26. Dezember – Mit anderen Augen sehen

Hildegunde hatte so oft diesen dummen Spruch gehört, mit anderen Augen sehen. Meistens sehr tadelnd von ihrer Großmutter. „Das musst du mit anderen Augen sehen, Kind!“

Aber Hildegunde hatte das nie verstanden. Sie hatte nun einmal nur ihre eigenen Augen. Wie sollte sie durch die von einem anderen gucken? Sie sah ja noch nicht einmal klar, wenn sie nur die Brille ihrer Oma ausprobierte.

Was dachte Oma denn, was geschehen würde, wenn sie sich ihre Augen ausleihen würde? Wäre die Welt dann rosarot oder kanariengelb. Würde sie den Fritz von nebenan plötzlich ganz passabel finden und nicht schlotternd hässlich mit seinen Pickeln, dem leichten Sabber in den Mundwinkeln und dem feuchten Händedruck. Oder Jonny, fände sie den dann plötzlich gefährlich und unheimlich, nur weil er ein oder zwei Tätowierungen hatte – das waren die, die Oma gesehen hatte – und gerne Motorrad fuhr.

Dabei war Hildegunde (diesen blöden Namen hatte sie auch ihrer Großmutter zu verdanken) so stolz auf ihre Augen – katzengrün wie Jade mit kleinen orangefarbenen Einsprengseln. Und doch – dieser dumme Spruch ließ Hildegunde einfach nicht los. Wie sollte sie bloß mit anderen Augen sehen? Und was würde sie dann sehen? Mit Omas Augen, das konnte sie sich noch vorstellen, da wäre die Welt einerseits verschwommen und doch wohlgeordnet, feststehend, glasklar.

Oma musste nämlich gar nicht mehr erkennen, um sich eine Meinung zu bilden. Auch mit dem Zuhören haperte es bei ihr seit langem. Den Fernseher stellte sie immer so laut, dass Hildegunde in ihrem Zimmer aus der Hängematte fiel vor Schreck. Tja, also die Welt mit Omas Augen zu sehen, das probierte noch nicht einmal Oma selbst aus, dachte Hildegunde. Denn sie konnte ja nur noch schlecht sehen. Und andere Augen borgte sich Oma auch niemals.

Hildegundes Blickwinkel war der Oma ohnehin nicht geheuer, nein, sogar völlig suspekt. Dabei sah Oma völlig falsch. Der Fritz von nebenan war nämlich kein anständiger Junge, wie die Oma glaubte, nein, das war ein kleiner Fummler, Spanner, den Mädchen unter den Rock-Spicker. Bei dem schauderte es Hildegunde gewaltig. Von ihm erwartete sie viel eher, dass er heimlich irgendwelche Frauen entführte und im Keller mit der Axt zerstückelte. Aber Oma behauptete steif und fest, das sei garantiert Jonnys Hobby, so wie der aussähe.

Dabei war Jonny ein ganz sensibler Typ, mehr so ritterlich gegenüber Frauen und Mädchen. Deshalb bestand er auch darauf, Hildegunde nach der Disco heimzubringen, damit ihr nichts passierte. Tja, aber irgendwie kapierte Oma das nicht. Die zeterte eben lieber und sah nur die Vorstellungen in ihrem Kopf.