16. September – Maeve stattet einen Besuch ab

Liebe Maeve, Göttin der Verantwortung! Das find ich ja nett von dir, dass du mal vorbeischaust. Richtig klasse siehst du aus in deinem Wallekleid mit Diadem auf roten Haaren und natürlich Schwert und Schild und Täubchen auf den Schultern und gehörnter Kuh neben dir.

Ein bisschen getriezt fühle ich mich ja schon. Aber dann denke ich schnell daran, dass du mich ja unterstützen willst, nicht gängeln. Und ich arbeite ja sowieso gerade am Endlich-Erwachsen-Werden. Und ist das jetzt wirklich noch sooo viel, wofür ich noch keine Verantwortung übernehme, dass du extra zu Besuch kommen musst?

Mmh. Na ja, So ein, zwei Dinge fallen mir da schon ein. Peinlich, nicht, dass da immer noch was ist, worum ich mich bisher gedrückt habe. Okay. Ich spuck es aus. Ich bin selbst verantwortlich für mein Dicksein. Kein Mensch hat mich gezwungen so viel zu essen und zu sammeln und mir Schutzschichten zuzulegen, nur damit ich mich nicht mit unerwünschten, unangenehmen, angstmachenden, lästigen Gefühlen herumschlagen musste. Ja, ich habe die Verantwortung für all diese Regungen, die Wut, den Zorn, die Lust, die Lebendigkeit, die Angst, die Wildheit, die Hingabe, die Ach-was-weiß-ich, eben alles, was sich so regt in mir und gerade nicht passt, weil ich mich dann streiten müsste (oh, wie ich Konflikte scheue) oder weil ich dann meine Angst oder Unwissenheit zugeben müsste. Nö, da ist es natürlich viel einfacher noch ne Pizza zu bestellen. Klar, soll sich mein armer Körper mit den ungelebten Gefühlen abplagen.

Na gut, Maeve, das war Nummer eins. Dann zeig mal, was du kannst, und lehre mich Mores, also Verantwortung zu übernehmen. Anstatt zur Gabel greife ich also in Zukunft zu Schwert und Schild und hau den Deppen eine auf die Barnatzel. Wer mich ärgert, muss damit rechnen. Okay, okay, ganz so dolle wird’s nicht, dafür sitzen ja die friedlichen Täubchen auf meinen Schultern und gurren mir was vor: „Bedenke das Ende, gib dich hin, aber bedenke das Ende!“ Ja, ja! Das Rumlavieren soll ich lassen, immer auf die passiv-aggressive Tour einfach Aufgaben „vergessen“, die mir nicht passen anstatt zu sagen: „Mach ich nicht, will ich nicht!“ Wenn ich Raum brauche, mir den einfach zu nehmen anstatt auf eine glückliche Fügung zu warten, die mir die willkommene Ausrede liefert, das zu tun, was ich lieber will.

Gut, gut, Maeve. Schon kapiert! Schnauze auf statt Klappe halten, zu mir stehen, die Folgen tragen. Können ja auch ganz angenehme Folgen sein. Wahrscheinlich sind die sogar superangenehm und ich Idiotin habe aus lauter Schiss all die Jahre darauf verzichtet. Her mit dem Schwert, ich richte es auch nur zu Boden, wie du es tust. Solange die anderen friedlich sind, versprochen.

15. September – Frau mit Jaguar

Eine Freundin von mir hat einen Jaguar. Also nicht das Tier, sondern das Auto. Das ist so ein wirklich schickes, ein klein wenig gefährlich aussehendes Gefährt mit einem springenden Jaguar als Kühlerfigur.

Ihr Jaguar ist ein etwas älteres Modell, fast schon ein Oldtimer. Meine Freundin ist alleinstehend, Single, wie man das neudeutsch nennt, und besitzt außer dem Jaguar noch ein großes Haus mit Doppelgarage und Kenntnisse als Automechanikerin obendrein, anscheinend ist das bei einem alten Jaguar von Vorteil. Ja, richtig, sie ist ein außergewöhnliches Exemplar Mensch.

