12. Juni – Der Zwerg

Es war einmal ein Zwerg, der wohnte im Land der Riesen. Dort fühlte er sich immer klein, unnütz und hässlich. Die Riesen verspotteten ihn und machten Weitwurf mit ihm oder steckten ihn in eine Showkanone und schossen ihn damit in einen Riesendunghaufen. Es war ein elendes Leben.

Und der Zwerg jammerte und haderte: „Es ist ja so gemein, was diese Riesen mir antun“. Jeden Tag betete er: „Lieber Gott, rette mich aus dieser gräßlichen Lage!“

Eines Tages hatte Gott ein einsehen. Er nahm den Zwerg und setzte ihn in die Welt der Zwerge. Plötzlich war der Zwerg nichts Besonderes mehr, er war nicht größer, nicht kleiner, nicht schöner, nicht hässlicher als all die anderen Zwerge um ihn herum.

Da begann er sich zu fürchten. Wo waren die Beschimpfungen und Demütigungen, wo die Kanonenschüsse und Weitwürfe geblieben? Welchen Sinn hatte sein Leben jetzt noch?

Also heuerte der Zwerg bei einem Zirkus an, der Zwergenweitwurf zeigte, Zwerge mit Kanonen in Dunghaufen schoss und alberne Zwergenclowns über sich selbst lustig machen ließ. Aber im Zwergenland wollte keiner diesen merkwürdigen Zirkus sehen.

So kehrte der Zwerg in dem Zirkus zu den Riesen zurück und führte nun freiwillig die Nummern auf, mit denen er damals gedemütigt wurde. Aber eines Abends trat er vor seinen Wohnwagen und schaute hinauf zu den Sternen.

Da wurde ihm klar, dass er endlich wachsen musste. So ließ er den Zirkus hinter sich und kehrte nie wieder ins Land der Riesen und Zwerge zurück.

11. Juni – Tierische Gartenparty

Du denkst vielleicht, dass es nachts in Deinem Garten völlig ruhig und gesittet zugeht. Die Vöglein haben sich alle schlafen gelegt, die Würmer räkeln sich endlich unbekümmert in der Erde und sogar die Bienen, Hummeln und sonstigen Flieg- und Krabbeltiere haben sich zur Nachtruhe begeben. Aber in Wahrheit ist es aus einem ganz anderen Grunde so ruhig.

Der kleine Maulwurf hat wie jede Nacht außer montags in seinen Nightclub geladen. Die Grillen spielen auf zum Tanz, die Glühwürmchen leuchten, was die Hinterleiber hergeben und alle Tiere, die tagsüber brav ihren Aufgaben nachgehen, scheren sich einen Dreck um all das, was gemeinhin von ihnen erwartet wird. Die Vögel und die Würmer stehen einträchtig an der Bar und schlürfen einen leicht vergorenen Nektar, die Motten summen zur Musik und die Igel legen mit den Mardern eine kesse Sohle aufs Parkett.

Nur die Schnecken treffen meist zu spät ein, weil sie solange überlegen, ob sie heute als Männchen oder Weibchen kommen. Manchmal dürfen sogar ein paar Hauskatzen mitfeiern. Die sind ja bekannt für ihre Diskretion und Verschwiegenheit. Und wenn er besonders gut gelaunt ist, dann spielt der Maulwurf ein Lied auf seiner Stehgeige und singt dazu.

Meistens ist die Party dann so gegen Mitternacht schon vorbei, manchmal auch erst um drei Uhr morgens. Dann schlafen die Tiere wirklich. Der nächste Tag verlangt ja wieder allerhand tierisches Gehabe von ihnen. In Brehms Tierleben steht darüber natürlich nichts. Für uns Menschen muss schließlich alles seine Ordnung haben. Und daran wird auch nicht gerüttelt.

10. Juni – Lottogewinn

Sergej ist völlig aus dem Häuschen! Seit fast zwanzig Jahren spielt er regelmäßig Lotto und wenn er ehrlich ist, so richtig hat er nie daran geglaubt, dass überhaupt jemals irgendjemand richtiges Geld gewinnt. Aber jetzt, er kann es kaum fassen.

Ludmilla tanzt schon auf dem Tisch. Das große Los, ein Sechser mit Zusatzzahl und Superzahl. Ein paar Millionen werden das bestimmt. Wie gut, dass die Kinder nicht zu Hause sind. Besser wenn die nichts erfahren. Sonst weiß es am Ende jeder und Sergej muss aller Welt Geld schenken oder Geld leihen.

Er möchte diese peinlichen Situationen nun wirklich vermeiden. Aber das Haus können sie abbezahlen, auf einen Schlag. Und es ist genug für das Studium der Mädchen da. Und Ludmillas Mutter kann endlich in eine anständige Wohnung ziehen.

