9. Juli – Cecilia

Cecilia blieb als Letzte übrig, wie immer. Keine ihrer Schulkameradinnen wollte sie in ihrer Völkerballmannschaft haben. Dafür war Cecilia einfach zu ungeschickt. Nie schaffte sie es, den Ball zu fangen, wenn sie doch mal eine Mitspielerin anspielte und außerdem war sie so langsam, dass sie praktisch sofort getroffen wurde und das war es dann. Sie schaffte es nie zurück ins Spiel. Und auch heute war es wieder so.

Die anderen spielten, sie strengten sich an, sie lachten und hatten Spaß. Und Cecilia saß in der Hölle fest. Auch als andere Spielerinnen dazukamen, beachteten die Cecilia nicht. Schließlich war sie einfach zu merkwürdig. Später dann im Mathematikunterricht saß Cecilia still in der dritten Reihe. Niemals meldete sie sich. Sie zitterte davor, dass der Lehrer sie aufrufen könnte. Aber meistens hatte sie Glück. Der Lehrer nahm dann nur die dran, die sich meldeten. Und die glänzten und wussten die Antworten. Alle anderen waren eben einfach schlauer als Cecilia. So war das den ganzen Tag.

Nur im Kunstunterricht da geschah plötzlich etwas Unerwartetes. Die Lehrerin befahl den Mädchen, ihren rechten Schuh auszuziehen und vor sich auf den Tisch zu stellen. Den Schuh sollten die Mädchen zeichnen. Eifrig packten sie Papier und Bleistifte aus und strichelten los. Cecilia beugte sich besonders tief über ihr Blatt. Nur kurze Blicke warf sie auf den Schuh vor sich. Mit sicheren Bewegungen ihrer Hand warf sie die Konturen des Schuhs aufs Papier und arbeitete die dunkle Lederoberfläche, das silbrige Glänzen der Schnalle, die dunklen Falten im Leder, den leicht schiefen Absatz, die abgewetzte Stelle an der Ferse mit Licht und Schatten heraus.

So eifrig war sie bei der Sache, dass Cecilia sogar das Klingeln überhörte. Erst als sie die anderen Mädchen die Stühle an die Plätze rücken sah. Und eine nach der anderen mit ihrer Schultasche über der Schulter der Lehrerin ihr Werk abgab, da merkte sie, dass die Doppelstunde zu Ende war. In der Aufregung vergaß Cecilia, ihren Namen auf das Papier zu schreiben. Schnell packte sie ihre Sachen zusammen und legte ihren Schuh beim Hinausgehen auf den Stapel mit Zeichnungen.

In der nächsten Kunststunde gab die Lehrerin die benoteten Zeichnungen zurück. Eine Zeichnung, sagte sie, habe ihr besonders gefallen. Sie sei mit außerordentlich sicherem Strich gezeichnet und zeige das wahre Wesen des Schuhs. Dies sei schließlich das Ziel der Kunst, das wahre Wesen der Welt einzufangen, das ja für jeden anders und besonders sei. Das verlange einen sehr genauen Blick und die Fähigkeit die Wirklichkeit zu durchdringen. Und sie freue sich, dass sie eine so begabte Künstlerin in der Klasse habe. Leider habe die aber vergessen, ihren Namen auf das Blatt zu schreiben. Und dies sei das Bild. Die Lehrerin hob Cecilias Zeichnung hoch. Die Mädchen schauten ehrfürchtig auf die Zeichnung, die dermaßen von der Lehrerin geadelt wurde.

„Du kannst dich ruhig melden“, sagte die Lehrerin in die Klasse hinein.
Wen sah sie denn bloß an? Die Mädchen blickten sich gegenseitig an, welche von ihnen denn nun diesen sagenhaft realistischen Schuh zu zeichnen in der Lage gewesen war, diesen Schuh, der das Wesen aller Schuhe abbildete, den Schuh, der die Wirklichkeit durchdrang. Suchend irrten ihre Blicke. Keiner traf Cecilia. Die langweilige Cecilia, die konnte ja nichts. Die war doch nur merkwürdig und still und zu nichts zu gebrauchen.

Aber plötzlich ging die Lehrerin gerade auf diese Cecilia zu, legte das Blatt vor sie hin und sagte: „Wirklich hervorragende Arbeit, eine Eins plus! Denk das nächste Mal ans Signieren.“

Die Lehrerin lächelte sie freundlich an. Cecilias Gesicht erstrahlte glutrot, automatisch senkte sie den Blick. Da sah sie ihren Schuh auf dem weißen Papier. Den hatte sie gezeichnet. Sie und keine andere. Sie hatte die beste Zeichnung abgeliefert.

Da hob sie den Kopf und schaute das erste Mal seit langer Zeit ihren Mitschülerinnen in die Augen.

