4. Dezember – In der Höhle des Drachen

Es ist sehr dunkel. Nur die Augen des Drachen glühen dort unten am Ausgang der Höhle. Massig und breit sitzt er vor dem Felsloch. Ich kann nicht vorbei. Ich bemühe mich, ganz leise zu atmen, wage es nicht einmal mich Schrittchen für Schrittchen voranzuschieben.

„Irgendwann“, so dachte ich, „muss der Drache müde werden oder hungrig, viel eher noch durstig“. Aber der Drache hielt sich nicht an meine Vorstellung. Er lag einfach dort am Höhlenausgang. Blinzelte ab und zu. Seine Augen leuchteten. Ein klein wenig Helligkeit fand an seiner rechten Seite vorbei und warf einen Schein auf einen Fetzen Höhlenboden. Sobald die Sonne sank, war auch der Schein verschwunden.

Nach Stunden erst, die ich zitternd hinter einem Felsbrocken kauernd verbracht habe, gestehe ich mir ein, dass es nicht der Drache ist, der mich festhält, sondern meine Furcht. Meine Angst. Meine Panik. Ganz ehrlich als der Drache plötzlich hereinflog, als ich mich lustig in der Höhle umsah, da hätte ich mir fast in die Hose gemacht. Auf jeden Fall ließ ich meine Taschenlampe fallen. Sie klapperte laut über die Steine und blieb dann erloschen liegen. Ich hoffte, der Drache habe mich nicht gesehen und verkroch mich hinter einen Felsbrocken. Immer wieder spähte ich hervor, ob der Drache nun endlich verschwunden war oder wenigstens eingeschlafen. Aber nein, er saß dort mit glühenden Augen, blinzelte in regelmäßigen Abständen. Ab und zu musste er aufstoßen, dann fuhr ein Feuerstrahl aus seinem Maul.

Beim ersten Mal bin ich noch sehr erschrocken und hätte fast laut geschrien. Aber inzwischen habe ich mich daran gewöhnt. Ich schmiede Pläne, wie ich an dem Drachen vorbeikommen könnte. Ich habe auch schon überlegt, ob ich lieber tiefer in die Höhle gehen sollte. Vielleicht finde ich dort einen Ausweg. Und manchmal kann ich nicht anders, dann fällt mein Kopf vornüber und ich träume von grünen Wiesen, von Bachläufen und gutem Essen, auch von Gesellschaft. Aber dann erschrecke ich und erwache. Der Drache schaut immer noch in die Dunkelheit und ich beschließe, dass ich wohl keine Wahl habe. Wenn ich nicht verhungern und verdursten will, dann muss ich an diesem Drachen vorbei. Durch die Lücke, durch die das Licht hereinfällt.

Vielleicht wird mich der Drache töten. Ich habe keine Waffen, die Drachen töten könnten. Meine einzige Chance ist es, mich ihm auszuliefern und zu hoffen, dass er einfach kein Interesse hat an einem kleinen Menschlein, das sich während seiner Abwesenheit in seiner Höhle umgesehen hat. So bewege ich mich also ganz langsam und vorsichtig vorwärts. Ich wage, kaum zu atmen. Die Augen des Drachen schauen weiter in die Dunkelheit. Zitternd erreiche ich die Felswand und schiebe mich soweit wie möglich von dem Drachen entfernt an ihr entlang zum Ausgang hin.

Da. Der Drache wirft mir einen kurzen Blick zu. Ich erstarre. Er blinzelt und grunzt. Nur ein kleiner blauer Feuerschein umkränzt sein Maul. Dann lässt er ganz langsam den Kopf auf die Vorderklauen sinken und schließt seine Augen. Ich wage es kaum, zu hoffen. Aber doch. Der Drache schläft. Langsam und mit schlotternden Knien schlängele ich mich an ihm vorbei. Raus ins Freie. Der volle Mond empfängt mich mit seinem silbernen Licht. Ich atme tief ein und gehe schnell den Weg entlang, weit fort von dem Drachen und seinen grollenden Schnarchlauten.

3. Dezember – Gretel guck in die Luft

Gretel hält ihren lila Teddy ganz fest und richtet ihren Blick nach oben. Die Nase hoch emporgereckt. Erwartungsfroh lächelt sie. Alles Gute kommt von oben.

Jedenfalls jetzt und heute. Vielleicht kommt es irgendwann einmal von unten, rechts, links oder unten. Aber Gretel glaubt ganz fest an das Gute von oben. Gespannt schaut sie. Gleich muss es doch kommen.

