5. März – Karl

Karl saß unschuldig im Knast. Er hatte längst aufgehört sich über die Umstände seiner Inhaftierung, die Schlamperei seines Anwaltes während des Prozesses und die Treulosigkeit seiner Familie aufzuregen.

Stattdessen hatte er nur wenige Wochen, nachdem er seine Zelle bezogen hatte, damit begonnen einen Tunnel in die Freiheit zu graben. Jeden Tag beim Hofgang hatte er den Schutt aus Löchern in seinen Taschen durch die Hosenbeine ausgeleert. Natürlich war das mühsam, aber er hatte Zeit. Und natürlich war das gefährlich, aber er glaubte, keine andere Wahl zu haben. Also buddelte er.

Inzwischen schon über 9 Jahre. Er hatte sich an das Leben im Gefängnis gewöhnt. Manchmal gefiel es ihm sogar. Jedenfalls einige seiner Mithäftlinge waren in Ordnung. Entgegen dem Klischee, behauptete hier keiner von sich, unschuldig zu sein. Die Gefangenen unterschieden sich vor allem darin, dass sie entweder bereuten oder prahlten.

Die mit ihren Taten prahlten, konnte Karl nicht leiden. Mit den Reuigen kam er besser klar. Ein paar davon waren seine Freunde geworden. Trotzdem konnte er es sich nicht erlauben, sie ins Vertrauen zu ziehen. Die Gefahr war einfach zu groß, entdeckt zu werden. Es war schwer genug, die Zellendurchsuchungen zu überstehen, dafür zu sorgen, niemals verlegt zu werden. Ganz davon abgesehen, dass ständig die Gefahr bestand, dass der Tunnel einstürzte. Aber wenn Karl eines war, dann hartnäckig.

Und eines Tages, war es endlich so weit. Nach Einschluss würde er endlich abhauen. Es fiel im sehr schwer, sich wie immer zu benehmen. Innerlich bebte und zitterte er. Es tat ihm leid, dass er niemandem Aufwiedersehen sagen konnte. Nein, er konnte es sich einfach nicht leisten, jetzt einen Fehler zu begehen.

Er arbeitete in der Gefängnisbibliothek und sortierte gerade die zurückgegebenen Bände ein. Routiniert schob er den Rollwagen voller Bücher durch die Regalschluchten, als plötzlich ein Schließer auf ihn zukam. Karl erschrak. Einen Augenblick vergaß er zu atmen. Dann erinnerte er sich daran: Locker bleiben. Also griff er nach dem nächsten Buch und stellte es an seinen Platz.

„Seifert, mitkommen!“, sagte der Schließer nur.

Und Karl ließ alles stehen und folgte ihm. So ein Elend, jetzt hatten sie den Tunnel doch entdeckt. Karl überlegte, ob es irgendeine Chance gab, sich doch noch herauszuwinden. Nein, keine. Diese Entdeckung bedeutete für ihn harte Strafen, Haftverschärfung und er würde niemals wieder Gelegenheit haben, einen Tunnel zu graben. Ein wichtiges Element seines Planes, war es schließlich sich stets gut zu führen, um niemals aufzufallen, niemals in Verdacht zu geraten. Irgendetwas hatte er wohl doch falsch gemacht.

Der Wachmann schloss Karls Zelle auf. Der Schlüssel klirrte laut, die Tür knarrte schwer.

„Los rein da,“ befahl der Schließer, als Karl zögerte. Also ging Karl voran in seine Zelle und stellte sich mit dem Rücken zum Fußende vor seine Pritsche.

„Packen Sie Ihre persönlich Habe zusammen. Sie werden entlassen.“

Karl sackte fast zusammen.

„Was?“

„Machen Sie schon!“

Der Ton war barsch. Karl wandte sich ab. Dann begann er seine Bücher einzusammeln, Briefe, ein paar Fotos und Postkarten. Ansichten von der Welt dort draußen. Seine Hände zitterten. Er hatte gar nichts, wo er die Sachen hineintun konnte. Schließlich wickelte er alles in seinen Sweater und band es mit den Ärmeln zu einem Bündel zusammen, das er sich unter den Arm klemmte.

„Kommen Sie!“, schnauzte der Wachmann.

Der klang immer wütender. Vielleicht gefiel es ihm nicht, jemanden frühzeitig zu entlassen. Ihn ließ schließlich auch keiner raus. Also folgte Karl dem Wachmann dicht auf den Fersen. Einen letzten Blick warf er noch zurück auf die Zelle. Dann trat er in den Gang. Die Tür schlug zu und wurde verschlossen. Der Wachmann führte Karl durch viele Türen und Schleusen ins Erdgeschoss in den Ausgangsbereich. Dort musste Karl kurz warten, dann wurde er von einer resoluten Dame aufgerufen.

Als er ins Büro trat, bat sie ihn, Platz zu nehmen. Sie war sehr höflich und ihre Stimme zwar fest und klar, aber nicht unangenehm.

„Hier sind Ihre Entlassungspapiere! Sie haben vermutlich Anspruch auf Haftentschädigung. Am besten suchen Sie sich einen Anwalt, der Sie in diesem Falle vertritt.“

Und so ging es noch fast eine halbe Stunde weiter. Karl fiel ein, dass die Bücher noch unsortiert auf dem Karren im Gang der Bibliothek standen. Dann war es endlich soweit.
Er hielt seine Papiere in der Hand, hatte seine persönlichen Sachen, seine Straßenkleidung wiederbekommen. Die Sachen schlotterten an seinem Körper. Aber das war ihm gleichgültig. Am schönsten war es, wieder gute Schuhe zu tragen. Er knöpfte sich den Mantel zu, als er vor die Tür trat. Es war kalt. Es roch nach Schnee. Er nahm einen tiefen Atemzug.

Dann ging er fort und blickte nicht mehr zurück.