Aber natürlich, alles muss in Ruhe bedacht werden. Ein neues Auto wäre auch schön. Nur die Fragen, die bohrenden Fragen von den Verwandten und Arbeitskollegen.
„Nein, nein. Sei nur vorsichtig, Sergej“, tadelt er sich selbst.

Dann springt Ludmilla vom Tisch auf und holt den Krimskoye aus dem Kühlschrank. Immer noch vor Freude trällernd stellt sie die Sektflöten auf den Couchtisch.

„Los mach auf!“, fordert sie Sergej auf.

„Warum haben wir so teuren Sekt im Haus?“, braust Sergej auf.

„Ach Lieber“, Ludmilla sinkt ihm auf den Schoß, „ich habe doch geträumt, dass es so kommt. Was denkst du? Mach’ dir nicht soviel Gedanken. Es wird alles gut!“

8. Juni – Loslassen

Weißt du noch, wie du als Kind Fahrradfahren gelernt hast? Erinnerst du dich noch daran, wie du auf dem Rad saßest, das erste Mal ohne Stützräder. Deine Mutter oder dein Vater lief neben dir her, hielt das Rad durch einen sicheren Griff unter den Sattel stabil, rief dir zu: „Treten, treten, nicht aufhören!“

Und immer, wenn deine Mutter oder dein Vater losgelassen hat, hast du aufgehört zu treten, das Gleichgewicht verloren und bist beinahe umgefallen.

Falls es dein Vater war, der dir Fahrradfahren beigebracht hat, dann war er vielleicht ein bisschen so wie meiner, nämlich ungeduldig.

Warum lernt das Kind so etwas Einfaches wie Fahrradfahren nicht. Dauernd fällt es wieder um, und ich sag doch noch: „Nicht umfallen, nicht aufhören zu treten!“

Aber obwohl er irgendwann wütend wurde und obwohl ich es wirklich schwierig fand dieses Radfahren, nahezu unmöglich, so wollte ich es doch unbedingt lernen.

Also sah ich über meine Angst, die Wut und Ungeduld meines Vaters hinweg und versuchte es weiter – und dann, plötzlich konnte ich es.

Tat es in Wahrheit schon eine ganze Weile, weil mein Vater einfach so außer Puste war, dass er nicht mehr nebenherlaufen und dabei noch unnütze Anweisungen rufen konnte.
Er hat also einfach losgelassen, ohne dass ich es mitbekommen habe. Und als ich es dann merkte, fuhr ich zwar einen kleinen Schlenker vor Schreck, aber ich konnte doch mein Gleichgewicht halten und trat einfach weiter in die Pedale. Ich fuhr ganz allein Fahrrad!

War das großartig!

7. Juni – Urlaubsgeld

Bettina sitzt am Küchentisch und zählt das Kleingeld aus der Mariacron 3 Liter Magnumflasche. Dort wirft sie seit ein paar Jahren alle kleinen Münzen hinein, die sie übrig hat. Manchmal verirrt sich sogar ein Euro dazu. Und wenn die Flasche voll ist, hat sie sich vorgenommen, wird sie von dem Geld in Urlaub fahren.

Heute ist es soweit, die Münzen drohten schon oben heraus zu purzeln, sie hat die Flasche umgekippt und macht jetzt lauter Häufchen mit Eincentstücken, Zweicentstücken, Fünf-, Zehn- , Zwanzig-, Fünfzigcentmünzen, ein bescheidener Stapel Eineuromünzen prangt in der Mitte.

Es dauert elend lange, bis sie alle Münzen fein säuberlich sortiert hat, ein paar alte Centimes und Pfennige wirft sie wieder zurück in die Flasche. Die Zungenspitze zwischen den Zähnen stapelt sie jeweils 10 gleiche Münzen aufeinander. Sobald sie damit fertig ist, steht der Tisch voller Geldstapel. Sie zählt das Geld.

Es sind 9, 86 Euro in Eincentmünzen, 17,02 Euro in Zweicentstücken, 10,55 Euro in Füncentmünzen, die Zehn-, Zwanzig- und Fünfzigcent ergeben zusammen 23,70 Euro und dann hat sie 19 Eineuromünzen.

Na, das wird aber ein kurzer Urlaub!

2. Juni – Gesines Leben

Gestern besuchte mich eine Freundin und sagte: „Du, borg mir doch mal eben dein Leben aus.“

Ich musterte sie von oben bis unten. Sie sah aus wie immer, hennagefärbtes Haar, wilde Locken, Ringelpulli, Cordhose, zwei nicht zusammenpassende Socken in offenen Sandalen, Gesine eben. Nur ihre Augen hatten heute so einen merkwürdigen Glanz.

