10. August – Der Leguan

Es war einmal ein Leguan, der lebte in einem wunderschönen Terrarium. Jeden Tag schaltete sich zur gleichen Zeit automatisch das Licht ein, damit der Leguan sich sonnen konnte. Wie durch Zauberhand erschienen genau im Moment, als er Hunger bekam, ein paar leckere Heuschrecken, die er behaglich verspeiste. Er fand ein Blätterdach, um sich in den Schatten zu setzen, er hatte Sand, um darauf herumzulaufen, er hatte Äste, über die er balancieren konnte und er hatte eine schöne kleine Wasserstelle, an der er sich laben konnte. Alles war wunderbar und in schönster Ordnung.

Nur eines erschien dem Leguan merkwürdig. Immer wenn er versuchte, einen langen Spaziergang zu machen, stieß er plötzlich an eine Barriere. Er kam nicht weiter, er verstand auch nicht genau, was sich hinter dieser Barriere befand. Es sah anders aus als in seiner Welt voller Sand. Er konnte sich aber keinen Reim darauf machen, was er dort sah. Die Barriere selbst war unsichtbar und undurchdringlich. Einmal war es ihm sogar gelungen, diese unsichtbare Barriere hinaufzuklettern. Aber dann wurde ihm das unheimlich. Woran hielt er sich denn bloß fest? Worauf lief er? Der Luft?

Also ließ er sich wieder zurück auf sicheren Boden gleiten und beschloss einfach nicht mehr an diese Barriere zu denken. Er ignorierte sie einfach. Schließlich hatte er festgestellt, dass die Heuschrecken, der Sand, das Wasser und die Äste und Blätter das auch taten. Sie ignorierten die Barriere und sie hatten keine Möglichkeit, durch sie hindurch zu kommen.

Zwar wunderte sich der Leguan ab und zu über Erscheinungen. Manchmal verschoben sich die Äste auf unerklärliche Weise. Auch die Heuschrecken erschienen ja seit eh und je wie von Geisterhand. Aber die Hauptsache war, dass sie nicht durch die Barriere kamen, wenn sie einmal bei ihm waren. Ab und zu nagte die Neugier an ihm. Aber der Leguan dachte dann sofort an das unangenehme Gefühl, auf nichts zu laufen. Es war besser, er hielte sich an das, was er verstehen konnte. Sicher ist sicher.

9. August – Spaß

„Das macht mir aber keinen Spaß! Das mache ich nicht!“

„Spaß! Wenn du älter wirst, merkst du dann schon, dass es im Leben nicht immer nur nach dem Spaß geht!“

„Und warum?“

„Weil du schließlich von irgendetwas leben musst.“

„Ach und Geld verdienen darf keinen Spaß machen? Ich muss also unbedingt etwas tun, dass ich langweilig und blöd und sinnlos finde, sonst gibt mir keiner Geld dafür?“

„Genau! Oder meinst du es macht Leuten Spaß Autos zu reparieren oder die Steuererklärung zu machen?“

„Warum denn nicht? In der Schule gibt es doch massenweise Leute, die an Mathe Spaß haben oder am Werken.“

„Aber Kind, du hast die Vorstellung, dass es im späteren Leben immer so weiter geht. Sogar die Sachen, die dir Spaß machen, haben langweilige Seiten. Wenn du malst, musst du nachher die Pinsel auswaschen. Macht dir das etwa Spaß?“

„Mmh. Also nicht direkt Spaß. Aber ich mache es doch gerne, damit ich den Pinsel möglichst lange benutzen kann. Denn es macht mir Freude wie gut ich mit ihm malen kann.“

„Okay, aber was ist damit: essen macht dir Spaß, aber das Abwaschen hasst du. Spielen macht dir Spaß, aber hinterher aufräumen nicht.“

„Also für den Abwasch haben wir deshalb ja eine Maschine, weil es keinem von uns Spaß macht. Und mit dem Aufräumen ist das so: Wenn ich selber finde, es soll ordentlich sein, dann macht mir das Aufräumen nichts aus. Das ist dann fast schon wieder Spaß.“

„Ach, Kind, komm erst einmal in mein Alter, dann wirst du das genauso sehen wie ich.“

8. August – Kommunikation

„Was ist denn los?“

„Was?“

Olivia hebt den Kopf von ihrem Buch hoch und schaut verständnislos.