Gleichgültig, wie lange sie wartet und wartet. Niemals verliert sie den Mut. Niemals entgleitet ihr das freudige Lächeln oder gar der kleine Teddybär, an dem sie sich festhält.

Falls das Gute sie umhauen sollte, völlig überraschen oder sogar ein klein wenig erschrecken, dann ist Teddy da, der ihre Hand hält. An den kann sie sich kuscheln und schnell ihr Gesicht in seinen weichen Bauch drücken, um ein paar Tränen zu verbergen.
Gleich kommt es doch, das Gute, da von ganz oben. Wie schön!

2. Dezember – Wirklich mühsam

Ich habe es probiert. Wirklich mühsam und ausdauernd. Na ja, mit „mühsam“ übertreibe ich ein wenig. Mir macht es ja sogar Spaß. Aber ausdauernd. Das stimmt.

Ja, was denn nun? Natürlich das Meditieren.

Täglich meditieren ist nämlich gut gegen Stress – und als gestandene Geschäftsfrau UND Künstlerin kann es schon zu Stresserscheinungen kommen. Das ist nämlich gar nicht so einfach, mal abzuschalten, sich richtig im Hier und Jetzt aufzuhalten. Nicht gerade wieder im Übermorgen oder im Gestern. Na ja, schon mehr im Überübermorgen.

Denn Planung ist ja eine ganz furchtbar wichtige Aufgabe für eine Geschäftsfrau. Der Zeitplan, der Marketingplan, der Finanzplan, der Fünf-Jahres-Plan, die Geschäftsstrategie und die wichtige Ausrichtung: Wo will ich in zehn Jahren stehen?

Na ja, alles gut und schön.

Aber nicht Hier und Jetzt.

Mag ja alles so kommen, wie ich plane.

Mag auch wichtig sein, dass ich plane.

Kann aber auch zu viel sein mit der Planerei.

Ab und zu mal locker lassen und sich auf das Hier und Jetzt einlassen, das öffnet völlig neue Dimensionen.

Lange Zeiträume von Stille, von Klang, von Farbe.

Atmen.

Ein.

Aus.

Die Weite um mich herum.

Die Weite in mir.

Leben spüren.

Hier.

Jetzt.

1. Dezember – Ergreifen Sie Maßnahmen

Ergreifen Sie Maßnahmen! Immer wieder höre ich es derzeit im Radio, die unwahrscheinlichsten Menschen äußern es, bekennen es gerade zu: Ja, wir feiern Weihnachten ganz traditionell mit Baum und Schmuck und allem, was dazugehört.

Was so dazugehört ist je nach Familie, Landstrich oder Konfession zwar etwas unterschiedlich, aber im Grunde ähnelt sich alles doch sehr: Weihnachtsmann oder Christkind, Weihnachtslieder auf der Blockflöte gefiept oder nur gesungen (am besten von CD), am Heiligabend eine relativ kleine Mahlzeit, dafür an den beiden Weihnachtsfeiertagen Ente, Gans oder womöglich doch Karpfen am Heiligabend.

Spätestens ab der Pubertät fanden die meisten von uns Weihnachten doch doof. Völlig verlogen. Diese falsche Harmonie. Einfach fürchterlich. Irgendwann im Laufe des Erwachsenwerdens tut sich dann doch etwas Unheimliches.

Ich zum Beispiel finde mich alle Jahre wieder beim üblichen Weihnachtsprogramm. Seit meine Schwester Kinder hat, feiert sie auch traditionell. Nur mein Bruder ist standhaft und noch nicht in die Riege der verweichlichten Altrocker aufgestiegen, die jetzt – seit sie Nachwuchs haben – auch allesamt wieder Weihnachten zelebrieren und gerne ‚Spießer‘ sind.

ten feiern ist ja doch schön – meinem armen Bruder fällt nur keine Ausrede ein, warum er feiern könnte. Sonst würde er das bestimmt auch tun. Also, nicht lange zögern, ergreifen Sie Maßnahmen, damit mit Ihrem Weihnachtsfest alles klar geht.

30. November – Das Ei auf dem Rasen

Philip bestieg das merkwürdige Ei auf dem Rasen, das in seinem Garten gelandet war, durch eine schnöde aussehende Rampe. In seinem gepflegten Rasen würde diese sicherlich tiefe Löcher hinterlassen, ganz zu Schweigen von den ausgefahrenen Krallenbeinen, die das Ei in Waage hielten. Hauptsächlich weil er sich wegen seines zerstörten Rasens beschweren wollte, stieg er überhaupt die Rampe hinauf.

