1. November – Uralte Steine

Eine flache Schale habe ich extra besorgt. Viereckig mit gerundeten Ecken. Dort ruht nun der Ostseesand, auf ihm ein paar uralte Steine.

Natürlich ist ein Hühnergott dabei. Ein Stein mit Loch. Im Hühnerstall – so sagt es die Überlieferung – soll er bewirken, dass die Hühner mehr Eier legen und die Füchse von ihnen ferngehalten werden. Ob das wirkt, werde ich nun erproben.

Vielleicht hilft dieser Hühnergott und der große auf dem Fensterbrett zwischen den Blumentöpfen mir dabei, „mehr Eier“ zu legen, also noch kreativer zu sein und vielleicht sogar ein paar goldene, diamantene oder kunterbunte „Eier“ zu legen. Womöglich werden die im ganzen Hause verteilten Hühnergötter tatsächlich auch die Füchse fernhalten, die listigen Gedanken und vorwitzigen Zweifel. Wenn ich daran glaube, wird es so sein.

Aber ich habe nicht nur Hühnergötter gesammelt. Im sandigen Bett liegen auch noch ein paar interessant geformte Sedimentgesteine. Glattgeschliffene Kiesel zu einem Turm aufgeschichtet. Ein hellgrauer auf einem glitzernden dunkelgrauen auf einem tiefschwarzen auf einem weißen Stein. Insgesamt herrschen die schwarzen, weißen und grauen Töne vor. Den gelben Feuerstein und die rosafarbenen und blauen Steine habe ich woanders aufbewahrt.

31. Oktober – Wieder daheim

Ein paar Tage war ich getrennt von meiner gewohnten Umgebung und kehre zurück in Vertrautheit, bin wieder daheim. Aber als Erstes nehme ich mir Zeit. Dann Ruhe. Dann Zweisamkeit.

Ich ordne und pflege. Lasse dann alles los und gönne mir noch mehr Zeit.
Der Rhythmus des Meeres pulsiert noch in meinem Blut und lässt mich das Staccato der täglichen Hektik noch ein paar köstliche Tage ignorieren.

Vielleicht für immer.

30. Oktober – Ostsee-Elfchen

Ostsee-Elfchen

Wind
Fegt um
Das Haus. Sicher
Behütet es unseren Schlaf.
Geborgenheit!

Kuscheln
In warme
Kissen und sägen,
was Marilu halten kann:
Damp

Vier
Lachende Schwestern
Stehen am Strand
Und tanzen im Sonnenaufgang:
Magie!

Löcher
Suchen am
Strand mit Stein
Drumherum für Marions Mobile:
Hühnergötter!

29. Oktober – Am Rande der See

Allein und mir selbst genug balancierte ich am Rande der See. Mit zuverlässigem Schlag warf sich das Meer an den Strand, zog sich zurück und rollte aufs Neue.
Goldenes Sonnenlicht ließ das Wasser bis zum Horizont in Azur mit einem Hauch Gletscherblau erstrahlen. Hyperrealistisch. Höher als die Wirklichkeit. Sich einbrennend in die Seele, tief hinabsinkend in jede Zelle. Es lockte mich das Wasser.

Also zog ich die Schuhe und Strümpfe aus, rollte die Hosenbeine bis zum Knie hinauf und durchwatete einer Sandbank folgend das seichte Wasser in zwei, drei Meter Entfernung vom Ufer. Die Wellen schlugen höher und zogen an meinen Beinen. Es schien, als sehnten und drängten sich die vier fünftel Wasser in mir nach Vereinigung, als bäten sie um Auflösung in der Ursuppe, dem ewigen Meer.

So einfach loszulassen und sich mit Quallen und Larven und Seesternen und Fischen und Krebsen und Plankton und Algen zu vereinen zu einem langsamen Tanz. Die Last und Lust der Einheit. Sehnsucht greift nach mir mich aufzulösen in der Weite und Tiefe des Meeres. Wieder Wasser mit allen Wassern zu sein.

Aber ich bin Fleisch gewordenes Wasser, geordnete Gewimmel, hochspezialisierte Zellen haben ihre Freiheit geopfert, um mich autonomes, einzigartiges Wesen zu formen, das nun dort auf Milliarden Jahren alten Steinen steht, den weiten seit Äonen wartenden Himmel über sich.

28. Oktober – Schwanenpantomime

Schwanenpantomime. Schwäne machen es sich hier an der Ostsee gerne in Strandnähe gemütlich. Im flachen Wasser treiben sie dahin und gründeln. Mit einem entschlossenen Zurückwerfen ihres Kopfes lassen sie ihre Ernte den Schlund hinabrollen.

Von April bis September ist dieser Teil des Strandes für Spaziergänger gesperrt und allein den brütenden Vögeln vorbehalten. Nun im Oktober scheinen die Brutgeschäfte erledigt und wir Touristen dürfen auch hier im hellen Sand am Rand des Meeres balancieren.