„Was mit dir los ist?“

„Nichts, warum?“

„Weil ich dir schon das dritte Mal eine Frage stelle und du mich überhaupt nicht hörst“.

„Mmmh“. Olivia richtet ihren Blick sehnsuchtsvoll auf das Buch in ihrer Hand. Sie hat den Zeigefinger zwischen die Seiten geklemmt.

„Was hast du denn gefragt?“

„Ich finde das ziemlich verletzend, wenn du mir so gar nicht zuhörst.“

Olivia seufzt. Sie reckt die Hand mit dem Buch in die Höhe.

„Ich lese gerade“, sagt sie.

„Trotzdem kannst du mir zuhören“.

„Du weißt genau, dass ich beim Lesen total versinke.“

„Kein Mensch kann so versinken. Du ignorierst mich mit Absicht“.

„Ich konzentriere mich nur auf mein Buch!“ Olivias Stimme klingt genervt.

„Du liebst mich nicht genug“.

„Was soll denn das jetzt?“

„Das verletzt mich eben“.

„Hör mal, ich habe nur in meinem Buch gelesen und dich einfach nicht gehört. Das hat überhaupt nichts mit dir zu tun.“

Olivia legt das Buch zur Seite.

„Und was hast du mich nun gefragt?“

„Wie dir das Buch gefällt?“

7. August – Eine kleine Nadel

Es war einmal eine kleine Nadel. Die hatte ihr Öhr verloren. Sie fühlte sich seither furchtbar unnütz und weinte sehr häufig.

Immer blieb sie im Nadelkissen. Nie mehr hielten sie sanfte Finger mit festem Griff. Nie mehr durfte sie durch Knopflöcher tauchen. Nie mehr sah sie die Welt im Fenster vorbeiblitzen, wenn sie durch Luft und Stoff hinauf- und hinabsauste. Manchmal kam sie kaum durch die dicken Stofflagen, bog sich fast bis zum Brechen, bis der Fingerhut sie mit metallener Entschlossenheit drängte. Aber schließlich schoss sie immer hindurch, folgte immer brav ihrer Aufgabe.

Und dann eines Tages war ihr das Öhr abhandengekommen. Einfach fort. Unwiederbringlich. Seither steckte sie nutzlos im Nadelkissen. Gerade so geduldet. Immerhin war sie nicht im Eimer beim Müll gelandet. Sehr traurig war die Nadel. Fühlte doch, dass sie spitz war wie eh und je. Es fehlte ihr nur das Öhr zum Glück.

6. August – Und der Sinn?

Du willst wissen, was der Sinn des Lebens ist? Ich sag es dir.

Eine Katze streicheln.

Deinen Liebsten küssen bei Mondenschein.

Erdbeeren mit Schlagsahne essen.

Einen angefahrenen Iltis wieder gesund pflegen.

Jemanden trösten, dessen Mutter gestorben ist.

Eine Geburt feiern.

Kindern erklären, warum der Himmel blau ist.

Niemals aufzuhören, warum zu fragen.

Wäsche waschen und Rasen pflegen.

Kirschen, Pflaumen, Äpfel vom Baum pflücken.

Staunen wie schön die Blumen am Feldrand blühen.

Jemandem zum Weinen bringen.

Einen anderen zum Lachen bringen.

Lernen, lernen, lernen.

Lieben, lieben, lieben.

Pflanzen, ernten, bauen, einreißen, große Sprünge machen, kleine Schritte trippeln, sich ausruhen und singen.

Und all die anderen tausend Gründe dafür, dass das Leben einen Sinn hat, schreibst du einfach selbst dazu.

Warum soll ich dir die ganze Arbeit abnehmen?

5. August – Wilhelm ist blockiert

„Himmelherrgottsakra! Kannst du mich nicht eine Minute in Ruhe lassen?“
„Ich wollte doch nur ganz kurz…“

„Raus, hier, raus, ich brauche meine Ruhe“.

Leise schließt Margarete die Tür und Wilhelm atmet auf.

So, jetzt kann es endlich losgehen. Der erste Satz. Kann ja so schwer nicht sein, ein Meisterwerk zu beginnen.