8. Juli – Positiv denken in der Katastrophe

Eines Tages stürzte Jens ins Labor und verkündete, dass es tatsächlich geschehen war. Die Katastrophe war eingetreten. Lange Jahre hatten wir alle gewarnt. Ständig hatten wir Lobby-Arbeit gemacht. Für den Klimaschutz, gegen die Regenwaldrodung, für fairen Handel, gegen Genfood.

Und nun war es passiert: Die ersten Toten nachweislich durch genetisch manipulierte Nahrung. Natürlich brodelte es seit langem. Aber bisher war es der Regierung, den Wirtschaftsvertretern immer gelungen den Deckel drauf zu halten.

Die Meldung verbreitete sich in sekundenschnelle um den Globus.
Diesmal war es nicht aufzuhalten. Es hatte fast alle Menschen auf einem Luxusdampfer erwischt, sämtliche Passagiere inklusive Mannschaft und Kapitän waren vergiftet worden, es hatten nur 16 Personen überlebt.

Nur mit Mühe konnten sie einen Hafen anlaufen, um sich dann in Quarantäne wiederzufinden. Zunächst wurde Vogelgrippe vermutet oder eine andere Viruserkrankung. Aber dann stellte sich heraus, dass das Fleisch von genmanipulierten Rindern die Ursache war.

Der Skandal offenbarte, dass weltweit bereits mehrere tausend Menschen an genau diesem veränderten Rindfleisch draufgegangen waren. Es entwickelte sich eine Art gallopierender Creutzfeld-Jakob-Variante. Die 16 überlebenden Personen auf dem Dampfer aßen allesamt kein Rindfleisch. Das hatte sie gerettet.

Und wir? Unsere Organisation? Uns wurden nach dem Aufdecken dieses Skandals sämtliche Gelder gestrichen.

Diese Rumstänkerei müsse aufhören, haben die Leute gesagt. Wir würden dieses ganze Unglück doch geradezu herbeireden. Wenn wir endlich aufhören würden immer die ganzen Missstände zu erfinden, dann wäre die Welt wieder in Ordnung. Alle wären glücklich. Und die Zukunft könne sowieso keiner aufhalten.

Wir sollten lieber lernen, positiv zu denken, das würde allen helfen.

7. Juli – Gertrud backt Pfannkuchen

„Verdammt nochmal!“ Gertrud schleuderte den verbrannten Pfannkuchen wütend in den Mülleimer. „Das gibt es doch nicht!“ Das war schon der dritte Pfannkuchen, der ihr verbrannte.

Beim ersten hatte es an der Tür geläutet. Der Postbote hatte ein Paket für den Nachbarn gebracht, der nie aufmachte. Das legte Gertrud dem Nachbarn noch schnell vor die Wohnungstür und als sie zurückkam, da qualmte es schon über dem Herd. Schnell zog sie die Pfanne von der Platte und riss das Fenster auf.

Das war der erste Pfannkuchen, der in den Mülleimer wanderte. Sie wischte die Pfanne aus, gab frisches Öl hinein und stellte sie wieder auf die heiße Platte. Pfannkuchenteig hinein. Diesmal würde sie aufpassen. Aber ihr Telefon läutete, Max war dran, sie erzählte ihm das Malheur mit dem Pfannkuchen. Plötzlich schlug sie sich an die Stirn, der zweite Pfannkuchen, sie hatte ihn vergessen und jetzt roch es schon wieder merkwürdig. Schnell rannte sie in die Küche und nahm die Pfanne vom Herd. Zwar qualmte der Pfannkuchen noch nicht, aber er war trotzdem völlig schwarz geworden. Also ab damit in den Müll.

Aber beim nächsten würde alles gut gehen. Gleichgültig, ob es klingelte, läutete, das Haus einstürzte. Sie würde neben dem Herd stehen bleiben und diesmal würde der Pfannkuchen genau richtig werden, auf jeder Seite zartgebräunt und innen goldgelb. Dann würde sie leckeren Ahornsirup darübergießen und ihn direkt aus der Pfanne essen. Mmh. Ihr lief schon das Wasser im Mund zusammen. Hatte sie denn überhaupt noch Ahornsirup? Sie schielte kurz zum Pfannkuchen. Der brauchte noch eine Weile.

Also lief sie schnell zur Vorratskammer und schaute nach dem Sirup. Da war ja gar keiner mehr. Schade. Aber sie hatte noch Honig. Oder was war das dort hinten? Sie räumte gerade ein paar Gläser ohne Beschriftung aus der hinteren Reihe nach vorn, da roch sie es. Angebrannt! Unverkennbar! Schon wieder! Auch der dritte Pfannkuchen gesellte sich zu den beiden anderen im Mülleimer.