Nicht jede Frau ist erfolgreich im Job, hat ein großes Haus, ein tolles Auto, kann dieses auch selbst reparieren und sieht darüber hinaus auch noch gut aus. Und entscheidet sich gegen Ehe, Kinder und sonstige familiäre Verpflichtungen. Dabei ist sie nicht unglücklich. Das Klischee vermutet nun eine schlimme Kindheit oder sonstige Traumata als Hintergrund. Aber nein, die Eltern meiner Freundin haben sie stets dazu ermuntert, sich selbst treu zu sein. Und das bleibt sie bis heute: sich selbst treu.

Ab und zu hat sie mal Amouren. So nennt sie das. Aber bisher hat sie keinen Mann getroffen, der mit ihrer Unabhängigkeit über längere Zeit klar kommt. Sicherlich, irgendwo wird es diesen Menschen geben, der schätzen kann, dass meine Freundin vor allem sich selbst treu ist und nicht einem anderen Menschen oder einer Sache.

Wenn ich ehrlich bin, dann bewundere ich sie für ihre Unangepasstheit und dennoch erscheint sie mir oft wie ein Monolith aus dunkler Vergangenheit oder einer unerreichbaren Zukunft, irgendwo in einer Welt gestrandet, die mit ihr rein gar nichts anfangen kann.

14. September – Die Bedürfniserfüllungsmaschine

„Das ist doch wirklich kein großes Ding, du kannst mich doch eben mal rüber fahren zu Klaus!“ Forderung steht in seinem Gesicht, auch Trotz und Empörung über meine Ablehnung. Die Bedürfniserfüllungsmaschine hat heute eine Störung, tut mir leid, mein Sohn, denke ich im Stillen. Und schüttele den Kopf.

„Nein!“

„Ach menno, warum denn nicht?“

Viele Antwortmöglichkeiten schießen mir durch den Kopf. Wilde Lügen wie „Tropfen vom Augenarzt und ich sehe nicht mehr richtig“ oder „Mein Kreislauf ist so down, dass es zu gefährlich ist Auto zu fahren“ fallen mir ein. Aber erstens glaubt mir das mein Sohn ohnehin nicht – ist ja ein schlaues Kerlchen – und zweitens warum soll ich eigentlich lügen?

Natürlich aus Angst. Ich mag nicht zugeben, dass ich nicht will, dass es mich ankotzt, dass ich keinen Nerv auf ‚Supermutter reitet wieder‘ habe. Wann bitteschön ist denn hier in dem Haushalt mal ein bisschen Zeit für mich und meine Bedürfnisse reserviert? Klar, ich bin ja selbst schuld. Erst die Gören so verziehen und dann beschweren.

Aber trotzdem. Die sind alt genug. Und dann gibt es eben Knatsch, dann haben sie Mami eben nicht mehr lieb. Meine Tochter hab ich schon verprellt, weil ich mit ihr partout nicht Gummitwist spielen wollte. Ihre Freundin Karin hat nämlich keine Zeit. Jetzt spielt sie in ihrem Zimmer mit zwei Stühlen, die die Beine der Mitspieler ersetzen. Und jetzt ist also mein Sohn dran. Will gefahren werden, dabei muss er nur aufs Fahrrad steigen und ist in einer halben Stunde bei seinem Kumpel.

Also sage ich: „Weil ich nicht will.“

„Das ist doch voll gemein von dir!“

„Ja, klar“, sage ich. „Ich find es auch voll gemein, dass du dein Zimmer nicht aufräumst und putzt, den Müll nicht rausträgst, vergisst den Teller in die Spülmaschine zu stellen. – Ich will einfach nicht. Ich brauche mal einfach Zeit und Ruhe für mich ohne Fahrdienst, ohne Putzdienst, ohne Spieldienst. Ich bin schließlich nicht nur Mutter und Putzfrau.“

Mein Sohn verzieht sein Gesicht. „Geht die Leier wieder los!“

„Genau, die Leier“, sage ich. „Und ich fahre dich auf keinen Fall. Nimm halt das Fahrrad, geh zu Fuß oder sag Klaus, dass er zu dir kommen soll.“

„Du bist echt blöd“, ruft mein Sohn, dreht sich um und rauscht aus dem Zimmer.