Zu seiner Rechten quillt zerknülltes Papier aus dem Korb. Ihm kommt es vor wie eine Million erste Sätze, aber – er überschlägt schnell, was dort am Boden und im Papierkorb liegt – es handelt sich wohl eher um knappe 45 missglückte Anfänge. Versuchsweise malt er noch ein weiteres Galgenmännchen auf das Stück Papier vor ihm auf dem Schreibtisch.

Wie macht Margarete das nur immer? Jeden Tag schreibt sie eine Geschichte oder ein paar Seiten an ihrem aktuellen Roman. Und er? Er schafft noch nicht einmal die ersten paar Worte oder Sätze, sofort ist alles Mist. Unfähig ist er. Sein Kugelschreiber gräbt sich tief ins Papier. Er malt dem Männchen eine weit herabbaumelnde Zunge. Sinnlos eigentlich noch weiter zu machen. Aber er hat es sich doch vorgenommen.

Endlich im Ruhestand wollte er seinen großen Roman schreiben. Im ersten Jahr hat er sich dann doch um den Garten kümmern müssen und im Heimatverein war so viel zu erledigen. Überhaupt, er musste sich erst einmal daran gewöhnen, ständig zu Hause zu sein. Aber jetzt, jetzt konnte er endlich beginnen. Am Computer wollte er nicht schreiben. Er war mehr für Papier und Stift. Da müssten die Sätze doch viel direkter aus der Hand aufs Papier fließen. Hatte er sich jedenfalls vorgestellt. Außerdem hasste er diese Höllenmaschinen. Seine E-Mails hatte er sich schließlich auch ausdrucken lassen, von seiner Sekretärin.

Apropos Sekretärin. Das wäre es vielleicht. Wenn er Frau Gruber hier hätte, dann könnte er seinen Roman diktieren. Moment mal, er kramt in der Schublade seines alten, dunklen Mahagonischreibtischs. Ja, da war es, das Diktiergerät. Das war doch die Lösung. Er würde einfach alles aufs Band sprechen und später ins Reine schreiben lassen. Er drückt auf den Aufnahmeknopf und legt los.

„Es war an einem dieser Sommertage, an denen es heiß und staubig nicht zu regnen beginnt. Katharina wischte sich den Schweiß von der Stirn und stöhnte als sie versuchte sich aufzurichten. Feldarbeit war ganz und gar nicht ihre…“.
Es klickt unvermittelt, das Band stoppt. Wilhelm fummelt an dem Apparat herum, aber er will sich nicht wieder einschalten lassen.

„Verdammt nochmal“, flucht er vor sich hin. Wahrscheinlich sind die Batterien leer.

Nun ja, das war gar nicht so schlecht. Vielleicht könnte er das einfach aufschreiben, was er da aufs Band gesprochen hatte. Aber, was war das nochmal? Irgendetwas mit Sommertag. Klar.

Er setzt sich hin und schreibt: „So ein heißer Sommertag. Es wollte einfach nicht regnen. Katharina schwitzte wie ein Stier.“

Wilhelm lässt den Stift sinken. Nein, das war doch gar nichts, völliger Blödsinn. Was er da aufs Band gesprochen hatte, war ihm besser vorgekommen. Er geht zur Tür, öffnet und ruft: „Marga!“

Keine Antwort.

„Marga, haben wir noch Batterien?“

„Was?“, schallt es aus der oberen Etage.

„Haben wir noch Batterien?“

„Welche denn?“

Wilhelm guckt verdutzt.

„Keine Ahnung!“

Margarete kommt die Stufen hinunter.

„Brauchst du Mignon-Batterien oder die kleinen, die AAA?“

Auf Wilhelms Gesicht steht ein großes Fragezeichen.

„So eine Batterie, wie in der Küchenuhr oder wie in der Fernbedienung vom Fernseher?“

„Öhm, ja, hab’ noch nicht nachgesehen.“

„Batterien liegen jedenfalls im Werkzeugschrank.“

Margarete lächelt ihn freundlich an.

„Brauchst du noch was?“

Wilhelm holt tief Luft.

„Ach, nein, mein Schatz, dank’ dir“.