Und noch einmal von vorn. Das war ihr letzter Rest Teig. Diesmal konnte sie sich keinen Fehler mehr leisten. Diesmal musste Gertrud unbedingt ihre ganze Aufmerksamkeit dem Gelingen des Pfannkuchens widmen. Sie stellte sich neben den Herd, als das Fett in der Pfanne genau die richtige Temperatur erreicht hatte, gab sie den letzten Pfannkuchenteig in die Pfanne. Sie dachte an Dosenobst und verbot es sich. Es klingelte an der Tür. Sie überhörte es. Eisern behielt sie den Pfannkuchen im Blick. Sie wendete ihn genau im richtigen Moment. Dann zog sie die Pfanne von der Platte, schaltete diese aus und stellte sich einen Teller auf den Tisch, Besteck daneben.

Dieser Pfannkuchen hatte einen gedeckten Tisch verdient. Sie gab den Pfannkuchen auf den Teller. Dann fiel ihr ein, dass der Ahornsirup im Kühlschrank stand, und holte ihn herbei. Dann gab sie genau die richtige Menge Ahornsirup über den Pfannkuchen, nahm die Gabel und teilte einen Bissen ab. Innen war der Pfannkuchen goldgelb und locker. Es dampfte leicht. Mit vollem Genuss steckte sie das erste Stück in den Mund, kaute, erstarrte und spuckte aus.

„Verdammt nochmal!“ Sie hatte Zucker mit Salz verwechselt und der Pfannkuchen war total versalzen. Voller Bedauern ließ Gertrud auch dieses Prachtstück in den Mülleimer wandern. Dann holte sie tief Luft. Was blieb ihr anderes übrig? Sie holte die Eier aus dem Kühlschrank, das Mehl aus dem Schrank. Dann eben wieder von vorn.

6. Juli – Häuptling Leuchtender Schuh

Eines Tages kam Leuchtender Schuh, der Häuptling der Mohawks, von einer anstrengenden Sitzung im Aufsichtsrat des Casinos nach Hause. Da stellte er fest, dass seine Frau Ausgemergelte Feder, ihre Koffer gepackt und ihn verlassen hatte.

„Na sowas!“, wunderte sich Leuchtender Schuh und checkte seinen Blackberry, der wegen der Konferenz noch auf stumm geschaltet war. Dort fand er eine Nachricht vor und die lautete folgendermaßen:

Lieber Leuchtender Schuh!

Es tut mir sehr leid, aber ich habe einen anderen kennengelernt und ziehe zu ihm. Ich hoffe, du findest bald eine neue Frau und wirst glücklich.

Bye-bye Deine Ausgemergelte Feder.

Aber Leuchtender Schuh hatte gar keine Lust eine neue Frau zu suchen. Das war ihm viel zu anstrengend. Erst das Kennenlernen. Da musste er wieder seine beste Seite hervorkehren und die Dame tat das gleiche. Dann stellten beide fest, dass seine beste Seite und die beste Seite der Frau prima zusammenpassten.

Als Nächstes kam der Liebestaumel, keiner konnte mehr ohne den anderen leben, große Sehnsucht bei nur fünfminütiger Trennung. Anschließend zusammenziehen, womöglich heiraten – nach der Scheidung versteht sich – und schon kam der Alltag und die schlechten Seiten von beiden kehrten sich hervor.

Und dann war es doch ohnehin vorbei mit dem Glück. Warum also sich immer wieder aufs Neue anstrengen, nur um die schlechten Seiten einer Frau kennenzulernen? Und noch schlimmer die eigenen schlechten Seiten vorgehalten zu bekommen?

Nein, nein. Da ging Leuchtender Schuh lieber ein paar Mal öfter die Woche mit seinen Freunden Golf spielen.

5. Juli – Ein kleiner Tierfreund

Es war einmal ein kleiner Tierfreund, der brachte jeden Tag irgendein verirrtes oder verletztes Tier mit nach Hause. Einmal war es ein Hund, dann ein Kaninchen, dann eine Brieftaube, manchmal auch nur eine arme Spinne, der ihr Netz zerrissen war oder ein Eichhörnchen, das sich den Knöchel verstaucht hatte.

Die Eltern des Jungen waren verzweifelt. Sie konnten ihm das einfach nicht austreiben. Sie hatten alles versucht. Sie hatten ihm verboten Tiere mitzubringen. Der Junge hatte es ignoriert. Sie hatte ihn angefleht. Aber der Junge hatte auf das Leid der Tiere hingewiesen. Das sei doch weitaus größer als das ihre.

Schließlich versuchten die Eltern, die Tiere heimlich fortzuschaffen, aber es nützte nichts, der Junge brachte sie am nächsten Tag einfach wieder mit oder sie kamen von selbst wieder. Es wäre ja vielleicht noch gegangen, wenn der Junge die Tiere nur in seinem Zimmer gehalten hätte.

