25. September – Ogülko

Ogülko war ein wunderschönes Mädchen. Ihre Mutter Japanerin, der Vater Deutscher. Ein wundersamer Zufall hatte ihr nur die besten Eigenschaften beider Eltern verliehen. Und so war sie nicht nur wunderschön, sondern auch klug und fleißig.

Ogülko konnte gar nichts dafür, aber überall wo sie hinkam, war sie der Star. Wenn sie den Raum betrat, strahlte plötzlich der ganze Raum. Die Männer vergaßen, was sie sagen wollten und meistens auch den Mund wieder zuzuklappen, die Frauen zuckten entweder mit Augenbrauen und Schultern und taten gleichgültig oder erlagen sofort Ogülkos Charme und suchten ihre Nähe, ihr Strahlen, ihre Freundschaft und Liebe.

Auf Ogülko hatte dieses Verhalten der anderen Menschen auf sie eine unerwartete Wirkung. Es machte sie unglücklich. Oft hatte sie das Gefühl, die Menschen sähen nur das wunderschöne Bild von ihr und nicht sie selbst. So sehnte sich Ogülko verzweifelt danach, endlich erkannt zu werden. Jeden Morgen bat sie darum, dass endlich jemand erkennen möge, wer sie wirklich ist. Eines Tages ging sie durch die Fußgängerzone. Die Menschen reagierten wie immer auf sie. Die Männer drehten die Hälse, die Frauen auch oder sie schauten demonstrativ woanders hin, zupften ihren Begleitern am Ärmel und machten abfällige Bemerkungen.

Aber etwas war doch anders diesmal. Ogülko konnte es anfangs nur spüren. Und dann sah sie es. Dort am Wegesrand saß eine alte Frau in einem weiten Mantel mit einem schwarzen Hund neben sich und schaute Ogülko mitten ins Herz. Ogülko blieb stehen, dann machte sie ein paar Schritte und setzte sich im Schneidersitz der Frau gegenüber auf den Boden. Die Blicke der Menschen um sie herum erloschen plötzlich, die Menschen gingen wieder ihres Weges, als existiere sie gar nicht. Ogülko atmete auf und lächelte die alte Frau an. Die nahm Ogülkos Hand und sagte zu ihr:

„Hab keine Angst, meine Kleine, du wirst noch viele Menschen treffen, die dich erkennen wollen. Dir mag es vielleicht so erscheinen, dass nur du auf einen Aspekt deiner Persönlichkeit reduziert wirst und das an deiner Schönheit liegt. Aber das widerfährt einem jeden. Schau, dieser Mann dort im teuren, blauen Anzug mit seinem Aktenkoffer, wie er eilig aus der Mittagspause zurück ins Büro eilt. Würdest du glauben, dass er nachts elegische Gedichte schreibt und an den Wochenenden regelmäßig Frau und Kinder prügelt? Oder hier, diese Frau, du würdest sie für arm und unglücklich halten in ihren abgerissenen Kleidern. Aber sie ist eine große Künstlerin, sie ist voller innerem Reichtum und nicht nur das, sie ist sogar wohlhabend, hat eine Familie, ein großes Haus, ist umgeben von Menschen und Dingen, die sie liebt. Nur Kleidung ist ihr gleichgültig, sie läuft immer noch herum wie eine ewige Studentin. Es wird Zeit, dass du durch die erste Reaktion der anderen Menschen auf deine Erscheinung hindurchschaust. Lerne die anderen richtig zu sehen und du wirst merken, dass auch du erkannt wirst.“

Ogülko dachte eine Weile über die Worte der alten Frau nach. Dann nickte sie. Plötzlich bemerkte sie, dass die Frau eine gelbe Binde am Ärmel trug mit drei schwarzen Kreisen darauf zu einem Dreieck angeordnet. Der schwarze Hund neben ihr trug das Geschirr eines Blindenhundes. Überrascht schaute sie der alten Frau in die trüben, grauen Augen.

„Und doch siehst du alles!“, flüsterte Ogülko.