Er lässt die Schultern hängen und verschwindet wieder in seinem Arbeitszimmer. Er kapiert einfach nicht, wie Marga das macht mit dem Schreiben. Und er schafft noch nicht einmal die ersten paar Sätze. Einen kleinen Augenblick ist er versucht, die Tür wieder aufzumachen, seine Hand liegt noch auf der Türklinke, und Margarete einfach zu fragen. Aber dann setzt er sich doch lieber an den Schreibtisch, versucht vergeblich die Abdeckung vom Batteriefach zu öffnen und flucht leise vor sich hin.

4. August – Gut genug

„Schatzi, es gibt Cocktails!“, ruft Lena Helmut zu. Sie selbst liegt im Schatten und schlürft schon an ihrem alkoholfreien Drink. Hecke schneiden, Rasen mähen und Holz hacken, sind laut Helmut Männerarbeit. Lena will das auch gar nicht erledigen. Sie hat einen anstrengenden Job, bringt das Haupteinkommen nach Hause und kümmert sich sonst nur um den Haushalt.

Nun ja, in Wirklichkeit heißt das, sie bezahlt die Putzfrau und bringt die Kleidung regelmäßig in Wäscherei und Reinigung. Das einzige, was sie wirklich gut und gerne macht, ist Kochen. Auf Hausarbeit hat Lena sonst keine Lust.

Im Augenblick hat sie frei und will mit ihrem Mann den schönen Tag genießen. Aber Helmut grunzt nur als Antwort auf ihren Zuruf und schneidet weiter an der Hecke herum. Er macht das nicht besonders gekonnt. Vielleicht sollte sie doch lieber einen Gärtner beauftragen. Ist doch Blödsinn sich mit so einem Zeug abzuplagen, das keinen Spaß macht. Aber Helmut ist da immer so eigen. Er meint, er müsse unbedingt den Garten übernehmen, um seinen Teil beizutragen.

„So ein Quatsch“, denkt Lena. All diese merkwürdigen Vorurteile und vorgefassten Meinungen. Als wäre Helmut ein schlechterer Mensch, weil er ein paar hundert Euro weniger im Monat nach Hause bringt. Oder als wäre es notwendig, dass eine Frau sich möglichst klein und dumm stellt, damit ein Mann sich besser fühlt. Was ist das überhaupt für eine Vorstellung immer auf der Erniedrigung eines anderen seine Stärke aufzubauen. Als wäre nicht jeder Mensch genau richtig so, wie er ist.

Lena schließt die Augen und versucht sich eine Welt vorzustellen, in der jeder von sich und anderen glaubt gut genug zu sein. Aber es gelingt ihr nicht wirklich. Zu sehr ist sie selbst daran gewöhnt, an sich und den anderen herumzumeckern.
„Schließlich kann Helmut die Hecke so krumm schneiden wie er will und später seinen Cocktail trinken“, denkt sie. „Wenn es ihm wichtig ist, soll er das doch tun.“

Lena nimmt noch einen Schluck und fühlt sich schon viel besser.

2. August – Mittag

Es ist Mittag. Hitze staut sich über den Feldern. Die Sonne brennt herunter. Kein Wölkchen ist am Himmel. Kaum ein Insekt wagt es jetzt zur heißesten Zeit des Tages herumzufliegen. Sogar die sonst so fleißigen Hummeln wirken träge. Die Schnecken haben sich irgendwo im Dickicht am Wegesrand, im dunklen Schatten verkrochen.

Und ich bedauere schon, dass ich dort nicht ebenfalls hineinpasse, unter ein paar Blätter am Feldrain. Wie konnte ich nur auf die Idee verfallen, um diese Zeit einen Spaziergang zu machen. So viel Dummheit gehört bestraft, und zwar sofort. Also glühe ich und schwitze zur Strafe.

Dann beginne ich zu kichern. Ich wollte so gerne mal in die Sahara. Die Wüste sehen und erleben, wie das dort ist. Aber ich überlebe ja kaum einen heißen Sommertag in der Mitte Deutschlands. Da fühle ich mich schon wie im Backofen. Wie soll das erst in der Sahara sein? Gibt es die Sahara auch vollklimatisiert, mit Schatten und Vollpension? Ich bekomme doch so leicht Sonnenbrand.

Ich schleppe mich weiter und höre ein Knistern von links, als knüllte jemand rhythmisch 100.000 Butterbrottüten zusammen und zusammen und wieder zusammen ohne Unterlass.