Aber sie sprangen in der ganzen Wohnung herum. Die mitgebrachten Spinnen webten riesige Spinnennetze, erst in den Zimmerecken, dann aber auch über den Tür- und Fensteröffnungen. Und natürlich durfte niemand die Netze zerstören. Das hätte ja die Spinnen traurig gemacht. Die Hunde wohnten im Parterre, die Katzen unter dem Dach dort konnten sie über einen Ast, der fast bis zum Dachfenster reichte, ein und aus gehen wie sie wollten.

Die Eichhörnchen, Mäuse und sonstigen Kleintiere wohnten im ersten Stock. Im Keller tummelten sich noch zahlreiche andere Tiere. Für die Vögel hatte der Junge im Garten Volieren gebaut. Natürlich konnten sie von dort ausfliegen, wie sie lustig waren. Denn er zwang kein einziges Tier bei ihm zu bleiben, sie blieben alle freiwillig und lebten sogar einigermaßen einträchtig untereinander, nur um dem Jungen einen Gefallen zu tun.

Nur die Eltern, die hielten es irgendwann nicht mehr aus und suchten sich eine Wohnung weit, weit fort von dieser Menagerie. Und wenn sie nicht gestorben sind, ärgern sie sich heute noch.

4. Juli – Berenica Cruz

Berenica Cruz war eine wunderschöne Frau, glutäugig, schwarzhaarig, volle Lippen, üppige Figur. Wenn sie sich von Weitem näherte, verkörperte sie ganz und gar das Ideal einer schönen Spanierin, die sie schließlich auch war. Nur aus der Nähe verlor sie plötzlich und unerwartet. Das lag an Details.

Berenica gab einem die Hand so nachlässig und lasch, dass sie wie ein toter Fisch schnell losgelassen werden musste. Auch ihre Sprache ließ das Temperament vermissen, dass ihr Aussehen versprach. Ihre Stimme war sehr leise und hoch. Und auch ihr Lachen schallte nicht durch den Raum, sondern war nur ein glucksendes Kichern hinter vorgehaltener Hand. Überhaupt war Berenica sehr schüchtern und froh, wenn sie nicht angesprochen wurde. Aber genau das geschah natürlich unentwegt.

Vor allem Männer sprachen sie an, wollten sie einladen auf einen Kaffee, auf einen Wein, zum Frühstück. Sie hatte sich schon alle erdenklichen schönen, romantischen, plumpen oder langweiligen Anmachsprüche anhören müssen. Aber kaum hörten die Männer sie höflich ablehnen, fühlten, wie sie ihnen die Hand reichte, oder erlebten ihr glucksendes Kichern, erlosch ihr Interesse auf merkwürdige Weise.

So kam es, dass Berenica zu den Frauen gehörte, denen immer gesagt wurde: „Warum eine Frau wie du noch keinen Mann abgekriegt hast, ist mir unverständlich“. Und irgendwann hatte es Berenica satt. Eigentlich wollte sie nicht unbedingt einen Mann kennenlernen. Warum das so wichtig sein sollte, war ihr ohnehin rätselhaft. Aber sie wollte unbedingt zu sich selbst passen. Entweder also musste die glutäugige Spanierin dran glauben oder sie musste die Schüchternheit, den laschen Händedruck, das alberne Kichern und die piepsige Stimme ablegen. Die Schwierigkeit bestand darin, zu entscheiden, wer sie denn nun eigentlich war. Also ging Berenica zu einer Hexe, einer Wahrsagerin. Eine Freundin hatte sie ihr empfohlen.

Die Frau war alt und weißhaarig. Als Berenica in ihre Stube trat, paffte die Alte gerade an einer dicken Zigarre. Auf dem Tisch vor ihr stand noch eine Untertasse mit Kaffeesatz, von der letzten Kundin übriggeblieben. Ein Stapel Tarotkarten lag vor einem kristallenen Aschenbecher, der mit dicken Zigarrenstumpen bis zum Rand gefüllt war. Zweihundert Euro verlangte die Wahrsagerin. Und obwohl ihr dieser Betrag viel zu hoch erschien, zog Berenica die Scheine mit zitternden Fingern aus ihrem Portemonnaie und schob sie über den Tisch der Alten zu. Die zählte noch einmal nach und schob das Geld in ihre Rocktasche. Dann hieß sie Berenica, sich hinzusetzten, nahm selbst Platz. Gab Berenica die Karten zum Mischen.

„Mit der Herzhand! Konzentrier dich auf Deine Frage“, befahl sie knapp.

Berenica wechselte die Karten in die linke Hand. Schließlich legte sie den gemischten Stapel wieder zurück auf den Tisch. Die Wahrsagerin nahm sie und deckte die erste Karte auf und legte sie auf den Tisch. Sie zeigte den Teufel. Dann folgte als zweite Karte der Gehängte, als dritte das Gericht. Die Wahrsagerin paffte an ihrer Zigarre und sagte lange Zeit nichts.

