und merkt kaum, was um sie herum vorgeht. Eine kleine Springspinne verirrt sich in ihren Ausschnitt, sie hilft ihr wieder hinaus und liest weiter.

Drei hungrige Vöglein sitzen im warmen Nest und warten auf Futter. Noch bleiben sie still, aber die winzigen Köpfchen rucken bereits ungeduldig hin und her. Es wird Zeit, dass ein kleiner Wurm vor ihren Schnabel gehalten wird, den sie selig verschlingen.

Wo bleiben denn bloß die alten Vögel? Haben sie die kleinen Vögelchen vergessen? Hat sie die Katze geholt? Nein, sie sitzen in sicherer Entfernung, hinter der Hecke auf einem Baum und lauern darauf, dass die Frau endlich verschwindet.

Die winzigen Köpfchen rucken und zucken immer wilder. Klagende Rufe dringen aus den hungrigen Schnäbeln. Die alten Vögel antworten und flattern aufgeregt in sicherer Entfernung hin und her. Alle schreien laut durcheinander. Die Frau schaut auf. Was lärmen denn die Piepmätze so?

Dann klappt sie das Buch zu, packt ihre Sachen zusammen und verschwindet ins Haus. Die Sonne ist hinter einer dicken Wolke verschwunden, es wird langsam kühl. Die Vögel geben sicher deswegen ein Konzert, vermutet sie.

2. Juni – Gesines Leben

Gestern besuchte mich eine Freundin und sagte: „Du, borg mir doch mal eben dein Leben aus.“

Ich musterte sie von oben bis unten. Sie sah aus wie immer, hennagefärbtes Haar, wilde Locken, Ringelpulli, Cordhose, zwei nicht zusammenpassende Socken in offenen Sandalen, Gesine eben. Nur ihre Augen hatten heute so einen merkwürdigen Glanz.

„Was willste denn damit?“, fragte ich.

„Jetzt sei doch nicht so. Als wollte ich jetzt irgendwas Besonderes oder so. Nur heute, ehrlich.“

Sie schaute mich ungeduldig an. Ich zuckte mit den Schultern, schüttelte leicht den Kopf.

„Hm, nö!“, sagte ich. „Mein Leben geb’ ich dir nicht.“

Gesine kullerte mit den Augen.

„Das hab ich mir doch gleich gedacht, dass du wieder soo bist. Da brauche ich einmal deine Hilfe. Echt jetzt.“

„Wie, wieder soo? Außerdem ist mein Leben schon was Besonderes. Kannste Dir nicht einfach ausleihen. Und was mach ich solange? Dein Leben hüten, oder was?“

„Ist doch für’n guten Zweck. Brauch das doch nur heute mal.“

„Aber warum?“

„Na, naja“, Gesine druckste herum, „ist nicht so einfach zu erklären.“

„Dann geb’ ich dir mein Leben erst Recht nicht. Wer weiß, was du damit anstellst. Ne, das geht nicht.“

„Ach menno, ich brauch’ das wirklich nur ganz kurz, heute Abend bring ich’s zurück. Lass dir auch meins als Pfand da.“

Sie ließ nicht locker und ich mich breitschlagen. Wir haben also getauscht.

Natürlich kam Gesine gestern Abend nicht wieder.

Sie ist mit meinem erstklassigen Leben durchgebrannt.

Es wundert mich nicht mehr, wenn ich mir den Saustall so angucke, den sie dagelassen hat.
Bei meinem Glück kommt die wieder, sobald ich alles aufgeräumt und in Ordnung gebracht habe.

Aber bis dahin wundert Euch nicht, wenn ich ab und zu mal verschiedene Socken anhabe. Das passiert einem schnell bei so einem chaotischen Gesine-Leben.

1. Juni – Maries Liste

Marie setzte sich eines Abends an ihren Küchentisch, klappte die leicht abwaschbare Tischdecke um und öffnete die Schublade. Ja, da zwischen alten Einmachgummis und dem Sammelwerk „Fixe Rezepte für die berufstätige Hausfrau“, lag es, das abgegriffene Schulheft von Uwe. Marie kramte es hervor, wühlte weiter nach einem Kugelschreiber.
Keiner da. Sie stemmte sich hoch und schlurfte in den Flur, auf der Telefonbank am Zettelkasten klemmte einer. Zurückgekehrt an den Küchentisch nahm Marie umständlich Platz und schlug das Heft auf.

Auf den ersten paar Seiten standen alte Diktate von Uwe aus der vierten Klasse. Was der immer gekleckst hatte! Sie schüttelte den Kopf. Zu ihrer Zeit hatte es für Kleckse in den Schulaufgaben auf die Pfoten gegeben. Sie blätterte weiter, es folgten einige Aufstellungen von Haushaltsausgaben, die sie eine Weile lang geführt hatte. Endlich eine leere Seite.