Eine Viertelstunde später schaue ich von meinem Buch auf und sehe die Mutter von Klaus vorfahren. Mein Sohn springt aus der Tür und steigt ein.

„Meine Güte“, stöhne ich, „Mütter aller Länder vereinigt euch doch endlich!“

12. September – Aufgespartes Leben

Es war einmal ein kleines Mädchen, das war das jüngste von 13 Kindern. Und weil die Eltern sehr arme Leute waren, hatten sie für ihr jüngstes Kind kein Leben mehr übrig und es musste das Leben von einer älteren Cousine auftragen, die es nicht mehr brauchte.

Also quälte sich das kleine Mädchen mit dem viel zu großen Leben ab. Seine Eltern hatten zwar ein paar Abnäher reingemacht und Arme und Beine gekürzt so gut es ging. Aber das Mädchen stolperte doch ständig über die losen Enden. Zum Glück fanden die Eltern noch ein altes verstaubtes Leben in einer Truhe unter dem Dach, das war von einer Großmutter übrig. Sie hofften, dass das dem Mädchen vielleicht besser passen würde. Also probierte das Mädchen das Leben an und siehe da, das von der Oma passte tatsächlich besser.

So stolperte es nicht mehr so oft. Die Leute wunderten sich nur manchmal über seine sehr bestimmten Ansichten zu ehelicher Treue, Nacktheit in der Öffentlichkeit und über sein streitbares Verhältnis zum Pfarrer, mit dem es regelmäßig religiöse Fragen erörterte. So wuchs das Mädchen heran und das alte Leben von der Großmutter fiel langsam aber sicher auseinander, wurde immer löchriger und fadenscheiniger. Da machten sich die Eltern Sorgen, wo sollten sie denn bloß noch ein haltbares Leben für ihre jüngste Tochter herbekommen. Ein Leben, das nicht gleich auseinanderriss, wenn mal einer zu laut nieste.

Aber dem Mädchen schien überhaupt nicht bange zu sein. Sie strapazierte das alte Leben der Großmutter nach Herzenslust. Denn das Mächen hatte längst bemerkt, dass die Oma heimlich große Klumpen von Lebensenergie ganz unten in den Taschen versteckt hatte. Das Mädchen wusste nicht so genau warum. Aber dort musste sie nur die Fingerspitzen hineinstecken und schon kribbelte und hippelte es überall an ihr und in ihr. Und so lachte sie nur über die Sorgen ihrer Eltern und ließ es sich wohlergehen mit dem ganzen aufgesparten Leben von der alten Großmama.

11. September – Verlässlich wie die Sonne

Die Sonne scheint doch jeden Tag, auch wenn ich sie nicht sehe. Sie scheint und scheint und scheint. Wäre ja auch dumm, wenn sie damit aufhören würde.

Also gibt es doch etwas auf der Welt, auf das ich mich verlassen kann. Die Sonne scheint und scheint unablässig, wahrscheinlich noch die nächsten paar Milliarden Jahre oder? Im Grunde wurscht, weil ich werde ohnehin nur noch 50, 60 Jahre hier herumleben und meine Kinder und Kindeskinder sind vielleicht in 100 oder 500 oder 10.000 oder in einer Million Jahren ausgestorben. Wer weiß das schon. Also steht für mich fest, dass ich mich immer darauf verlassen kann, dass die Sonne scheint. Prima.

