14. Dezember – Familienfeier

Familienfeier. Die ganze Familie sitzt um den Tisch. Die Kinder mit ihren Ehepartnern und Kindern, die Onkel und Tanten. Und am Kopfende thront der Vater, der Älteste der ganzen Sippschaft.

Mit mildem Blick schaut er auf das Gewimmel vor ihm. Er sieht die Menschen nur noch undeutlich. Gut, dass er sie so lange schon kennt und deshalb auch an den Umrissen und Stimmen erkennt. Gerade erzählt sein Schwiegersohn eine lustige Geschichte. So ganz genau versteht er nicht, worum es eigentlich geht. Denn mit dem Hören ist es bei ihm auch nicht mehr so weit her. Ein paar Brocken schnappt er auf und dann in einer kurzen Pause, nachdem alle gelacht haben, gibt er selbst eine Geschichte zum Besten.

Er merkt nicht, dass die anderen am Tisch nur müde lächeln, sich unter dem Tisch anstoßen und vielsagende Blicke zuwerfen. Wieder die alte Geschichte, murmeln sie. So oft haben sie die schon gehört. Ist ja schön so ein biblisches Alter zu erreichen, aber wenn man dann so festgefahren ist. Na, so ist das eben, wenn die Sinne nachlassen und nur noch das Langzeitgedächtnis gefragt ist.

Was erlebt so ein Opa denn noch, was er erzählen könnte? Die Tage gleichen sich wie ein Ei dem anderen. Und er merkt es ja nicht. Bald ist es vorbei, dann sind die Feierstunden abgeleistet, die Familie reist wieder ab und der alte Vater wird seinen eintönigen, einsamen Tagen lauschen. Kein Wunder, dass die Vergangenheit ihm näher ist.

13. Dezember – Geduld

Geduld ist nicht meine Stärke. Andere Menschen haben meistens kein Problem zu warten. Aber mir geht es oft zu langsam voran. So ist für mich vieles im Leben eine Geduldsprobe.
Wenn ich beim Arzt im Wartezimmer sitze, wenn ich bei stockendem Verkehr auf der Autobahn unterwegs bin. Dabei geht es gar nicht darum, dass ich unbedingt rasen möchte, nein, ich möchte nur gerne ohne große Behinderung das Tempo fahren, das mir gerade angemessen erscheint. Wenn ich beim Arzt warte, dann stört es mich nicht wirklich, herumzusitzen und in einer Zeitschrift zu blättern oder den anderen Leuten im Wartezimmer bei der Schilderung ihrer Krankheitsgeschichten zu lauschen. Das kann sogar spannend sein, unterhaltsam oder lehrreich.

Wenn es irgendwo nicht vorangeht, habe ich immer das Gefühl, ich vertue meine Zeit. Schließlich könnte ich etwas Nützliches tun. Arbeiten zum Beispiel. Warten ist auf der Nützlichkeitsskala meiner Tätigkeiten jedenfalls ganz unten. Vor allem weil das tatsächliche Ereignis, auf das ich so lange warten muss, meistens rasend schnell vorbeigeht.

Zwei Stunden im Wartezimmer, zwei Minuten Unterhaltung im Sprechzimmer. Zwei Stunden im Stau, zwei Minuten freie Fahrt bis zur nächsten Abfahrt. Ach ja, ich weiß ja, das ist alles nur Einstellungssache. Wer im Hier und Jetzt lebt, der wartet niemals, der sehnt sich auch nicht nach Ereignissen, die in der Zukunft womöglich geschehen werden. Wer im Hier und Jetzt lebt, der genießt jeden Augenblick seines Lebens, nimmt ihn achtsam wahr und lässt ihn ziehen.

Leider bin ich noch nicht so weit das so zu leben. Irgendwie erscheint mir das Warten durch achtsames Wahrnehmen nur noch bewusster und langweiliger. Aber andererseits gewinne ich durch das Wahrnehmen der Unerträglichkeit auch die Möglichkeit etwas zu unternehmen, um in Zukunft nicht mehr so lange warten zu müssen. Schließlich könnte ich den Arzt wechseln oder es überhaupt unterlassen, einen Arzt aufzusuchen. Ich könnte mich beschweren oder Privatzahler mit Anspruch auf Sonderbehandlung werden. Und das alles nur, weil ich so ungeduldig bin?