Berenica wurde es unbehaglich zumute. Sie räusperte sich. Aber immer noch schwieg die Wahrsagerin. Berenica rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. Besonders gut sah das doch nicht aus. Warum sagte die Wahrsagerin denn nichts? Schließlich drückte die Alte den Stumpen im Aschenbecher aus, seufzte noch einmal behaglich.

„Armes Kind“, sagte sie dann, „in der Vergangenheit warst du gefangen in einem schönen Leib mit einer ängstlichen Seele ohne Selbstvertrauen und Selbstliebe. Nun beginnst du einen Prozeß der Loslösung. Die Widersprüche werden unwichtig. Das ist schmerzhaft aber gut. Denn in Zukunft wirst du dein Leiden überwinden und ein völlig neuer Mensch sein.“

Berenica war sprachlos, ihr stand der Mund offen. Endlich fasste sie sich und sagte: „Und das war’s? Ich meine, das war alles, was sie mir für 200 Euro zu sagen haben? Da kann ja meine Mutter besser wahrsagen!“

Die Alte lehnte sich zurück und strahlte Berenica an. „Die Zukunft hat bereits begonnen“.

„Unverschämtheit!“, brüllte Berenica und pfefferte den Aschenbecher an die Wand. Sie sprang auf und drohte der Alten mit dem Finger: „Sie hören von mir!“

Dann rauschte sie auf die Straße und eilte zur nächsten Bushaltestelle. Kaum hatte sie dort 30 Sekunden gewartet, sprach sie ein Mann an: „Ihre Augen glitzern wie die hellsten Sterne, Signorina, bitte gehen sie mit mir einen Kaffee trinken“. Berenica holte aus und gab dem Kerl eine Backpfeife.

Nun funkelten ihre Augen wirklich wie Sterne. Und obwohl ihre Hand schmerzte, begann sie zu lächeln. Was war nur mit ihr geschehen, sie kannte sich selbst kaum wieder. Berenica hatte zwar keine Ahnung, was diese Wahrsagerin mit ihr gemacht hatte, aber wenn sie wirklich diese Veränderung bewirkt hatte, dann hätte sie 2000 Euro verdient.

1. Juli – Heute nur die Wahrheit

„Wird aber Zeit, dass du kommst! Ich warte schon fast ne halbe Stunde!“, rufe ich schlechtgelaunt, als die Geschichte des Tages nach Atem ringend und schweißgebadet um die Ecke kommt.

„Ging nicht eher. Du glaubst nicht, was mir passiert ist!“, ruft sie.
Skeptisch ziehe ich die Augenbrauen hoch, dass meine Stirn Falten wirft. Was kommt jetzt wohl wieder für eine Ausrede. Ich kenne das ja schon.

„Die Muse kam zu spät und wollte mich nicht küssen“, oder: „Der Bus war schon weg“, oder, am tollsten: „Meine Oma war zu Besuch. Konnte die alte Dame ja schlecht rauswerfen“. Ich wette, dass diese Geschichten gar keine Großeltern haben! Fast immer aber höre ich den Klassiker: „Ich hab’ verschlafen“.

Das ist nämlich ein ganz schön faules Gesindel, diese Erzählungen und Kurzgeschichten. Gedichte sollen noch schlimmer sein. Die sitzen oft in der Ecke und weinen. Dann kommen die gar nicht, gleichgültig wie sehr so eine arme Autorin wie ich dann bittelt und bettelt.

„Nun?“, sage ich, weil die Geschichte immer noch pustend und nach Atem ringend vor mir steht.

„Ich bin ausgeraubt worden!“, stößt sie hervor.

„Ach was!“, sage ich und werde langsam sauer. „Mit anderen Worten, es ist nichts da. Nur leere Seiten. Überhaupt nichts dran an dir, liebe Geschichte. Kommst extra angerannt und dann, kein Held, kein Konflikt, keine Erlösung, noch nicht einmal ein Apfelbaum mit wurmstichigen Äpfeln. Nichts. Kommst einfach so blanko, eine halbe Stunde zu spät. Und alles, was ich zu hören bekomme, ist: ‚Ich bin ausgeraubt worden’?“

Die Geschichte läuft knallrot an. „Aber ehrlich, ganz wirklich“, stammelt sie, „Da kam plötzlich so ein maskierter Kerl, zwei Meter groß, schwarzhaarig und mit einer Pistole! Der rief: ‚Buchstaben her oder ich knall dich ab’. Was hättest du denn da gemacht?“

„Das soll ich dir glauben? Für eine Geschichte ist das aber eine ziemlich dünne Vorstellung. Etwas mehr Phantasie hätte ich schon von dir erwartet“.