Marie strich sie mit der Hand glatt und schrieb in ihrer schönsten Schreibschrift in die Mitte der ersten Zeile „Maries Liste“, darunter teilte sie das Blatt durch eine vertikale Linie in zwei Spalten mit links „Pro Heinz“ und rechts „Contra Heinz“.

Sie starrte eine Weile auf die Blümchentapete vor sich. Und notierte unter „Pro“ „handwerklich begabt“, ihr Stift schwebte über dem Papier, sie stierte an die Wand, nein, es kam nichts mehr, so wandte sie sich der anderen Spalte zu und füllte sie mit „zuviel in Kneipe“, „Weibergeschichten“, „verschwenderisch“, „interessiert sich nicht für meine Bedürfnisse“, „interessiert sich nicht für unsere Kinder“, „hilft nie im Haushalt“, „lässt sich bedienen“, „ist launisch“.

Sie schlug um und teilte das Blatt erneut. „Contra“, sie drückte fest mit dem Stift auf, ohne lange nachzudenken, füllte sie die Rückseite und setzte ihre Liste auf der gegenüberliegenden Seite fort. Sie blätterte zurück „Pro“. Sie nagte an ihrer Unterlippe, sie kaute am Kugelschreiber, dass ihr aber so gar nichts einfiel. Es war doch unmöglich, dass ihr nur ein positiver Wesenszug in den Sinn kam. Endlich schrieb sie „sieht gut aus für sein Alter“ und darunter „Sex meistens ok“.

Dann zuckte Marie mit den Schultern und zählte alle Notizen in der Spalte „Contra“.
Es waren dreiundzwanzig. Dreiundzwanzig Punkte, die gegen Heinz sprachen, nur drei für ihn. Die brauchte sie nicht zu zählen.

Das war katastrophal, ein tausend Mal schrecklicher, als sie erwartet hatte. Sie klappte das Heft zu, legte den Kugelschreiber in gerader Linie daneben.
Dann lief sie ins Schlafzimmer, um Heinz’ Koffer zu packen.

Alles umsonst

Alles umsonst hieß das Thema des Schreib-Wettbewerbs, für den dieser Text entstanden ist. Es geht um Depression und Suizidgedanken – Triggerwarnung

Im Gegensatz zu den Gedanken in meinem Kopf rattern Züge nicht mehr, stattdessen gleiten sie pfeilschnell und nahezu geräuschlos dahin. Die Schaffner heißen Zugbegleiter und sind für den Service am Kunden zuständig.

Dieser Text ist für einen Wettbewerb mit dem Thema ‚Alles umsonst‘ entstanden

Im TGV nach Quimper würde ich nach den allerneuesten und besten Standards des Schienenfernverkehrs ohne Rattern, ohne Zugluft und liebevoll umsorgt von leise sprechendem Servicepersonal reisen, das mich darauf aufmerksam machte, dass ich meine Beine doch bitte nicht in den Gang strecken solle, sondern hinter dem Sitz meines Vordermannes verstauen.

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Der Laden

Heute findet ihr im Klosteratelier die Kurzgeschichte „Der Laden“. Sie entstand nach meinem Besuch in einem alten Hutgeschäft in Hofgeismar, das wegen Aufgabe geschlossen werden sollte. Die Begegnung mit dem alten, gebeugten Inhaber hat mich zu dieser Erzählung inspiriert.

Er dreht den Schlüssel herum, nachdem er ein letztes Mal das Licht gelöscht hat. Die Regale sind ausgeräumt. Stille senkt sich über den Raum. Die Verkaufstresen ragen wie Mahnmale aus verschlissenem Boden. Dessen Muster kann er seit Jahren nicht erkennen. Er weiß selbst nicht, haben seine Augen ihre Kraft verloren oder sind die Farben einfach nur verblasst, wie nach und nach seine Waren verblasst sind. Die karierten Herrenhüte, die Damenhüte aus Filz und Strick, die edlen Nerzkappen und Zobelmützen.

Diesen Text habe ich auch auf einem Slam gelesen, natürlich nicht gewonnen, aber immerhin doch ein paar Leute zum Weinen gebracht, das war cool.

Vor langer Zeit hat ihn der Laden verschluckt. Da meinte er es noch gut mit ihm. Damals schimmerte die Zukunft rosig. Das schwere, dunkle Eichenfurnier der Einrichtung und die farblich abgestimmte Wandvertäfelung waren der letzte Schrei. Der gewebte Teppich prangte in Gold und Rubin auf tiefem Grund. Seine Frau stand an seiner Seite. Besitzerstolz erfüllte ihn. Endlich ging es aufwärts. Die Kriegsjahre, die Hungerjahre waren vorbei. Die Lehrjahre, die Gesellenjahre hatten sich ausgezahlt. Jetzt brauchten die Leute stolze Hüte, die ihnen sagten: „Du bist wieder wer“. Sie dürsteten nach Pelzkappen, die ihnen zuraunten: „Du wirst niemals wieder frieren“, und nach mondänen Strohhüten – groß wie Wagenräder, die ihnen einredeten: „Du bist tausendmal schöner als deine Nachbarin.“

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