12. Dezember – Was klopft denn da?

Was klopft denn da? Zwischen Baum und Borke ist ja strenggenommen kein Platz. Dennoch höre ich es dort klopfen. Pock, pock, pock, pock klingt es aus dem Baum, manchmal auch krch, krch, krch.

Was dort so eifrig klopft und schabt, weiß ich nicht. Keine Ahnung. Ein wenig beunruhigend kommt mir das sogar vor. Überall so krabbelige Insekten. Müssen die dann auch noch so einen Lärm machen?

Ich meine, welche Geräuschkulisse wäre das wohl, wenn wir die Milben in unseren Teppichen und Betten hören könnten? Wahrscheinlich klänge das wie New York, Tokio, Singapur und Bombay zusammen. Zum Glück kann ich die Milben nicht hören. Es genügt mir bereits, dass ich vom feinen Staub ihrer Exkremente niesen muss.

Nun klopft es aus dem Baum. Es klopft ausdauernd und unverdrossen. Natürlich könnte ich hingehen und dort, wo es klopft, ein kleines Loch in die Rinde pulen. Ich könnte sehen, wer da solch einen Lärm veranstaltet, wer da unbedingt heraus will. Aber mich hält eine Überlegung davon ab, die ich seit einiger Zeit öfter anstellen musste. Vielleicht störe ich das Wesen durch mein gutgemeintes Eingreifen empfindlich und am Ende töte ich es womöglich sogar damit.

Wer von uns hat noch nicht von den unglücklichen Lottomillionären gehört, die der plötzliche Reichtum ins Unglück gestürzt hat. Oder was ist mit den unzähligen Menschen, die sich nach Freiheit sehnen, aber schlotternd und heulend zusammenbrechen, sobald sie plötzlich und unerwartet befreit sind.

Also klopfe ich nur ganz vorsichtig zurück. „Du bist auf dem richtigen Weg“, flüstere ich. „Du schaffst das.“ Einen Augenblick hält das auf der anderen Seite inne und lauscht. Dann klopft und schabt es unverdrossen weiter. Ich halte mich heraus. Verschränke die Hände hinter dem Rücken und gehe weiter meinen Weg entlang.

11. Dezember – Geistschreiber

Leihe dir die Köpfe anderer Leute, werde ihr Geist und schreibe für sie, was sie nicht können oder wollen. Vielleicht fehlt ihnen die Geduld oder die Wortgewalt oder der Abstand zum eigenen Denken.

Also holt sich der Leib-Erleber einen Geistschreiber, um seine Leiberlebnisse aufschreiben zu lassen. Sie sollen aber nicht nur in Worte gekleidet werden, nein, sie sollen hübsch aufgereiht in Ordnung gebracht werden, das Interessante hervorgehoben, das Uninteressante fallen gelassen werden. Manche bevorzugen Wörter mit Rüschen und Schleifen, andere stehen mehr auf markige Brachialsprache eines Machers.

Jeder bekommt vom Geistschreiber das Kleidchen angedichtet, das ihm passt. Und liest sich dann selbst im Spiegel seines fleißigen Geistleins, völlig überrascht, zu welch einem wunderschönen, spannenden, einzigartigen Leben und Reden und Werden und Sein so ein Leib-Erleber doch fähig ist.

10. Dezember – Lebensgefühl

Steigern Sie Ihr Lebensgefühl! Was soll das eigentlich heißen? Wechseln sich die Gefühle des Lebens nicht einfach ab?

Mal fühlt es sich gut an, am Leben zu sein, manchmal schlecht, meistens so lala. Also eher lauwarm. Ich meine, wer fühlt sich denn andauernd wie im siebten Himmel? Und ist das überhaupt erstrebenswert? Warum soll ich mein Lebensgefühl überhaupt steigern? Gab es da nicht mal so Ideen von der goldenen Mitte, dem Mittelweg, dem Ausgleich der Temperamente.