Zuerst hatte er dieses Geräusch gehört. So ein hohes Sirren, ein Fiepen und dann einen dumpfen Knall. Er war zur Terrassentür gelaufen und dort hatte er mit angesehen wie sich ein großes, schillerndes, eiförmiges Etwas auf seinem Rasen niederließ, dabei langsam eine Rampe öffnete und sich anschickte, unaufhaltsam tiefe Löcher in seinen Rasen zu graben.

„Oh, oh, nein!“, hatte er gebrüllt und die Terrassentür aufgerissen. Ohne nachzudenken, war er selbst in Patschen über den Rasen gerannt und hatte in die dunkle Öffnung im Ei hineingerufen.

„So eine Unverschämtheit! Sie ruinieren meinen Rasen!“ Daraufhin hatte eine raue Stimme aus dem Dunkel ihn eingeladen hineinzukommen. So kam es, dass Philip die Rampe in ein schillerndes Ei auf seinem gepflegten Rasen hinaufging.

Langsam gewöhnten sich seine Augen an das gedämpfte Licht und er entdeckte einen alten Mann auf einem fest am Boden verschraubten Drehstuhl vor einer Konsole sitzen. Insgesamt war der Innenraum nicht sehr groß und enthielt außer dem Stuhl und den Bedienelementen nichts weiter. Die Wände waren weiß, glatt und konkav. Philip konnte nicht herausbekommen, woher das schummrige Licht kam. Beinahe kam es ihm so vor, als leuchteten die Wände.

Der Mann auf dem Drehstuhl wandte Philip den Rücken zu und klimperte auf einer Tastatur herum. Mit der linken Hand machte er eine beschwichtigende Geste in Philips Richtung.

„Einen Augenblick“, knarzte er.

Philip räusperte sich und holte tief Luft, schließlich hatte er vor sich zu beschweren. Aber gerade als er loslegen wollte, drehte sich der Mann herum und begrüßte ihn mit einem strahlenden Lächeln und einem festen Händedruck. Philip schaute auf die Hand, die er schüttelte, und dann auf den Mann vor ihm. Dann klappte er erst einmal den Mund wieder zu, um ihn sofort wieder zu öffnen und doch nichts weiter hervorzubringen, als „ähähäh“.

Schließlich kam in seinem Gehirn an, was er dort sah. Sich selbst. Philip. Vielleicht zehn Jahre älter als er jetzt war, quietschfidel, mit Dreitagebart und lässigen Klamotten. Sogar ein wenig schmutzige Klamotten und ungeputzten Schuhen. Aber eindeutig er selbst. Oder einer, der genauso aussah wie er. Philip musste sich setzen. Wie durch Zauberhand fuhr eine bequeme Sitzbank genau hinter ihm aus der Wand. Wieder versuchte er es mit dem Sprechen. Aber auch diesmal wurde nur „wawawa“ daraus.

Der andere, ältere Philip grinste. Lässig strich er sich die langen Haare aus der Stirn, lehnte sich bequem zurück und sagte: „Wirklich scheußlich siehst du aus!“

„Was?“

„Mann-o-mann – irre, was ich für ein Spießer hätte werden können! – Immer wieder lustig das anzuschauen.“

„Was?“

Philip wurde es langsam zu bunt. Was wollte dieser widerliche Kerl damit sagen? Außerdem hatte er seinen Rasen zerstört und beleidigte ihn jetzt noch als Spießer.

„Hast du Lust, ein paar weitere von uns in Paralleldimensionen mit mir zu besuchen? Dachte das könnte Spaß machen!“

„Äh, äh, was?“

„Außer natürlich, du hast was Besseres vor“.

„Öh, ich…“

„Dachte ich mir doch.“

Der Kerl drehte sich auf seinem Stuhl um und tippte ein paar Zahlen ein. Philip sah beim Schließen der Rampe, wie ein großes Stück Rasen herunterfiel.

Der war wirklich ruiniert. Er seufzte. Ob es in anderen Dimensionen unzerstörbaren Rasen gab?

29. November – Badewanne

Eine Badewanne ist natürlich dazu da, um große Wasserschlachten zwischen den gelben Quietscheentchen und den grünen Spritzfröschen abzuhalten. Manchmal mischt sich auch noch ein Hai oder ein Blauwal ein.