Regen fällt vom Himmel auf die Erde. Auch sowas, worauf ich mich verlassen kann. Klar, mal regnet es quer, wenn es sehr windig ist, aber grundsätzlich fällt Wasser, Schnee, Eis oder Graupel aus einer Wolke, zack, abwärts und tränkt die Erde, vermischt sicht mit anderem Wasser im Meer, in Seen und Flüssen. Überhaupt geht angeblich kein Wasser verloren und wird in einem großen Kreislauf immer wieder und wieder verwendet. Blöd nur, wenn es dabei ganz verunreinigt, belastet oder sowas wird. Aber es geht auf keinen Fall verloren. Noch so ein Mysterium der Verlässlichkeit.

Auch das mit den Äpfeln und den Bäumen scheint zumindest hier auf der Erde so einigermaßen verlässlich, obwohl es das natürlich nicht ist. Falls ich das richtig verstanden habe mit der Relativitätstheorie und der Quantenphysik und den Quarks und den Strings. Was bedeutet das aber dann für die Sonne, die immer scheint, oder für das Wasser, das niemals verloren geht?

Könnte es dann nicht auch sein, dass sogar dies anscheinend verlässliche auf Ebene der Teilchen absolut unsicher ist? Ist es einfach nur Zufall, dass ich, dass wir in einer so sicheren Welt leben? In einer Welt, die uns sicher scheint, weil wir genau für sie gemacht sind und uns an sie gewöhnt haben. Einem methanatmenden Eiswesen, das sich bei Null Grad Kelvin erst richtig wohlfühlt, würde es hier nicht so gefallen. Aber warte nur ab, deine Zeit kommt auch noch.

10. September – Im Wald ist es still

Die Vögel singen nicht mehr. Im Wald ist es still. Die Mücken fliegen lautlos und stechen noch lautloser.

Ab und zu raschelt ein Tier im Unterholz. Ganz selten einmal bricht ein Reh durch. Aber kein Singen. Kein einziger Ton.

Die Vögel sind es leid sich zu produzieren und aufzuspielen, sie jiepen und fiepen nicht mehr, kein jubeln, kein tirilieren, kein schuhuhen und auch kein pfeifen weder eintönig noch melodiös. Einfach Stille.

Bis auf meinen Atem, die Schritte auf dunkler Erde, manchmal raschelndes Laub und dann und wann von ganz weit vorn doch ein merkwürdiges Geräusch, fast ein Pfeifen. Aber es ist nur ein Jogger, der sich für seine Gesundheit abmüht. Kaum erspäht er mich, nimmt er Haltung an und hört auf zu keuchen und zu japsen. Nur die schweren Tritte verraten, dass er sich nicht so häufig diese Tortur aussetzt.

Gamander Ehrenpreis ist längst verblüht, dick und lila prangen verräterisch aussehende Früchte am Gesträuch. Da beginne ich ganz langsam und zögerlich selbst zu pfeifen. Ein bisschen die Tonleiter rauf und runter, ein paar Synkopen, dann Beethoven. Ich werd es euch schon zeigen. Wenn ich Urwaldgeräusche will, dann mache ich mir eben selber welche. Herbst? Keine Lust mehr?

Pah. Ich habe das ganze Jahr Saison.

9. September – Kehraus

Sybille öffnete ihren Kleiderschrank zum großen Kehraus und erschauerte vor den Bergen von schlecht zusammengelegten T-Shirts, Pullovern und Hosen. Wenigstens die Blusen und Jacken hingen einigermaßen in Reih‘ und Glied.
Unterwäsche, Socken, Reizwäsche, halterlose Strümpfe, Strumpfhosen, Stocks lagen kreuz und quer in drei Schubladen. Sie hasste den ganzen Kram. Das war ihr plötzlich klar. In Wahrheit hatte dort nichts die richtige Farbe.

Was um Himmels willen wollte sie mit einem knallroten Abendkleid mit Pailletten? Und was sollten diese schwarzen, grauen, granitfarbenen Hosenanzüge aus Polyester, mal mit mal ohne Nadelstreifen? Weiße Blusen mit Schillerkragen, mit Rundkragen, mit Spitzkragen, mit Rüschen.