Wir stehen einander gegenüber und schauen uns in die Augen. Die Geschichte senkt zuerst den Blick und sagt:„Nun ja, ist ja auch egal. Es sind jedenfalls keine Buchstaben da, also auch keine Geschichte für heute. Und ich muss jetzt auch ganz schnell weg, meine Oma wollte noch vorbeikommen!“

Schon dreht sich die Geschichte um und rennt davon. Nur ein paar übriggebliebene Satzzeichen fliegen noch durch die Luft und sinken langsam zu Boden.

Was bleibt mir also anderes, als Euch heute diese völlig wahre Begebenheit zu berichten?

30. Juni – Der Schlüssel

Es war einmal ein armes Mädchen, das hatte keine Eltern mehr, keine Geschwister und kein Zuhause. Es besaß nicht mehr als die Kleider auf dem Leibe und einen großen, metallenen Schlüssel. Aber niemand wusste, an welches Schloss er passte, auch das Mädchen nicht. Das Mädchen wusste nur, dass es unbedingt das Schloss finden musste.

Also ging es tagein tagaus durch Dörfer und Städte, durch Wälder und Felder, über Berge und durch Flüsse. Überall, wo das Mädchen ein Schloss fand, probierte es den Schlüssel. Aber nirgendwo passte er. Nachdem es schließlich ein Jahr und ein halbes so gegangen war, setzte es sich erschöpft nieder auf einen Stein am Wegesrand und überlegte, was es weiter tun sollte. Seine Kleider waren inzwischen zerschlissen, die Schuhsohlen waren durchlöchert und hungrig war das Mädchen auch ständig, denn es ernährte sich nur von den milden Gaben der Menschen und den Beeren und Früchten am Wegesrand.

Vielleicht sollte es lieber aufgeben. Den Schlüssel einfach wegwerfen. Wie viel Millionen Schlösser gab es auf der Welt, in die dieser Schlüssel vielleicht passen mochte? Wie lange sollte es dauern diese alle zu erreichen? Und vielleicht verbarg sich hinter der Tür, in der Truhe oder wo der Schlüssel sonst Einlass bieten mochte, etwas völlig Nutzloses oder Gefährliches.

Da kam ein altes Weiblein mit einem großen Bündel Reisig auf dem Rücken den Weg entlang. Die Alte trug so schwer an dem Bündel, dass sie dem Mädchen leidtat. Also bot es an, das Bündel für sie nach Hause zu tragen. Die Frau bedankte sich, lud flugs dem Mädchen das schwere Bündel auf und ging in so schnellem Tempo voran, dass das Mädchen sich sputen musste, um sie einzuholen.

Die Alte führte das Mädchen in den dunklen Wald, der schmale Pfad war im Dickicht kaum sichtbar. Und das Mädchen, schwer gebeugt unter der Last, stolperte häufig über Wurzeln und Äste. Nach einer Weile aber teilte sich der Wald und auf einer großen Lichtung mitten im Wald stand ein großes herrschaftliches Haus mit einem Turm an der linken Seite.

Als das Mädchen diesen Turm sah, durchfuhr sie plötzlich ein Schauer. Eine große Tür mit einem großen Türschloss blickte sie an. Es war, als zuckte der Schlüssel in ihrer Tasche, weil er nun endlich das Schloss gefunden hatte, zu dem er passte. Eilig warf das Mädchen das Bündel nieder, wo die Alte hindeutete. Dann entschuldigte es sich kurz und eilte zum Turm.

Mit zitternden Fingern zog das Mädchen den Schlüssel hervor. Vorsichtig näherte es den Schlüssel dem Schloss. Er passte. Mit einem satten Ton ließ er sich drehen. Das Mädchen hörte ein Klacken. Voller Ehrfurcht drückte sie die Klinke hinunter und die Tür schwang auf.
In dem Turm erwartete sie ein behagliches Wohnzimmer, der Kamin brannte, eine Kanne mit dampfendem Tee stand auf dem Tisch und der gute Duft von frisch geröstetem Toastbrot drang dem Mädchen in die Nase.

Zögernd trat das Mädchen ein. Sie wagte kaum, etwas zu berühren. Voller Ehrfurcht betrachtete sie die hohen Bücherregale an den Wänden, die Gemälde, Teppiche, Möbel und Lampen. Linker Hand führte eine Treppe in das nächste Stockwerk. Dort gab es eine Küche. Auch dort war alles ordentlich und frisch, als hätte gerade jemand den Raum verlassen.
Also stieg das Mädchen noch eine Etage höher. Dort fand sie das Schlafzimmer. Ein großes Bett mit Baldachin, eine schwere Truhe mit Kleidung. Die schienen alle die Größe des Mädchens zu haben. Verwirrt schaute sich das Mädchen um. Plötzlich stand die alte Frau im Zimmer.

