12. September – Aufgespartes Leben

Es war einmal ein kleines Mädchen, das war das jüngste von 13 Kindern. Und weil die Eltern sehr arme Leute waren, hatten sie für ihr jüngstes Kind kein Leben mehr übrig und es musste das Leben von einer älteren Cousine auftragen, die es nicht mehr brauchte.

Also quälte sich das kleine Mädchen mit dem viel zu großen Leben ab. Seine Eltern hatten zwar ein paar Abnäher reingemacht und Arme und Beine gekürzt so gut es ging. Aber das Mädchen stolperte doch ständig über die losen Enden. Zum Glück fanden die Eltern noch ein altes verstaubtes Leben in einer Truhe unter dem Dach, das war von einer Großmutter übrig. Sie hofften, dass das dem Mädchen vielleicht besser passen würde. Also probierte das Mädchen das Leben an und siehe da, das von der Oma passte tatsächlich besser.

So stolperte es nicht mehr so oft. Die Leute wunderten sich nur manchmal über seine sehr bestimmten Ansichten zu ehelicher Treue, Nacktheit in der Öffentlichkeit und über sein streitbares Verhältnis zum Pfarrer, mit dem es regelmäßig religiöse Fragen erörterte. So wuchs das Mädchen heran und das alte Leben von der Großmutter fiel langsam aber sicher auseinander, wurde immer löchriger und fadenscheiniger. Da machten sich die Eltern Sorgen, wo sollten sie denn bloß noch ein haltbares Leben für ihre jüngste Tochter herbekommen. Ein Leben, das nicht gleich auseinanderriss, wenn mal einer zu laut nieste.

Aber dem Mädchen schien überhaupt nicht bange zu sein. Sie strapazierte das alte Leben der Großmutter nach Herzenslust. Denn das Mächen hatte längst bemerkt, dass die Oma heimlich große Klumpen von Lebensenergie ganz unten in den Taschen versteckt hatte. Das Mädchen wusste nicht so genau warum. Aber dort musste sie nur die Fingerspitzen hineinstecken und schon kribbelte und hippelte es überall an ihr und in ihr. Und so lachte sie nur über die Sorgen ihrer Eltern und ließ es sich wohlergehen mit dem ganzen aufgesparten Leben von der alten Großmama.