Sie fing an auszusortieren. Aber dann besann sie sich. Sorgsam abwägend suchte sie ihre Lieblingskleidungsstücke aus dem Schrank heraus und legte sie aufs Bett. Als sie sicher war, alles gefunden zu haben, stopfte sie alles andere, was noch im Schrank lag oder hing, in zwei große Müllsäcke, knotete sie zu und fuhr zum Altkleidercontainer.

Nur mit großer Mühe schaffte sie es, die schweren Säcke in die Container zu hieven und durch den engen Einfallschlitz zu bugsieren. Als es ihr endlich gelang, klatschte sie in die Hände und fuhr eilig nach Hause. Als Nächstes war der Schuhschrank dran und dann der Geschirrschrank und dann der Bücherschrank. Oh, wie schön, endlich fort mit all dem Ballast. Sybille jubelte und fühlte sich unsagbar frei.

8. September – Mut

Was ist Mut? Normalerweise würde ich sagen, es gibt zwei Arten von Mut. Der Mut aus Dummheit, Unwissenheit, Blindheit geboren. Der Mut desjenigen, der einfach losrennt, ohne an die Folgen zu denken. Der Mut desjenigen, der sich unverwundbar und im Recht fühlt.

Dann gibt es den Mut des Ängstlichen, der die Folgen sieht, die Zweifel spürt und dennoch mutig die Angst überwindet und der Gefahr entgegentritt.

Es gibt aber noch eine dritte Art von Mut, die Demut. Diese schwierigste Form des Mutes, die Königsdisziplin. Nicht leicht zu erringen. Die Kunst dabei ist voller Stolz und Anmut sein Haupt zu senken und nicht daran zu zerbrechen.

5. September – Ein Lied

Wenn ich ein Lied schreiben müsste, dann wäre es dieses:
Please tell me, Big Mind,
who i am?
Please tell me, Big Mind,
please tell me, Big Mind,
please tell me, Big Mind,
who i am?
And Big Mind spoke to me and she said:
Look in a mirror
Look around you
You are these horses and the wheat too
You are the grass and the wind and the trees and the sky above
Look in a mirror
Look around you
You are these horses and the wheat too
You are all of them and one of them, always good enough
Bitte sag mir, Big Mind,
wer ich bin?
Bitte sag mir, Big Mind,
Bitte sag mir, Big Mind,
Bitte sag mir, Big Mind,
wer ich bin?
Und Big Mind sprach zu mir und sie sagte:
Schaue in einen Spiegel
Schau dich um
Du bist diese Pferde und der Weizen ebenfalls
Du bist das Gras und der Wind und die Bäume und der Himmel darüber
Schaue in einen Spiegel
Schau dich um
Du bist diese Pferde und der Weizen ebenfalls
Du bist alle von ihnen und eine von ihnen, immer gut genug

31. August – Sonntagswetter

Sonntagswetter. Hoch das Blau mit weißen Schlieren. Golden leuchtet die Abendsonne. Sie gibt dem Gras noch einmal diesen hellgrünen, frühlingshaften Farbton, obwohl bereits fast alles abgeerntet ist und die Felder mit blanker, aufgeworfener Erde in den Himmel blicken. Langsam lässt die Sauglust der blutgierigen Bremsen nach.

Die feinen Sommerblumen sind längst verblüht und machen jetzt den kräftigen Herbstfarben Platz. So schnell geht dieses Jahr die Zeit des Wachsens und der Reife vorbei. Trauer erfasst mich. Was nützt das Wissen, dass es nächstes Jahr wieder Frühling und Sommer geben wird.

Erfüllt bin ich nun von Abschied.

30. August – Ein lauter Pfiff

Ein lauter Pfiff schrillte in Jennys Ohren. Aber sie drehte sich nicht um. Sie kannte das bereits. Immer wenn sie an dieser Baustelle vorbeikam, hörte sie die anzüglichen Bemerkungen, die Pfiffe und oft auch Gejohle.