„Wem gehört das hier alles?“, fragte das Mädchen.

„Dir. natürlich“, sagte die Alte. „Du hast den Schlüssel“.

„Aber“, stammelte das Mädchen.

Da schüttelte die Alte den Kopf. „Weißt du denn nicht, dass alles für dich bereitet ist und nur auf dich wartet? Wo warst du solange?“

„Ich wusste doch nicht, wo der Schlüssel passt. Ich habe gesucht.“

Da schüttelte die Alte noch einmal den Kopf. „Na, jetzt bist du ja da!“

29. Juni – Die freie Wahl im Angesicht des nahenden Todes

Wie viel Freiheit bleibt im Angesicht des nahenden Todes?

Im Namen der Menschlichkeit deines freien Willens beraubt. Deine Sinne sind ja benebelt. Du kannst nicht mehr klar denken. Zerfressen von Schmerzen. Durchwuchert von Krankheit. Deine in jahrzehntelanger Kleinarbeit erworbene Autonomie plötzlich in Chemie aufgelöst, in punktgenauer Strahlung atomisiert.

Ja, Angst, Angst so groß, so unglaublich groß und mächtig, aufgebauscht und ausgebreitet vor dir, über dir, in dir, tief eingefressen.

Sag ja zu deiner Entmündigung. Apparate und Werte und Statistiken wissen, was gut und richtig für dich ist. Dort etwas hinausschneiden, hier etwas hineinstopfen. Noch dankbar sein. Was dann?

Einfach abhauen in einer stillen Nacht. Lieber das Leben aufs Spiel setzen als immer, immer, immer zu hängen an dem, was alle anscheinend so wichtig nehmen.
Das Dasein!

Geht es nicht auch um das Wie? Zählt das nicht auch? Wer hat das Recht, meine Entscheidungen zu treffen? Warum diese Anmaßung?

Je besser die Menschen umso astronomischer die Zahl ihrer Übergriffe.

„Ach“, sagen sie dann, „wir haben es doch so gut gemeint, aber du, du wolltest ja nie hören. Du wolltest ja nie, niemals tun, was wir dir sagen, was wir dir nachtragen, was wir doch soviel besser wussten und wissen und wissen werden immerdar. Amen.“

Aber ich sage: „Lasst mir mein Leben, lasst mir meine Entscheidungen! Für mich hört die freie Wahl nicht auf, weil mir einer den Nachttopf unter den Hintern schiebt.“

Redet Ihr, fragt Ihr jemals, Ihr guten Menschen, wie es den Geschöpfen geht, denen Ihr unaufhörlich und ungefragt Gutes tut?

Oder rettet Ihr blind und selbstsüchtig die Welt, die Natur, die arme Kreatur, den Regenwald, das Klima, den bedauernswerten Kranken, damit Ihr Euch wertvoll fühlt?

28. Juni – Die Ruhe vor dem Sturm

Martina hatte die Ruhe vor dem Sturm schon häufig kennengelernt. Wenn sich alles zusammenballte, die Luft elektrisch aufgeladen, der Himmel grau und bleiern, die Kleidung am Leib klebte. Dann senkte sie sich nieder, die Ruhe.

Kurz bevor ein schwaches Lüftchen zaghaft den tosenden Sturm ankündigte, war es einen Augenblick still. Die Welt hielt den Atem an. Die Vögel schwiegen. Die Hasen streckten die Löffel. Sogar die Ameisen hörten auf zu krabbeln.

Und dann ganz leise, das Wehen, das Rauschen in den Bäumen, der anwachsende Wind. Peitscht das Gras. Beugt die hohe Birke an der Weggabelung. Wasser stürzt aus dem Himmel. Die Urgewalt – so wild und schön. Befreiung! Lachen! Die Arme heben und tanzen! Freudenschreie verschluckt vom Tosen des Sturms, vom Klatschen der Wassertropfen auf Stein.

Natürlich Furcht! Ein Baum kann stürzen, ein Dachziegel fallen, der Blitz treffen. Trotzdem – Tollkühnheit und Glück mitten im Sturm.

Aber heute, da zögerte Martina. Die Angst vor diesem Sturm war groß. Sie konnte doch nicht allen den lang ersehnten Tag verderben. Und war die Ruhe, die Ruhe vor dem Sturm nicht köstlich auf ihre Art? Ja, das war sie. Sie sah ihn kommen – unausweichlich. Aber vielleicht konnte er warten, ein bisschen, nur noch bis übermorgen, der Sturm.

Und danach? Oh je, es wird nichts mehr sein, wie es einmal war.

Hoffentlich ist danach nichts mehr, wie es einmal war.