„Was willste denn damit?“, fragte ich.

„Jetzt sei doch nicht so. Als wollte ich jetzt irgendwas Besonderes oder so. Nur heute, ehrlich.“

Sie schaute mich ungeduldig an. Ich zuckte mit den Schultern, schüttelte leicht den Kopf.

„Hm, nö!“, sagte ich. „Mein Leben geb’ ich dir nicht.“

Gesine kullerte mit den Augen.

„Das hab ich mir doch gleich gedacht, dass du wieder soo bist. Da brauche ich einmal deine Hilfe. Echt jetzt.“

„Wie, wieder soo? Außerdem ist mein Leben schon was Besonderes. Kannste Dir nicht einfach ausleihen. Und was mach ich solange? Dein Leben hüten, oder was?“

„Ist doch für’n guten Zweck. Brauch das doch nur heute mal.“

„Aber warum?“

„Na, naja“, Gesine druckste herum, „ist nicht so einfach zu erklären.“

„Dann geb’ ich dir mein Leben erst Recht nicht. Wer weiß, was du damit anstellst. Ne, das geht nicht.“

„Ach menno, ich brauch’ das wirklich nur ganz kurz, heute Abend bring ich’s zurück. Lass dir auch meins als Pfand da.“

Sie ließ nicht locker und ich mich breitschlagen. Wir haben also getauscht.

Natürlich kam Gesine gestern Abend nicht wieder.

Sie ist mit meinem erstklassigen Leben durchgebrannt.

Es wundert mich nicht mehr, wenn ich mir den Saustall so angucke, den sie dagelassen hat.
Bei meinem Glück kommt die wieder, sobald ich alles aufgeräumt und in Ordnung gebracht habe.

Aber bis dahin wundert Euch nicht, wenn ich ab und zu mal verschiedene Socken anhabe. Das passiert einem schnell bei so einem chaotischen Gesine-Leben.

1. Juni – Maries Liste

Marie setzte sich eines Abends an ihren Küchentisch, klappte die leicht abwaschbare Tischdecke um und öffnete die Schublade. Ja, da zwischen alten Einmachgummis und dem Sammelwerk „Fixe Rezepte für die berufstätige Hausfrau“, lag es, das abgegriffene Schulheft von Uwe. Marie kramte es hervor, wühlte weiter nach einem Kugelschreiber.
Keiner da. Sie stemmte sich hoch und schlurfte in den Flur, auf der Telefonbank am Zettelkasten klemmte einer. Zurückgekehrt an den Küchentisch nahm Marie umständlich Platz und schlug das Heft auf.

Auf den ersten paar Seiten standen alte Diktate von Uwe aus der vierten Klasse. Was der immer gekleckst hatte! Sie schüttelte den Kopf. Zu ihrer Zeit hatte es für Kleckse in den Schulaufgaben auf die Pfoten gegeben. Sie blätterte weiter, es folgten einige Aufstellungen von Haushaltsausgaben, die sie eine Weile lang geführt hatte. Endlich eine leere Seite.

Marie strich sie mit der Hand glatt und schrieb in ihrer schönsten Schreibschrift in die Mitte der ersten Zeile „Maries Liste“, darunter teilte sie das Blatt durch eine vertikale Linie in zwei Spalten mit links „Pro Heinz“ und rechts „Contra Heinz“.

Sie starrte eine Weile auf die Blümchentapete vor sich. Und notierte unter „Pro“ „handwerklich begabt“, ihr Stift schwebte über dem Papier, sie stierte an die Wand, nein, es kam nichts mehr, so wandte sie sich der anderen Spalte zu und füllte sie mit „zuviel in Kneipe“, „Weibergeschichten“, „verschwenderisch“, „interessiert sich nicht für meine Bedürfnisse“, „interessiert sich nicht für unsere Kinder“, „hilft nie im Haushalt“, „lässt sich bedienen“, „ist launisch“.

Sie schlug um und teilte das Blatt erneut. „Contra“, sie drückte fest mit dem Stift auf, ohne lange nachzudenken, füllte sie die Rückseite und setzte ihre Liste auf der gegenüberliegenden Seite fort. Sie blätterte zurück „Pro“. Sie nagte an ihrer Unterlippe, sie kaute am Kugelschreiber, dass ihr aber so gar nichts einfiel. Es war doch unmöglich, dass ihr nur ein positiver Wesenszug in den Sinn kam. Endlich schrieb sie „sieht gut aus für sein Alter“ und darunter „Sex meistens ok“.