Es war nicht so, dass Jenny irgendwie besonders sittsam oder prüde gewesen wäre. Vielleicht hätten ihr die Zurufe sogar Spaß gemacht, wenn sie von einigermaßen hübschen Männern gekommen wären.

Aber die Bauarbeiter waren entweder uralt, mit schlechten Zähnen, genauso breit wie hoch und einfach ungepflegt oder aber jung und ungelenk und pickelig. Kein einziger war darunter, der auch nur halbwegs annehmbar aussah. Aber sie hatten keinerlei bedenken einer Frau hinterherzupfeifen, die für sie sicherlich immer unerreichbar bleiben würde, außer in ihren Phantasien natürlich.

Da drehte sich Jenny einer plötzlichen Eingebung folgend um.

Die Pfiffe verstummten schlagartig. Die Männer schauten einander betreten an.

Jenny machte ein paar Schritte auf sie zu, warf sich in Pose und musterte die Kerle herausfordernd.

Einer begann sich verlegen die Hände an der Hose abzuwischen, ein anderer griff schnell nach einem Werkzeug und verschwand im Inneren des Gebäudes, zwei weitere schauten betreten zu Boden und der picklige Lehrling lief knallrot an. Keiner wagte auch nur einen Mucks.

Da lächelte Jenny zufrieden und marschierte davon.

29. August – Jeder bemüht sich, so gut er kann

Jeder bemüht sich, so gut er kann. Das ist schließlich eine allseits anerkannte Tatsache. Was denn auch sonst? Niemand möchte freiwillig ein Idiot sein oder schlecht in Sport oder dumm in Mathematik.

Aber trotzdem gelingt nicht jedem alles gleich gut. Das ist wiederum gar nicht so schlecht, vor allem im Hinblick auf Individualität und Persönlichkeit und auch die Würde des Einzelnen, die doch unantastbar sein soll. Zumindest solange die Fernsehkameras ausgeschaltet sind und solange es sich mit der Geschäftspolitik vereinbaren lässt.

Das offenbart: Mit der Würde ist das auch so eine dehnbare Sache. Dehnbar wie zum Beispiel die Freiheit. Wir leben in Freiheit, selbstverständlich. Trotzdem haben wir unsere Freiheit selbst ein wenig eingeschränkt im Namen des Volkes. Was ja auch gut und richtig ist.

Denn wo kommen wir denn da hin, wenn jeder seine Bäume fällt, wie er lustig ist, oder womöglich lila Dachziegel eindecken lässt. Oder – Gott behüte – irgendjemand einfach so ein fraktales Haus baut oder ein kugelförmiges, womöglich in einem Wohngebiet, in dem sogar Dachgauben abgelehnt werden, wenn nicht kleine in völliger Freiheit angebotene Gefälligkeiten an entsprechender Stelle dargebracht werden.

Gedanken, die sind frei, solange sie keiner ausspricht selbstverständlich. Das könnte schon so ein klein wenig problematisch werden, wenn jetzt jeder meint, er könne seine Meinung einfach so äußern und würde damit sogar noch Gehör finden. Außerdem wollen wir ja auch keinen verletzen. Und so bleibt die Wahrheit schon manches Mal auf der Strecke.

Wer möchte schon gerne hören: „Du hast aber zugenommen“, oder „Früher hattest du aber mal mehr Haare.“ Und das sind harmlose Wahrheiten, die uns schon nicht über die Lippen kommen. Solche offensichtlichen Makel auszusprechen ist vielleicht noch Kindern oder Betrunkenen gestattet.

Aber die kleinen, gemeinen Geheimnisse, die hinter jeder Fassade lauern. Wer deckt die auf?

Niemand.

Und so sitzen alle in ihren Kammern und fürchten allein zu sein mit ihren schrecklichen Wahrheiten.

Dabei geht es uns doch allen so. Und wir müssten niemals allein sein im Angesicht der Wahrheit. Und trotzdem wählen wir lieber die Lüge, die uns trennt, die uns das Gesicht wahren lässt.

Nun ja, jeder bemüht sich eben, so gut er kann.