Alles umsonst

Alles umsonst hieß das Thema des Schreib-Wettbewerbs, für den dieser Text entstanden ist. Es geht um Depression und Suizidgedanken – Triggerwarnung

Im Gegensatz zu den Gedanken in meinem Kopf rattern Züge nicht mehr, stattdessen gleiten sie pfeilschnell und nahezu geräuschlos dahin. Die Schaffner heißen Zugbegleiter und sind für den Service am Kunden zuständig.

Dieser Text ist für einen Wettbewerb mit dem Thema ‚Alles umsonst‘ entstanden

Im TGV nach Quimper würde ich nach den allerneuesten und besten Standards des Schienenfernverkehrs ohne Rattern, ohne Zugluft und liebevoll umsorgt von leise sprechendem Servicepersonal reisen, das mich darauf aufmerksam machte, dass ich meine Beine doch bitte nicht in den Gang strecken solle, sondern hinter dem Sitz meines Vordermannes verstauen.

Ich täte so, als verstünde ich weder Französisch noch Zeichensprache, und streckte meine Beine weiter in den Gang, weil es selbst mit meiner geringen Leibeshöhe unzumutbar ist, die kurzen Beine in dem engen Raum zwischen den Sitzreihen zu falten. Es wäre still, nicht nur, dass die Technik das Rattern und Klappern verlernt hat, der Franzose an sich ist ein sehr ruhiger Fahrgast, so ruhig, dass ich schon schief angeschaut würde, wenn ich vorsichtig die Blisterpackung meines Reiseproviants öffnete. Es herrschte Grabesstille in dem Wagon.

Ich überlege kurz, ob dieser Vergleich standhält. Ein langsam verwesender Mensch in einem Eichensarg, da wird es in der Tat still sein, trotz Fäulnisgasen und Aktivitäten verschiedenster Bakterien. Der Sarg wird den Ansturm von Zweitverwertern des Körpers lange in Schach halten. Also keine Geräusche von Maden, die Fleisch von Knochen schaben, oder gar von sirrenden Fliegenschwärmen. Vor allem das Rattern im Kopf wäre dann endlich verstummt und mein Denkapparat müsste sich nicht länger abmühen, durch immerwährende Aktivität die Taubheit meines Fühlens zu übertönen.

Im Großraumabteil vibrierten Mobiltelefone diskret und wenn überhaupt gesprochen würde, dann in kürzestmöglicher Weise, in einem Flüsterton, der in der Tat jeder Gruft würdig wäre.

Ich will lieber ganz verschwinden, kein Grab, keine Gruft, kein Ort, an dem ich von den natürlichen Verwesungsprozessen ferngehalten werde.

In Quimper würde mich ein Mietwagen erwarten, irgendein Mittelklassemodell, die Kleinwagen wären bereits vergeben. Im Grunde ist es mir gleichgültig, was für ein Wagen das wäre, ich rechne fest damit, dass er vielerlei Funktionen bereit hielte, die ich noch nicht kenne und an denen ich vielleicht einen Augenblick herumspielen würde, während ich mich von den Ausdünstungen der Kunststoffarmaturen belästigt fühlte, um mich dann auf das Wesentliche zu konzentrieren: Starten und zum Pointe de Millier fahren.

Es wäre schon fast dunkel, wenn ich dort ankäme. Nur noch ein feiner Streifen Bläue am Himmel, der sich gegen die aufkommende Schwärze der Nacht zu behaupten suchte. Trotzdem würde ich nach einem Blick über den Ozean in das kleine Waldstück zur Mühle streben.

Im Wald würde es kühl sein und ein klein wenig feucht, die Schwarzkiefern verbreiteten ihren ganz eigenen Geruch und würfen lange Schatten zwischen sich. Erst der Stille unter den Baumkronen gelänge das, was selbst dem Rauschen der Brandung misslänge, sie überlagerte für einen Moment das Rattern meiner Gedanken. Tief würde ich einatmen und über die Schicht aus abertausenden abgestorbener Nadeln die Mühle erreichen, die selbstverständlich um diese Uhrzeit bereits abgeschlossen wäre, so dass ich mich von der Fledermaus, die dort im Eingangsbereich wohnt, nicht würde verabschieden können.
Und ausgerechnet das versetzte mir einen Stich, ich empfände Traurigkeit und Bedauern und das würde süß schmecken, so süß und rein und klar wie der erste Schluck Wasser aus einem Gebirgsquell.