Dann zuckte Marie mit den Schultern und zählte alle Notizen in der Spalte „Contra“.
Es waren dreiundzwanzig. Dreiundzwanzig Punkte, die gegen Heinz sprachen, nur drei für ihn. Die brauchte sie nicht zu zählen.

Das war katastrophal, ein tausend Mal schrecklicher, als sie erwartet hatte. Sie klappte das Heft zu, legte den Kugelschreiber in gerader Linie daneben.
Dann lief sie ins Schlafzimmer, um Heinz’ Koffer zu packen.

Alles umsonst

Alles umsonst hieß das Thema des Schreib-Wettbewerbs, für den dieser Text entstanden ist. Es geht um Depression und Suizidgedanken – Triggerwarnung

Im Gegensatz zu den Gedanken in meinem Kopf rattern Züge nicht mehr, stattdessen gleiten sie pfeilschnell und nahezu geräuschlos dahin. Die Schaffner heißen Zugbegleiter und sind für den Service am Kunden zuständig.

Dieser Text ist für einen Wettbewerb mit dem Thema ‚Alles umsonst‘ entstanden

Im TGV nach Quimper würde ich nach den allerneuesten und besten Standards des Schienenfernverkehrs ohne Rattern, ohne Zugluft und liebevoll umsorgt von leise sprechendem Servicepersonal reisen, das mich darauf aufmerksam machte, dass ich meine Beine doch bitte nicht in den Gang strecken solle, sondern hinter dem Sitz meines Vordermannes verstauen.

„Alles umsonst“ weiterlesen

Der Laden

Heute findet ihr im Klosteratelier die Kurzgeschichte „Der Laden“. Sie entstand nach meinem Besuch in einem alten Hutgeschäft in Hofgeismar, das wegen Aufgabe geschlossen werden sollte. Die Begegnung mit dem alten, gebeugten Inhaber hat mich zu dieser Erzählung inspiriert.

Er dreht den Schlüssel herum, nachdem er ein letztes Mal das Licht gelöscht hat. Die Regale sind ausgeräumt. Stille senkt sich über den Raum. Die Verkaufstresen ragen wie Mahnmale aus verschlissenem Boden. Dessen Muster kann er seit Jahren nicht erkennen. Er weiß selbst nicht, haben seine Augen ihre Kraft verloren oder sind die Farben einfach nur verblasst, wie nach und nach seine Waren verblasst sind. Die karierten Herrenhüte, die Damenhüte aus Filz und Strick, die edlen Nerzkappen und Zobelmützen.

Diesen Text habe ich auch auf einem Slam gelesen, natürlich nicht gewonnen, aber immerhin doch ein paar Leute zum Weinen gebracht, das war cool.

Vor langer Zeit hat ihn der Laden verschluckt. Da meinte er es noch gut mit ihm. Damals schimmerte die Zukunft rosig. Das schwere, dunkle Eichenfurnier der Einrichtung und die farblich abgestimmte Wandvertäfelung waren der letzte Schrei. Der gewebte Teppich prangte in Gold und Rubin auf tiefem Grund. Seine Frau stand an seiner Seite. Besitzerstolz erfüllte ihn. Endlich ging es aufwärts. Die Kriegsjahre, die Hungerjahre waren vorbei. Die Lehrjahre, die Gesellenjahre hatten sich ausgezahlt. Jetzt brauchten die Leute stolze Hüte, die ihnen sagten: „Du bist wieder wer“. Sie dürsteten nach Pelzkappen, die ihnen zuraunten: „Du wirst niemals wieder frieren“, und nach mondänen Strohhüten – groß wie Wagenräder, die ihnen einredeten: „Du bist tausendmal schöner als deine Nachbarin.“

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Kennst du den Beat?

Klosteratelier Ruth Schilling präsentiert dir heute „Kennst du den Beat“ einen Beitrag zum Poetry Slam, die zornige Hymne einer Frau auf ihrer Nachtmeerfahrt zum Thema Individualität zeigen und Leben. Viel Vergnügen beim Lesen oder Anhören!

Kennst du den Beat, den dein Herz schlägt?
Kennst du den Beat, der deine Bestimmung trägt?
Kennst du den Beat, der durch deine Adern rollt?
Kennst du den Beat, der über alle Grenzen tollt?

Uraufführung von „Kennst du den Beat?“ war im April/Mai 2016, hier eine aktuelle Aufnahme des Textes

Oder bist du leise, einsam, verzagt
Jemand, der wirklich gar nichts mehr wagt
Vernimmst deinen Rhythmus nur noch verhalten
Hängst und klammerst wimmernd am alten
Takt, den dir andere einst vorgegeben,
erfüllst deine Pflicht und verpasst dein Leben.

„Kennst du den Beat?“ weiterlesen