Dann begreife ich, dass das der Weizen ist, der singt. Er ist reif und der heiße Wind lässt ihn knistern, wenn er über ihn hinwegstreicht. Jetzt freue ich mich doch, dass ich mich um diese Zeit aus dem Haus gewagt habe. Wer weiß, ob ich sonst jemals den Weizen hätte singen hören: „Ich bin reif, ernte mich, hörst du, ich will vom Halm, ernte mich, ernte mich.“

24. Juli – Erkenne einen Reiher

Als ich ein Kind war, lernte ich einen fliegenden Reiher an seinem schlangenförmig geschwungenen Hals zu erkennen. Ein Storch hingegen hielt den Hals gerade. Beide sahen sich auf Entfernung sonst sehr ähnlich, besonders im Zwielicht, wenn ich kaum noch die Farben des Gefieders erkennen konnte.

Ich lernte auch, dass männliche Enten ein auffälliges, grünschimmerndes Kopfgefieder haben und Erpel heißen. Die weiblichen Enten dagegen waren braungefiedert und bescheiden. Außerdem lehrte mich meine Großmutter, dass Spatzen frech seien und unnütz und Tauben viel netter und nützlicher. So fütterte sie auf ihrem Innenhof immer die Tauben und verjagte die Spatzen.

Später dann las ich Berichte über die unglaubliche Vermehrung der Tauben in Großstädten und hörte sie Ratten der Lüfte nennen. Der Spatz dagegen sei vom Aussterben bedroht, daran sei wohl der Klimawandel schuld und die Einschränkung seines natürlichen Lebensraumes.

Aber ich glaube insgeheim, dieses alte Sprichwort ist daran schuld: Der Spatz in der Hand ist besser als die Taube auf dem Dach. Wer kann schon leiden, was ihm ständig als minderwertiges Glück verkauft wird, dass er nicht zu verschmähen habe?

16. Juli – Entbrannt vor Wut

Warnhinweis: Wut ist Energie und das plötzliche Freiwerden von Energie kann zu Verletzungen oder Netzüberlastungen sprich Kurzschlüssen führen.

Die Welt ist doch so, so ungerecht. Da hilft auch kein Harmoniegedüdel. Nur Augen verschließen, sich unter der Bettdecke verkriechen und die Luft anhalten, kann kurzzeitig den Zorn über diese gemeine Welt vertreiben.

Du wirst geboren in einem Körper, der Schmerzen aushalten muss.

Du musst dich durchschlagen mit „try and error“. Voll beschissen, falls du diese fiese Lernmethode überlebst, um alt genug zu sein, das andere Geschlecht zu entdecken (oder das eigene), geht es mit dem Ärger erst richtig los.

Die Person, die du am allerdollsten liebst, will von dir garantiert nichts wissen. Wenn doch dann interessieren sich noch fünf weitere Personen für dich und du entscheidest dich mit Sicherheit für die falsche.

Okay, auf kosmischer Ebene natürlich für die richtige, nämlich für die Person, die dir nach spätestens sechs Wochen sowas von gründlich auf den Wecker geht, dass du vor Wut in die Tischkante beißt oder in deinen Hintern oder in beide abwechselnd.

Denkst du jetzt: „Ha, kein Problem, der/die/das Blöde passt nicht zu mir, den/die/das schieße ich ab, dann entscheidest du dich das nächste Mal garantiert wieder für die gleiche Art Person diesmal eben als Grünauge, Blauauge, mit oder ohne Bart, was auch immer.

Solltest du dann glauben, mit Enthaltsamkeit der grauslichen Vorsehung ein Schnippchen schlagen zu können, dann wird deine beste Freundin/dein bester Freund die Aufgabe deines/deiner Liebsten übernehmen und dich ordentlich zur Weißglut treiben.

Solltest du dann auf die blöde Idee verfallen, dich in eine einsame Hütte zu verziehen, dann endlich, nachdem du ein paar Bäume verprügelt und die Rehe verflucht, nachdem du Gott, sämtliche Engel und auch den Teufel bezichtigt hast, dir ohne Unterlass auf den Geist zu gehen, da begreifst du, dass es dauernd nur du selbst bist.