Und würde dann nicht auch das Lebensgefühl lieber ausgeglichen als gesteigert werden. Ich könnte das Lebensgefühl ja mal fragen. Nur ist das doch sicher wieder bei jedem anders.

Der eine sagt, ich wäre ja schon froh, wenn der Schmerz nachlässt. Der andere sagt, ich kann diese ständige gute Laune kaum noch aushalten. Der dritte wiederum freut sich und lacht und trinkt noch einen. Alle drei befinden sich vielleicht gerade auf einer Karnevalsveranstaltung oder auf einer Mitarbeiterversammlung oder auf einer Trauerfeier.

Jedes Mal würden doch die Aussagen ein völlig neues Licht auf das Lebensgefühl des Einzelnen werfen. Jedenfalls mag ich mein Lebensgefühl nicht steigern, schon gar nicht, indem ich irgendeinen teuren Mist konsumiere. Viel lieber möchte ich mein Lebensgefühl verbreitern, tiefer legen, so richtig aufpimpen. Vielleicht rosa anstreichen mit gelben Flammen und natürlich eine Surround-Anlage einbauen.

Dann spüre ich das Leben von allen Seiten in all seiner Tiefe, Breite, Höhe und sonstigen Dimensionen. Und das ist doch allemal besser, als nur zu höchsten Höhen aufzusteigen.

9. Dezember – Rodrigo

Die Schlachtordnung wurde aufgestellt. Rodrigo fühlt diesen Kitzel in der Magengrube. Vorfreude. Gleich geht es los. Sie werden auf ihren Pferden vorpreschen, rechts und links austeilen, das Fußvolk niedermähen, bis sie auf gleichwertige Gegner treffen. Ein ehrlicher Kampf zwischen Ehrenmännern. Das Stampfen der Rösser, die Hitze der Leiber, das Klirren der Waffen und der Geruch von Blut. Das alles überlagerte bereits Rodrigos Blick auf die wartenden Soldaten.

Angst kannte er nicht. Rodrigo war jung und stark. Ein guter Reiter, ein guter Kämpfer. Kein Grund, sich Sorgen zu machen. Obwohl er oft genug im Kampf getötet hatte, war er selbst doch immer wieder davon gekommen. Manchmal durch Zufall, reines Glück, oft genug durch Können. Als es dann endlich losging, jubelte er. Der warme Wind fuhr ihm in die Kleidung. Sein Degen troff vom Blut. Ohne zu zögern, sprang er ins wildeste Schlachtgetümmel, um einem Freund zu helfen. Ehrensache. Keine große Sache. Denn er war doch unverwundbar. Mit fester Hand teilte er aus. Trieb die Feinde in die Enge.

Da plötzlich. Aus dem Augenwinkel heraus bemerkte er einen Schatten, der kurz die Sonne verdunkelte, bevor er spürte, wie ein Rapier aus seiner Seite herausglitt. Gezogen wurde. Rodrigo wandte den Kopf. Dort stand der, den er nicht kommen sehen hatte. Wilder Blick, eben vom Pferd gesprungen, die Waffen erhoben, um erneut anzugreifen. Aber Rodrigo fiel. Blut schoss in einer hohen Fontäne aus ihm hervor.

„Ich bin unverwundbar“, war sein letzter Gedanke. Der Himmel schien unerträglich blau und die Krähen sammelten sich auf den Bäumen.

8. Dezember – Allein auf einem Berg

Ganz allein auf einem Berg. Klirrende Kälte und eisige Klarheit. Die ganze Welt liegt vor mir ausgebreitet. Ich schließe sie in meine Arme. Ich spucke auf sie. Ich lache mit ihr. Ich schicke Wind und Regen über das Land. Lasse Schnee rieseln oder die Sonne scheinen.
Die Sterne dirigiere ich dort oben. Lasse den Mond aufgehen in seiner geheimnisvollen Halbheit. Die Hütte in meinem Rücken ist meine Höhle. Dort grabe ich mich tief in Decken, wärme meine Glieder am Feuer und schlürfe heißen Tee mit Schuss. Nur raue Wände, das prasselnde Feuer, die Welt und ich.