Das Rauschen der See scheint mich von den übrigen Spaziergängern zu entfernen und ganz der Beobachtung der Natur zu öffnen. Ein junger Schwan, dick und mächtig aber immer noch in graues Gefieder gekleidet, schwimmt nahe am Ufer. Nicht weit von ihm entfernt ein etwa gleichgroßer, weißer Schwan. Immer wieder ins salzige Wasser abtauchend. Als ich mich dem grauen Schwan langsam aber unaufhaltsam nähere, denke ich nach über die Geschichte vom hässlichen Entlein. Ich frage mich, ob dieser minderjährige Schwan nicht recht spät dran sei, ob Schwäne nicht auch in den Süden ziehen.

Dabei beobachtete ich den Grauen, der ein wenig gelangweilt im Wasser entlang dümpelt, als plötzlich der weiße Schwan durch das Heben seines orangefarbenen Beines aus dem Wasser meine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Er streckt es nach hinten aus, als mache er Stretching. Dann wendet er sich ganz mir zu und entfaltet für einen kurzen Augenblick seine Schwingen, breitet sie aus und streckt mir fast spielerisch in Zeitlupe den Hals entgegen. Eine Drohung nur und ich verstehe sofort.

„Wag es nicht meinem Kinde zu nahe zu kommen, sonst bekommst du es mit mir zu tun.“ Respektvoll entferne ich mich mit zügigen Schritten. Ohne es zu beabsichtigen, habe ich eine Grenze überschritten und bin mit einer wohlwollenden Ermahnung davongekommen.

25. Oktober – Ausruhen

„Wie, ich höre immer ausruhen, Pause machen! Was sind denn das für Töne? Willst du denn gar nicht fertig werden?“

Kai schaut Ludmilla herausfordernd an. Er lächelt, aber seinen Augen sieht Ludmilla an, dass er es überhaupt nicht lustig findet. Aber Ludmilla brauch jetzt einfach mal eine Pause.

Seit Wochen arbeiten die beiden an der Ausstellung. Ständig dreht sich alles nur um die Skulpturen, wo was stehen soll, wie das Licht fällt, was auf den Karten steht. Ludmilla kann es nicht mehr hören und nicht mehr sehen. Vor allem wird es nicht besser nur immer chaotischer und schlechter.

In solchen Augenblicken, daran erinnert sich Ludmilla genau, hat ihre Großmutter immer gesagt: „Mädchen, da hilft nur Pause machen, du brauchst Abstand, lass dir den Kopf freiblasen!“ Und genau das wird Ludmilla jetzt tun. Soll doch Kai im Dreieck springen.

24. Oktober – Nacht

Nacht. Tiefe Schwärze breitet sich aus, dringt durch das Fenster ein, sickert durch der Tür durch. Nur mühsam erhellt die trübe Lampe meinen Schreibtisch, taucht meine schrumpfende Welt in gelblich fahles Licht. Es ist so still, dass jedes Geräusch einem Crescendo gleichkommt. So wage ich kaum, zu atmen, streichele nur sanft die Tasten. Sehne mich nach flüsterleisem Anschlag und ruhigem Fluss meiner Gedanken. Rüde unterbrochen werden sie vom Hämmern meiner Finger. Nacht und Kälte. Tropft herein. Wabert um mich. So fern der Tag mit strahlendem Sonnenschein und vollen Klängen.

23. Oktober – Karl zieht aus

Karl wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die letzte Kiste war endlich im Umzugswagen verstaut. Er musste ein wenig drücken, um die Türen des Transporters zu schließen.

Irmgard reichte ihm eine Flasche Wasser. Ein Bier wäre ihm lieber gewesen. Aber er musste ja noch fahren.

„Das war’s dann“.

Irmgard trat von einem Fuß auf den andern. Karl fragte sich, ob ihr nur die Situation unangenehm war oder sie ihn am liebsten schnell loswerden wollte. Warum überhaupt und schon wieder verabschieden. Schließlich hatte er nur noch seinen Krempel abgeholt. Ausgezogen war er vor mehr als sechs Wochen. Rausgeworfen worden traf es wohl eher. Aber er machte Irmgard keinen Vorwurf. Eigentlich hatten sie sowieso nie zusammen gepasst. Dafür waren 16 Jahre eine lange Zeit, die sie miteinander ausgehalten hatten.

„Ja“, er räusperte sich, „dann mach’s mal gut!“

„Du auch“, erwiderte Irmgard mit kratziger Stimme.

Jetzt glitzerten schon wieder Tränen in ihren Augen. Versteh einer die Frauen! Erst die Beziehung Knall auf Fall beenden und danach ewig rumheulen. Karl schraubte die Flasche zu und reichte sie ihr. Dabei ließ er seinen Blick über die Hofeinfahrt flirren. Alles, bloß jetzt nicht Irmgard anschauen. Er streckte ihr die Hand hin und wagte immer noch nicht, ihr ins Gesicht zu sehen.

Als er dann endlich im Auto saß und losfuhr, drehte er die Anlage bis hinten auf und weinte den ganzen weiten Weg bis zu seiner neuen Wohnung.

22. Oktober – Träume 1975

Träume 1975. Als ich ein kleines Mädchen war, träumte ich sehr häufig vom Atomkrieg. Es begann meist mit einer harmlosen Begebenheit, einem Ausflug, einem Picknick im Grünen.