Wut, Wut, Wut. Ein schönes Hobby. Jeder sollte es damit mal für eine Weile versuchen. Aber ehrlich, es tut Dir nachher leid, dass du den armen, unschuldigen Baum verprügelt hast. Vor allem wegen deiner gebrochenen Hand und den dicken blauen Flecken an den Füßen.

Aber jetzt mal ehrlich, wer kann diese Scheißharmonie schon immer ertragen? Sogar in der Natur donnert’s und blitzt es. Das muss eben mal sein. Nur, denk daran, andere nicht zu gemein zu verletzen mit deiner Wut. Wäre doch Schade drum.

15. Juli – Charlotte

An der Straßenbahnhaltestelle spricht Charlotte plötzlich jemand an.

„Bist du nicht auch am Kästner?“

Sie blickt erstaunt von ihrem Buch auf und nickt zögernd.

„Hast dich irgendwie verändert in letzter Zeit“, plappert der Junge weiter.

„Irgendwas mit den Haaren“, er schaut sie prüfend von oben bis unten an, „und mit deinen Klamotten.“

Als sie immer noch nichts sagt, streckt er ihr die Hand entgegen.

„Ich bin der Peter!“ Sie rührt sich immer noch nicht. „Eine Stufe über dir“.

Charlotte runzelt die Stirn.

„Hast du eine Zigarette für mich? Weißt du meine Mutter hat einen neuen Freund und ist jetzt dauernd bei ihm. Sie lässt mir nur so wenig Taschengeld da, das reicht dann nicht mehr für Kippen. Sie will auch nicht, dass ich rauche. Na ja, und ich bin jetzt schon zweimal beim Klauen erwischt worden.“

Peter zaubert ein charmantes Lächeln auf sein Gesicht.
Als Antwort kramt Charlotte in der Tasche ihres langen schwarzen Mantels und reicht ihm schließlich ein Päckchen zerdrückte Gaulloises. Er nimmt sich gleich zwei und steckt eine in seine Tasche.

„Feuer?“ Er schaut ihr immer noch charmant lächelnd in die Augen.

Etwas widerstrebend gibt sie ihm auch Feuer, steckt ihre Zigaretten und das Feuerzeug wieder ein. Sie schaut auf die Uhr und dann die Straßenbahnschienen entlang. Noch ist die 21 nicht in Sicht. Sie schlägt ihr Buch wieder auf.

„Wo willst du denn hin?“ Seufzend lässt Charlotte ihr Buch erneut sinken, behält aber den Finger zwischen den Seiten.
„Hauptwache“, sagt sie möglichst kurz angebunden und hofft, dass dies deutlich genug ihre Ablehnung zeigt.

„Da fahre ich auch hin“, ruft Peter fröhlich, „dann können wir uns ja zusammensetzen.“

Charlotte lächelt kurz verkniffen und schlägt abermals ihr Buch auf. Nun entfernt sich Peter ein paar Schritte. Kommt aber gleich darauf zurück und verkündet, dass die Bahn endlich komme.

Also packt Charlotte ihr Buch in die Schultertasche und steigt in die Bahn. Sie will sich auf einen Einzelplatz setzen, aber die sind alle besetzt. Sie bleibt stehen. Aber Peter hält sich an einer Halteschlaufe direkt über ihr fest.

„Bin gerade unterwegs ins Kino, will mir ‚Das Ding’ angucken. Das soll ein total guter SciFi-Horrorfilm sein, mit interessanten Spezialeffekten!“

Charlotte sagt noch immer nichts, aber ihr Gesicht schaut etwas weniger unfreundlich.

„Gehst du gerne ins Kino? Ich habe Freikarten für morgen Nachmittag, hast du Lust mitzukommen?“

„Vielleicht. Was für ein Film denn?“

„Die Klapperschlange mit Kurt Russel.“

Den hat sich Charlotte sowieso ansehen wollen, sie überlegt, „haste vielleicht auch drei Freikarten? Dann würde ich noch ne Freundin mitbringen.“

Peter zögert.

„Ja, klar, dann treffen wir uns morgen um vier wieder an der Haltestelle wir müssen dann ins Royal. – Ich muss gleich aussteigen. Kannst du mir noch ein, zwei Zigaretten spenden?“
Charlotte reicht ihm wortlos zwei weitere.