Einmal verirrte sich sogar der Tyrannosaurus Rex ins Wasser, aber dann trieb er doch mehr auf der Seite so halb unter Wasser dahin und wirkte nicht besonders furchteinflößend. Wasserschlachten sind herrlich, einfach das Größte. Wenn nur Mama nicht immer so schimpfen würde, dass danach das Bad komplett unter Wasser steht. Wer gewonnen hat interessiert sie meistens gar nicht. Wir sollen dann nur schnell ins Bett.

Aber das macht nichts. Denn im Bett ist es ja fast noch schöner als in der Badewanne, dort können wir mit der großen Kissenschlacht weitermachen. Und wenn Mama uns das verbietet, dann setzen wir uns mit der Taschenlampe unter die Bettdecke und schauen uns unsere Lieblingsbücher an.

28. November – Automaten

Automaten sind etwas ganz Besonderes. Vor allem ganz etwas Anderes als diese heute allgegenwärtigen technischen Spielzeuge, vollgestopft mit Digitaltechnik und Batterien.

Ein Automat ist häufig aus gutem alten Blech und wird aufgezogen, so ähnlich wie ein Uhrwerk. Und dann fängt er an zu laufen, die Pauke zu schlagen, sich zu drehen oder wozu auch immer er konstruiert wurde. Bis die Feder sich entspannt hat. Dann hilft nur erneutes Aufziehen. Mit Liebe und Vorsicht. Denn wird die Federspule überdreht, ist es aus und vorbei mit dem schönen Automaten.

27. November – Provinz

Alle Wege führen nach Rom, nach Berlin oder wenigstens Frankfurt am Main. Die Wege beginnen bei den meisten irgendwo im Nirgendwo – in der schnarchlangweiligen, gefürchteten oder manchmal auch romantisch verklärten Provinz.

Dabei ist es so schön auf dem Lande. Kaum ein Motorenlärm zu hören. Die Nachbarn achten noch aufeinander, keiner bleibt tot in der Wohnung liegen bis er stinkt. Da sind die Frau Boltes und Herr Schultes vor, die immer gucken, was die Nachbarschaft so treibt.

Natürlich ist diese Rundumüberwachung für so eine aus der Stadt, wie ich es bin, ein klein wenig ungewohnt und auch anstrengend. Dafür hätte der gute Herr Schäuble hier bei uns seine helle Freude. Wir achten genau darauf, ob unsere Nachbarn sich normal verhalten. Jeder „Schläfer“ würde bei uns sofort enttarnt. Langschläfer sowieso!

26. November – Ai, wei, wei – Warum, Liebster, Liebster?

Warum, Liebster, Liebster?

Erinnerst du dich noch an den Frühling, als wir das erste Mal tanzten unterm Maienbaum?
Uns küssten am Waldrand ganz heimlich und schnell. Wie mein Herz klopfte und auch deines spürte ich unter meiner flachen Hand auf deiner Brust.

Wo magst du jetzt sein? So weit fort von mir. Entrissen mir.

Du wolltest nicht gehen und konntest doch nicht bleiben.

Warum, Liebster, Liebster,

werden wir so gequält? Schaust du hinauf zu den Sternen und dem vollen Mond?
Denkst du an mich, deine Liebste? Oder bleibt dir keine Zeit für schöne Erinnerungen?
Musst du kämpfen, musst du marschieren? Wozu eigentlich?

Ich weiß, dass du auch nicht verstanden hast, warum du dein Land und deine Liebste verlassen solltest.

Ach wärst du doch hier.

25. November – Die Sachenflüsterin

Wenn bei uns etwas verloren geht, dann werde meistens ich herbeigerufen, um das Etwas zu finden. Ich gelte nämlich als Sachenflüsterin. In den meisten Fällen allerdings handelt es sich nur um etwas Verlegtes.

Das ist die häufigste Variante eines scheinbar verlorenen Gegenstandes. Die Klassiker sind natürlich die Brille und der Schlüsselbund. Aber ab und zu ‚verliert‘ mein Mann auch seinen Schraubendreher, seinen Elektrotacker oder das Nudelholz.

Zugegeben – das Nudelholz ging nur einmal verloren – aber das ist eine andere Geschichte.

Um einen verlegten Gegenstand zu finden, ist vor allem innere Ruhe notwendig. Sich von allem Wollen freimachen, sich entspannen. Dann geschieht es ganz häufig, dass ich einfach ohne lange, womöglich noch systematisch suchen zu müssen den Gegenstand finde.