7. Dezember – Lange Nächte

Diese Zeit im Jahr, wenn die Nächte immer länger und kälter werden. Wenn die Tage im besten Falle kurz und sonnig sind. Die Abendsonne am Horizont feuerrot verglüht.
Die langen Schatten in einem tiefdunklen Violett auslaufen und die Bergspitzen blau leuchten. Im schlimmsten Falle bleibt es den ganzen Tag grau in grau. Verhangen mit einer watteweichen, bleiernen Wolkendecke erscheint der Himmel unerreichbar. Die Bäume recken ihm davon unbeeindruckt ihre nackten Äste entgegen.

Manchmal fisselt ein dünner Sprühregen aus den grauen Wolken oder sogar waschechter, weißer Schnee. Kristall für Kristall rieselt dann leise auf den Boden. Verschluckt alle Geräusche – für einen Augenblick. Bis dann der Schneematsch am Straßenrand sich türmt. Staumeldungen und Glatteiswarnungen aus dem Radio plärren.

Die längste Zeit des Tages herrscht Dunkelheit. Mühsam beleuchtet von der Straßenlaterne vor meinem Fenster. Nur am Horizont glitzern die Lichter der nächsten Ortschaft. Nicht lange nach Mitternacht erlischt auch das letzte von ihnen wie auch die Laterne vor meinem Fenster. Wenn ich dann das Licht lösche, bin ich ganz von samtener Schwärze umfangen. Weich streicht sie über meine Wangen und wiegt mich in meine Träume.

6. Dezember – Nikolaus

Nikolaus hasste seinen Vornamen. Ganz besonders am sechsten Dezember, weil ihn dann jeder fragte: „Hast du mir was mitgebracht?“ oder „Soll ich meine Stiefel ausziehen?“
Das wäre ja ganz lustig, wenn nicht jeder, wirklich jeder jedes Jahr aufs Neue dieselben alten Scherze machen würde. Deshalb hatte sich Nikolaus in diesem Jahr von Ende November bis Mitte Dezember Urlaub genommen.

Eigentlich wollte er den zuhause verbringen, aber als sein Nachbar bereits am ersten Advent lustige Nikolaus-Sprüche über den Zaun warf, beschloss er, seinen Koffer zu packen und abzuhauen. Last minute.

Irgendwohin, wo die Leute kein Weihnachten feierten. Die Dame am Schalter der Fluglinie schien ein wenig überfordert, als er einen Flug in eine Weihnachtsfreie Zone verlangte. Schließlich schlug sie Bali vor.

Der Flug dorthin war lang. Nikolaus konnte im Flugzeug schlecht schlafen. Die Beine taten ihm weh. So richtig herumlaufen durfte er nicht. Aber nach mehr als 14 Stunden und mehreren Zwischenstationen kam er endlich an. Er atmete auf. Hier in Bali, wo der Großteil der Bevölkerung hinduistischen Glaubens war, da musste er doch seine Ruhe haben.

Bei der Kofferausgabe erlebte er dann doch einen Schock. Eine deutsche Touristengruppe wurde von ihrem Reiseleiter mit Nikolausmütze abgeholt. Auch der Duty-free-Shop wies weihnachtliche Dekoration auf. Als er aber dann aus dem Flughafen trat, gleißte die Sonne und weit und breit waren weder Tannenbäume noch Weihnachtsmänner zu sehen.

5. Dezember – Wenn der Teufel zu Besuch da war

Wenn der Teufel zu Besuch da war, muss ich zuerst einmal richtig durchlüften. Meistens gelingt es mir, ihn auf dem Ofenblech oder den Fließen zu halten. Aber letztens hat er doch tatsächlich ein paar hufförmige Brandflecken auf den Dielen hinterlassen.