Plötzlich kamen Militärfahrzeuge in die Idylle gebrettert. Hubschrauber durchwühlten die Luft, aus denen sich Froschmänner abseilten in den Waldsee, den Fluss oder was sonst an Gewässer gerade in meinem Traum vorhanden war.
Wir Zivilisten wurden von maskierten Soldaten angeschnauzt, herumgeschubst, zu sinnlosen Hilfsmaßnahmen gezwungen.

So rafften wir zusammen, was möglich war, stützten die Alten und halfen einer jungen Mutter, den Kinderwagen mit dem plärrenden Säugling über die steile Böschung zu tragen. Aber all unser Mühen war vergebens. Am Horizont wuchs der Atompilz in die Höhe und ich wachte auf.

Das also waren die Träume meiner Kindheit so um 1975.

21. Oktober – Der Geist des Kriegers

Der Geist des Kriegers wacht über mich. Gesichtslos starrt er mich an aus dem Dunkel seines korinthischen Helmes. Was er denkt? Das bleibt mir verborgen.
Vielleicht ist er längst des Kämpfens müde und mag Helm und Harnisch von sich werfen. Vielleicht steht ihm der Sinn nach Blumen pflücken, Frauen küssen oder Erde umgraben. Es könnte aber auch sein, dass er den Frieden verdammt und sich verzweifelt nach der nächsten blutigen Schlacht sehnt, damit er sein Handwerk ausführen kann, das des Kriegers.

Ein Krieger kann sich mächtig fühlen und sicher, nicht so wie ein Soldat. Ein Soldat ist der erste, der draufgeht. Aber der Krieger ist der stolze Held, der seine Geschicke selbst lenkt, der sich misst im Kampfe und selbstverständlich nur die gerechte Sache verteidigt. Das Handwerk des Kriegers besteht vor allem darin, nicht darüber hinaus zu denken. Besser gar nicht zu denken, weder mit noch selbst noch darüber hinaus. Nachbeten, das ist schon eher seine Aufgabe.

Wer entscheidet? Wer definiert die gerechte Sache, die Ehre, die Wahrheit? Am Anfang war das Wort. Der Krieger kräuselt die Stirn hinter dem kühlen Metall. Er mag nicht folgen. Er bleibt in der Sicherheit seines Handwerks, seiner erlernten Werte, seiner vorgefassten Meinungen. Auf ihn ist Verlass. Wie wankelmütig müssen die sein, die selbst denken, wie unabhängig, wie frei, wie gefährlich.

Der Krieger bewegt sich nicht, richtet nur den Blick jetzt lieber in die Ferne. Diese Frau dort am Schreibtisch bildet sich am Ende noch ein, die Feder sei mächtiger als das Schwert. Worte und Werte definieren, Name und Bedeutung geben sei wichtiger als Kampf und Sieg.

20. Oktober – Gipfeltreffen der Liebe

Die romantische Liebe sei heutzutage die Grundlage der Paarbeziehungen in der westlichen Welt. Auf Hochzeitskarten, bunten Servietten und kitschigen Bildern da sehen wir häufig ein Bild von traut sich zuneigenden Schwänen, die mit ihren langen Hälsen ein Herz formen.

Schwäne – so hört man immer wieder – seien sehr treue Vögel. Gewöhnlich bleiben sie ein Leben lang beieinander. Aber manchmal frage ich mich, was eigentlich dran ist an dieser Vorstellung von Zweisamkeit.

Sind Beziehungen nicht viel häufiger wie die Begegnung zweier großer, mächtiger Eisberge, die im Meer treiben. Manche touchieren einander nur leicht. Andere ziehen derartig langsam aneinander vorbei, dass sie erscheinen wie ein großer Eisberg mit zwei aufragenden Gipfeln. Im Untergrund, bei den neun Zehnteln unter Wasser, da knirscht es, da herrscht Spannung, da werden womöglich Eisbrocken in gigantischen Ausmaßen abgesprengt, verschmolzen, verdichtet.

Ein Beobachter sieht diese Eisberge gemeinsam und sagt: „Sie gehören zueinander. Sieh doch, wie Zwillinge ragen sie auf. Nichts kann sie trennen.“ Womöglich glauben sogar die Eisberge daran, dass sie in Wahrheit ein großer Berg geworden sind.

Aber dann, vielleicht erst nach Jahren ist der Austausch im Untergrund beendet, die letzten Wunden sind geschlagen, die liebsten Eiskristalle getauscht und die Eisriesen trennen sich wieder. Jeder treibt weiter in entgegengesetzter Richtung seiner Bestimmung zu – der eine sich mit dem ewigen Eis zu vereinen, der andere im warmen Äquatorialmeer zu schmelzen.

19. Oktober – Abendrot

Abendrot. Verheißung für den neuen Tag. Weit streckt die Sonne ihre letzten Strahlen über den Horizont, zaubert rosiges Leuchten in die Wolken, grüßt uns ein letztes Mal mit ihrem Farbenspiel zur Nacht, bevor sich langsam alle Farben auflösen und die hellen und dunklen Schatten ihre Herrschaft antreten.