Meine Kinder nennen mich deshalb die Sachenflüsterin. Sie sind davon überzeugt, dass ich mich innerlich in die Sachen hineinversetze und deshalb intuitiv ‚weiß‘, wo sie abgeblieben sind. Im Grunde haben sie damit Recht. Aber es gibt auch Dinge, die sich meinem Talent verschließen. Wirklich und echt verlorene Sachen.

Der unachtsam abgestreifte Ohrring ist so ein Kandidat. Der will meistens nicht gefunden werden. Falls doch, dann klackert er auch gut hörbar auf dem Fußboden oder im Waschbecken, sobald er sich vom Ohrläppchen löst. Jede Finderin, die etwas auf sich hält, wird den Ohrring dann unter dem Badezimmerschrank oder aus dem Abfluss retten. Auch wenn sie vorher erst einmal die Rohrzange finden muss, die aus unerklärlichen Gründen nicht im Werkzeugkoffer liegt, wo sie eigentlich hingehört.

Aber oft genug verschwindet ein Ohrring lautlos und auf Nimmerwiedersehen. Das hat er mit den linken Socken gemein, die sich auch so gerne in irgendwelchen Ritzen verkriechen und erst wieder auftauchen, wenn sein rechtes Pendant längst zum Schuhputzen abkommandiert ist.

24. November – Etymologie

Ein Blick ins etymologische Wörterbuch kann mir mit seiner Etymologie den ganzen Tag verhageln. Wie interessant es auch immer ist die Herkunft der Wörter unserer Sprache zu verstehen und zu durchdringen. Bei der Herleitung des einen oder anderen Wortes läuft es mir eiskalt den Rücken herunter.

Zum Beispiel bei dem Wort ‚glauben‘. Das lässt sich nachweisen aus dem Althochdeutschen ‚gilouben‘ und hat tatsächlich mit dem Laub zu tun. Hergeleitet aus dem Locken von Tieren mit einem Büschel Laub in der Hand, bedeutet es vertrauen, vertraut machen bzw. ursprünglich handzahm machen.

Einer, der glaubt, ist also einer, der auf das Laubbüschel in der Hand des anderen setzt, im schlimmsten Falle hineinfällt. Einer, der sich einfangen lässt, locken lässt, mit der Gier nach Futter verführen lässt. Glauben hat also mit der Aufgabe von Autonomie zu tun. Glauben bedeutet, ich überlasse anderen, mich zu nähren – sie haben die Oberhoheit über mein Leben, meine Gedanken, meine Entscheidungen.

Selber denken und sich selber vertrauen, auf die eigenen Erfahrungen hören wird aus Gründen der Bequemlichkeit aufgegeben. Sobald ich glaube, bin ich handzahm geworden und folge somit den Interessen eines anderen. Irgendwie erschreckend. Oder?

23. November – Vergeben und vergessen

Unsere Gehirnzellen ebenso wie unsere Seele sind auf Vergessen programmiert. Wir wollen und sollen uns nicht an jede Kleinigkeit erinnern.

An das Schöne, Wahre, Gute erinnern wir uns fast immer gern. Aber auch die Erinnerung an das Hässliche, Verlogene, Böse kann uns lieb sein. Schließlich gibt es keine bessere Methode um alte Feindschaften zu pflegen und uns dennoch auf der Seite des Rechts zu fühlen. Wenn wir schon hassen dann mit Grund.

Aber welcher Grund gilt? Betrogen worden zu sein, belogen worden zu sein, geschlagen und verletzt worden zu sein, missachtet und gequält worden zu sein? Ist es nicht dennoch unsere Verantwortung zu verzeihen und aus dem Kreislauf von Wut und Zerstörung auszubrechen. Einem Opfer mag dieser Schritt leichter fallen als dem Täter.

Denn ein Opfer leidet spürbar, der Täter verbirgt sich im schlimmsten Falle hinter Rechtschaffenheit, aber auf jedem Fall hinter dem Gefühl von Macht und Stärke, das ihm seine Taten verschafft hat. Ein Opfer verbirgt sich nur hinter seinem Leiden. Das ist unangenehm und grausam. Darüber hinauszuwachsen ist die Chance zum Leben.

Denen zu vergeben, die nicht um Vergebung bitten, die halsstarrig an der Richtigkeit ihrer Taten festhalten, die sich jeglichem Mitgefühl verweigern. Das wird uns Überlebenden abverlangt, um zum Leben zurückzukehren. Mögen wir dankbar für die Gnade der Vergebung sein, die wir die Macht haben zu gewähren.