27. Juni – Nachmittag bei Daphne

Daphne strich sich das Haar zurück. Wie hingeworfen lag sie auf der Ottomane, ein fliederfarbenes Kleid floss um ihren Leib. Üppig wogten ihre Brüste, als sie das Champagnerglas vom Beistelltisch aufnahm.

Mit einem tiefen Zug genoss sie das perlende Gesöff. Ein wohliger Seufzer entfuhr ihr. Daphne liebte ihren freien Nachmittag. Natürlich, sie war privilegiert. Nicht jede konnte sich so einen freien Nachmittag leisten und noch weniger hatten den Genuss, dazu ihre Freundinnen einzuladen. Als erste kam Monika.

„Liebes“, brüllte sie bereits von der Tür aus. Daphne richtete sich halb auf.
„Lass doch, lass. Ich komme zu Dir!“

Die beiden Freundinnen tauschten Küsschen auf die Wange.

„Auch ein Gläschen?“ Monika nickte voller Begeisterung und nahm eine Schale entgegen. Einen Augenblick genossen die Damen das prickelnde Vergnügen. Schon standen Anna und Barbara im Raum.

„Hallo! Hallo!“

„Ach, wie schön“ Küsschen, Küsschen, Schmatz, Schmatz.

Als auch die hinzugekommenen Damen mit Alkohol versorgt waren, konnte es endlich losgehen. Das Ratschen. Über die Männer herziehen.

„Was macht denn deiner gerade?“

„Ach ja, ist der Aufsichtsratsvorsitzende von so einem DAX-Unternehmen. Bildet sich ordentlich was drauf ein.“

Die Damen lachen.

„Einfach putzig diese Kerle. Nehmen sich wegen so einem unwichtigen Kram wichtig. Es geht doch da nur um bedruckte Scheinchen. Nein, schlimmer, nur codierte Zahlen aus ordentlich vielen Nullen und Einsen.“

„Meiner hat endlich seine mütterliche Seite entdeckt!“

„Ach wie schön!“, rufen die übrigen Damen.

„Ja, er kümmert sich heute um die Kinder. Aber ich fürchte, es liegt nur an der neuen Modelleisenbahn.“

Wieder lachen die Damen.

„Meiner ist heute ins Kloster abgereist. Schweigeseminar!“

„Och!“, rufen die Damen.

„Meinst du, er hat eine Chance?“

„Er weiß aber, dass nur Frauen Erleuchtung erreichen können.“

„Vielleicht schafft er es ja im nächsten Leben!“

Seid doch nicht so chauvinistisch!“

„Wieso? Mit Männern ist eben nichts anzufangen. Die wissen einfach nicht, worum es im Leben geht.“

„Um was? Um Champagner?“

„Sei doch nicht so albern!“

„Ja, ja, ich weiß, es geht um…“, alle Damen im Chor „…Liebe! LIEBE!“

25. Juni – Schweigen rettet Ehe

Heute habe ich in der Zeitung gelesen: Italienisches Ehepaar gesteht: Seit 48 Jahren kein Wort miteinander gesprochen!

Sofort fragte ich mich, wie soll das möglich sein? Aber dann wurde mir klar, Eheleute benötigen lediglich einen ganzen Stall voller Bambini. Und die beiden hatten verbriefte sieben Nachkommen und noch zahlreichere Enkelkinder. Denen wird erzählt, was der Partner hören soll. Ein direktes Gespräch ist überhaupt nicht notwendig.

Es wirkt beim ersten Lesen barbarisch, ist aber wahrscheinlich eine sehr wirksame Möglichkeit mit seinem ärgsten Feind in Harmonie zu leben. Natürlich bis zu dem Augenblick, wo einer der beiden Ehepartner durchdreht und den anderen mit der Axt erschlägt. Oder bis zu dem Moment, wo einer unbedingt reden muss. Es einfach nicht mehr aushält und die direkte Rede nach Jahrzehnten wieder an den Partner richtet.

„Alle haben uns für ein glückliches Paar gehalten!“, wurde die Ehefrau zitiert. Das sagte sie natürlich dem Reporter.

Und der Ehemann ergänzte: „Nicht miteinander zu reden, hat unsere Ehe gerettet.“

Oh je, was für eine Nachricht! Was sollen die Heerscharen von Eheberatern und Paartherapeuten nun tun. Nehmt Eure Diplome von der Wand! Reden ist out. Völlig überflüssig. Wer nicht redet, streitet nicht. Wer nicht miteinander spricht, rettet die abendländische Kultur, zumindest die Familienkultur.

Nur eine Frage wurde wirklich nicht geklärt, wie macht man die vielen Bambinis, wenn man nicht miteinander redet? Das ist doch wirklich fremdartig, oder?

So ein Blödsinn, werdet Ihr sagen, das ist doch erfunden!

Stimmt! Wahrscheinlich sogar von mir.