Ich weiß ehrlich gesagt auch nicht so genau, was er daran findet, ausgerechnet mein Haus aufzusuchen. Er murmelte irgendwas von günstiger Lage und Erdmagnetismus sei gut gegen sein Rheuma.

Da musste ich dann doch kichern. Wie kann denn der Teufel Rheuma bekommen bei der Hitze, die in der Hölle angeblich herrschen soll? Aber er ließ letztens so eine Bemerkung fallen, dass es wohl in der Hölle auch nicht mehr so toll ist, wie es mal war. Er langweilt sich ziemlich, weil die ganzen Verstorbenen zwar schon gerne einen kurzen Trip durch seine Hölle machen, aber die sich reinigenden Seelen im Fegefeuer doch immer seltener werden.

Als ich meinte, das sei verständlich, dass die Verblichenen sich so eine prominente Sagengestalt gerne mal anschauen wollten, es aber woanders auf Dauer sicher gemütlicher sei, da lief er glühendrot an vor Zorn und wollte sich mit seinem Dreizack schon auf mich stürzen. Aber dann sackte er wieder in sich zusammen.

Ein bisschen tut er mir ja schon leid. Das Böse, sagte er, hätten wir Menschen ihm längst aus den Händen genommen. So viel Gemeinheit, Niedertracht und Scheinheiligkeit würden ihm gar nicht einfallen, wie er heute tagtäglich erleben würde. Letztens zum Beispiel habe er auf so eine wichtige Warn-E-Mail hin auf einer Website seine Kreditkartendaten hinterlassen und nun sei die Kreditkarte total überzogen. Und das bei Doppel-Platin! Zurückbuchen ginge auch nicht, habe ihm die Kreditkartenfirma gesagt, er solle mal das Kleingedruckte in seinem Vertrag lesen. Und das ihm, wo er doch das Kleingedruckte erst erfunden habe!

Überhaupt wäre das doch die Höhe, dass wir Menschen ihm dann auch noch total dreist unsere ganzen Verfehlungen, schlechten Gewohnheiten und sonstigen Bösartigkeiten unterschöben. Wenn wir wieder einmal gemein und fies gewesen wären, dann sagten wir einfach: „Da hat mich wohl der Teufel geritten!“ So eine Unverschämtheit. Die ganzen Schattenseiten bekäme er untergejubelt. Dabei wäre es längst aus mit Reiten, wegen Rheuma und so.

Na ja, so geht das jedes Mal, wenn der Teufel mal wieder auf ein Schwätzchen hereinschaut. Also eher auf ein Jämmerchen. Er heult mir nämlich immer so die Ohren voll. Dabei ist er selbst schuld. Er sollte lieber mal an seinen USPs arbeiten und sich nicht so sang- und klanglos den Rang ablaufen lassen. Schließlich hatte er mal das Monopol auf das Böse. Aber so geht es eben, wer sein Geschäft nicht pflegt und sich nicht den Marktgegebenheiten anpasst, der geht irgendwann Pleite.

4. Dezember – In der Höhle des Drachen

Es ist sehr dunkel. Nur die Augen des Drachen glühen dort unten am Ausgang der Höhle. Massig und breit sitzt er vor dem Felsloch. Ich kann nicht vorbei. Ich bemühe mich, ganz leise zu atmen, wage es nicht einmal mich Schrittchen für Schrittchen voranzuschieben.

„Irgendwann“, so dachte ich, „muss der Drache müde werden oder hungrig, viel eher noch durstig“. Aber der Drache hielt sich nicht an meine Vorstellung. Er lag einfach dort am Höhlenausgang. Blinzelte ab und zu. Seine Augen leuchteten. Ein klein wenig Helligkeit fand an seiner rechten Seite vorbei und warf einen Schein auf einen Fetzen Höhlenboden. Sobald die Sonne sank, war auch der Schein verschwunden.