„Bis morgen“, ruft er und springt beim nächsten Halt aus der Straßenbahn.

14. Juli – Blind Date

„Warst du jemals in einer Leichenhalle?“, fragt mich Michael, mein Blind Date, und rührt in seinem Cappuccino. Sein Augenaufschlag bei dieser Frage haut mich um. Solche tiefen, braunen Augen haben mich noch nie angeblickt. Darin könnte ich baden, aufgehen, sie ausschlürfen wie den Kakao, der vor mir in einer großen, weißen Tasse dampft.

„Äh, wie bitte?“, frage ich verwirrt nach einer peinlich langen Pause und rühre meinerseits in meinem Heißgetränk.

„Ob du schonmal in einer Leichenhalle warst?“, sagt er.

„Hm, nö“, lüge ich.

Was ist das denn für eine Frage beim ersten Date? Aber diese Augen, schon wieder kann ich mich kaum losreißen. Zum Glück schaut Michael jetzt in eine andere Richtung und ich kann meinen Blick diskret nach unten wandern lassen. Ich gebe zu, mir gefällt, was ich da sehe. Gepflegt der Mann und gut gekleidet, auch gut gebaut, soweit ich das erkennen kann. Und seine Stimme, sehr angenehm, wenn sie mich nicht nach Leichenhallen fragen würde. Was für eine Idee, mich so etwas zu fragen. Ich rühre wieder, um mich zu sammeln. Der Kakao muss langsam kalt sein.

Dann erzählt er, dass er vor kurzem das erste Mal in einer Leichenhalle gewesen sei. Eigentlich nur in einem Besucherraum. Denn die ganze Halle, wo die Leute womöglich aufgeschnitten würden, wo es vielleicht bis an die Decke weiß gekachelt sei wie beim Metzger, wie im Schlachthaus, da wäre er selbstverständlich auch nicht gewesen. Außerdem wolle er sich das gar nicht vorstellen. Nein, lieber nicht.

Nun, schön, denke ich, aber jetzt stelle ich mir das vor. Meine Hand legt automatisch den Löffel auf der Untertasse ab und schiebt den Kakao weit fort von mir. Ein letztes Mal versuche ich, mich in seine tiefbraunen Augen zu versenken. Aber sie haben ihre Magie verloren. Ich sehe nur noch weiß gekachelt vor mir, bis unter die Decke.

Er mache da nämlich so einen Kurs, fährt Michael fort, bei der Volkshochschule, um sich mit dem Thema Tod anzufreunden. Das beträfe ja schließlich jeden, irgendwann, und würde in unserer Gesellschaft doch ausgeblendet, totgeschwiegen sozusagen.

Ha, denke ich, wie passend. Und dann denke ich an die Prosektur und den süßlichen Geruch des Todes, der mir immer noch manchmal in die Nase steigt. Vor allem wenn ich zu schnell auf der Autobahn unterwegs bin. Und dann denke ich an kalte Haut, so kalt wie keines Menschen Haut sich jemals anfühlen sollte. Und ich denke daran, wie unterdrückte Emotionen sich in einem kleinen Raum anstauen können, bis die Kehle zugeschnürt ist.

Und ich denke daran, wie ich plötzlich erst im Tod sehen konnte, dass mein Mann viel größer war, als er mir lebend immer erschien. Lange konnte ich über nichts anderes reden. Über den Verlust. Über ihn. Über alles, was ich vermisse und noch erleben wollte. Meine Freundinnen haben mich bekniet, mich wieder ins Leben zu stürzen. Meine Schwester schließlich hatte mich überredet, mich mit Michael zu treffen, einem ihrer Arbeitskollegen.

Er sei so sensibel und gutaussehend. Und ich war doch nach der langen Zeit mehr als bereit dazu wenigstens für diesen Nachmittag alles zu vergessen. Vielleicht hätte sie ihm sagen sollen, dass ich vor 26 Monaten und vier Tagen meinen Mann verloren habe. Oder sie hat es ihm gesagt, fällt mir ein. Vielleicht ist Michael gründlich und hat sich deshalb bei der Volkshochschule eingeschrieben. Mir ist der Appetit trotzdem vergangen. Nicht nur nach dem Kakao.