Ich schaute also stattdessen im letzten Dämmerlicht auf das Mühlwehr, den kleinen Bach, der das Mühlrad einmal gedreht hat, kehrte zurück an die Steilküste, beobachtete wie der inzwischen vollautomatisierte Leuchtturm an der Spitze der Klippe seine Arbeit begänne und in regelmäßigen Abständen sein Licht über die See schickte. Ich wendete mich nach links und nähme den kleinen Trampelpfad zum winzigen Strand hinunter, an dem wir in unzähligen Sommern gelegen, in der Hitze gebruzzelt haben, unter den anbrandenden Wellen hindurch getaucht sind. Wir haben uns gerollt wie übereifrige Seehunde, haben uns dem Meer hingegeben, der Sonne, dem Leben, das noch nicht vergeblich erschien, sondern als Geschenk. Ich erinnere mich an solch leuchtende Zeiten wie ich ein verblassendes Polaroid betrachte, immerhin haben sie mir diesen Ort so lieb gemacht, dass ich hier Erlösung finden will.

Fühlen kann ich diese Freude von damals nicht mehr, all das ist ausgelöscht und kommt auch nicht wieder. Es ist seltsam für mich, diese Erinnerungen zu beschwören und dabei nichts weiter zu empfinden als ein dumpfes Hoffen auf Auslöschung.

Ich würde im Dunkeln am Rand des Meeres balancieren, meine Kleidung würde ich anbehalten, aber all den Müll in meinen Taschen, das Telefon, den Geldbeutel, die Schlüssel, die würde ich vorher im Abfall entsorgt haben. Ich würde es mir nicht anders überlegen, auch meinen Körper, diesen gemeinen Halunken, der immer weiterleben will, obwohl ich es satt habe, so satt, würde ich austricksen und so tun, als wolle ich einfach nur schwimmen gehen, nur, dass ich dieses Mal ein klein bisschen zu weit hinausschwömme, in Kleidern, die mich nach unten zu ziehen versuchten, bis mich die Strömung erwischte, die weit nach Westen auf die offene See hinausgeht. Und der würde ich mich hingeben, würde mich treiben lassen aufs Meer, vielleicht würde ich mein Leben an mir vorbeiziehen sehen, vielleicht würde ich da im letzten Augenblick meinen Lebenswillen wiederentdecken, der mir seit langem abhanden gekommen ist, seit ich nur noch wie eine traurige Pflanze dahinvegetiere, mich nicht aus meinem Bett erheben kann, manchmal nicht einmal die Hand zu heben vermag, um mich zu waschen oder anzuziehen oder auch nur ordentlich zuzudecken. Ich würde versuchen zurückzukommen an die Wasseroberfläche und die Tiefe würde mich unerbittlich zu sich hinabziehen, mir ginge die Luft aus und mit der schwindenden Neuronalaktivität meines Gehirns würde ich in einem Gewitter, in einem Aufbäumen untergehen und endlich, endlich Frieden finden.

Leider habe ich einen guten Psychiater, der penibel darauf achtet, dass meine Stimmung durch die kleinen weißen Pillen erst aufgehellt wird, bevor mich die blassgrünen wieder aktivieren. Wenn meine Tage wieder heller sind, dann will ich plötzlich nicht mehr nach Quimper fahren, nicht zum Pointe de Millier, nicht im Meer versinken. Dann hört es auf dieses Gefühl der Gefühllosigkeit, diese Dumpfheit, dieses schwarze Loch in mir, das mich unerbittlich verzehrt, dann ist da plötzlich alles wieder da, eine Membran verschließt das Loch, verhindert, dass ich völlig ausgesaugt und ausgelaugt werde.

Dann geht es gut, ein paar Wochen, ein paar Monate, das Leben hat mich wieder. Mit vorsichtigen Schritten erobere ich zuerst meine Wohnung zurück, dann die Außenwelt, ich ignoriere den Schmerz, dass diese mit jedem Mal leerer und grauer wird, die Menschen, die Geduld haben mit mir und meiner Krankheit immer weniger werden. Ich nehme es ihnen nicht übel. Ich wäre längst im Atlantik versunken, wenn ich nicht einen solch gewissenhaften Arzt hätte. Ich wäre niemals meine beste Freundin. Wer soll das ertragen? Ich will es gar nicht mehr ertragen und bin doch dazu verurteilt. Ich starre an die Decke, die weiß ist. Es gibt keine Tränen, nur diese Idee meiner letzten Reise. Das kenne ich bereits. Mein Therapeut sagt, diese Vision von der weiten Reise in die Auslöschung, kündigt stets eine Besserung an. Wollte ich mich wirklich umbringen, dann würde ich nicht von solch einer langwierigen Methode träumen. Und es stimmt, die nächste Phase wird sein, dass das Gefühl zurückkommt. Das bedeutet vor allem Schmerz, Trauer, Scham, Peinlichkeit, nicht etwa Glück und Freude.

Dennoch ist all das dann gemischt mit so etwas wie Freude, weil jedes Gefühl besser ist als gar keines. Und diese kleine Süße im Schmerz ist es, dieser Stachel der Hoffnung ist es, der mich davon abhält wirklich zu fahren mit dem TGV vom Gare de Montparnasse nach Quimper und mit dem Mietwagen zum Pointe de Millier, damit ich endlich Wasser mit allen Wassern werden kann und das Rattern ein Ende hat.