Nach Stunden erst, die ich zitternd hinter einem Felsbrocken kauernd verbracht habe, gestehe ich mir ein, dass es nicht der Drache ist, der mich festhält, sondern meine Furcht. Meine Angst. Meine Panik. Ganz ehrlich als der Drache plötzlich hereinflog, als ich mich lustig in der Höhle umsah, da hätte ich mir fast in die Hose gemacht. Auf jeden Fall ließ ich meine Taschenlampe fallen. Sie klapperte laut über die Steine und blieb dann erloschen liegen. Ich hoffte, der Drache habe mich nicht gesehen und verkroch mich hinter einen Felsbrocken. Immer wieder spähte ich hervor, ob der Drache nun endlich verschwunden war oder wenigstens eingeschlafen. Aber nein, er saß dort mit glühenden Augen, blinzelte in regelmäßigen Abständen. Ab und zu musste er aufstoßen, dann fuhr ein Feuerstrahl aus seinem Maul.

Beim ersten Mal bin ich noch sehr erschrocken und hätte fast laut geschrien. Aber inzwischen habe ich mich daran gewöhnt. Ich schmiede Pläne, wie ich an dem Drachen vorbeikommen könnte. Ich habe auch schon überlegt, ob ich lieber tiefer in die Höhle gehen sollte. Vielleicht finde ich dort einen Ausweg. Und manchmal kann ich nicht anders, dann fällt mein Kopf vornüber und ich träume von grünen Wiesen, von Bachläufen und gutem Essen, auch von Gesellschaft. Aber dann erschrecke ich und erwache. Der Drache schaut immer noch in die Dunkelheit und ich beschließe, dass ich wohl keine Wahl habe. Wenn ich nicht verhungern und verdursten will, dann muss ich an diesem Drachen vorbei. Durch die Lücke, durch die das Licht hereinfällt.

Vielleicht wird mich der Drache töten. Ich habe keine Waffen, die Drachen töten könnten. Meine einzige Chance ist es, mich ihm auszuliefern und zu hoffen, dass er einfach kein Interesse hat an einem kleinen Menschlein, das sich während seiner Abwesenheit in seiner Höhle umgesehen hat. So bewege ich mich also ganz langsam und vorsichtig vorwärts. Ich wage, kaum zu atmen. Die Augen des Drachen schauen weiter in die Dunkelheit. Zitternd erreiche ich die Felswand und schiebe mich soweit wie möglich von dem Drachen entfernt an ihr entlang zum Ausgang hin.

Da. Der Drache wirft mir einen kurzen Blick zu. Ich erstarre. Er blinzelt und grunzt. Nur ein kleiner blauer Feuerschein umkränzt sein Maul. Dann lässt er ganz langsam den Kopf auf die Vorderklauen sinken und schließt seine Augen. Ich wage es kaum, zu hoffen. Aber doch. Der Drache schläft. Langsam und mit schlotternden Knien schlängele ich mich an ihm vorbei. Raus ins Freie. Der volle Mond empfängt mich mit seinem silbernen Licht. Ich atme tief ein und gehe schnell den Weg entlang, weit fort von dem Drachen und seinen grollenden Schnarchlauten.

3. Dezember – Gretel guck in die Luft

Gretel hält ihren lila Teddy ganz fest und richtet ihren Blick nach oben. Die Nase hoch emporgereckt. Erwartungsfroh lächelt sie. Alles Gute kommt von oben.

Jedenfalls jetzt und heute. Vielleicht kommt es irgendwann einmal von unten, rechts, links oder unten. Aber Gretel glaubt ganz fest an das Gute von oben. Gespannt schaut sie. Gleich muss es doch kommen.

Gleichgültig, wie lange sie wartet und wartet. Niemals verliert sie den Mut. Niemals entgleitet ihr das freudige Lächeln oder gar der kleine Teddybär, an dem sie sich festhält.

Falls das Gute sie umhauen sollte, völlig überraschen oder sogar ein klein wenig erschrecken, dann ist Teddy da, der ihre Hand hält. An den kann sie sich kuscheln und schnell ihr Gesicht in seinen weichen Bauch drücken, um ein paar Tränen zu verbergen.
Gleich kommt es doch, das Gute, da von ganz oben. Wie schön!