3. Oktober – Königliche Hoffliegenfänger

Es war einmal vor langer Zeit ein königlicher Oberhoffliegenfänger, der hatte eine sehr, sehr wichtige Aufgabe. Er musste alle Fliegen, die sich in den königlichen Palast gewagt hatten, fangen und wieder nach draußen setzen. Der König wollte auf keinen Fall, dass einer Fliege Leids geschah. Er hasste es nur, wenn Fliegen über seine Kleidung, seine Haut oder womöglich über seine Nahrung liefen.

Aber am allermeisten verabscheute der König das fiese Summen und gemeine Brummen der Fliegen. Aus diesem Grunde beschäftige er nicht nur einen Oberhoffliegenfänger, sondern auch noch einen Unterhoffliegenfänger, zahlreiche Fliegenfängergehilfen und einen Fliegenfängerlehrling namens Maximilian. Der Oberhoffliegenfänger war für die Planung zuständig, er war der Kopf, der Ingenieur, der findige Geist. Nur gingen ihm langsam aber sicher die Ideen aus.

Längst hatte er die königliche Residenz mit Fliegengittern an Fenstern und Türen ausstatten lassen. In den großen Eingangsbereichen gab es Schleusen, um das Eindringen der Fliegen zu verhindern. Und überall im Haus gab es Lebend-Fliegenfallen, um die Fliegen zu fangen, denen es dennoch gelungen war, ins Schloss zu fliegen. Die Küche und das Schlafzimmer des Königs waren dreifach gesichert.

Aber der menschliche Faktor war ein nicht abzustellendes Übel. Immer wieder vergaß einer der Diener alle Vorsicht, ließ aus Bequemlichkeit beide Türen einer Schleuse geöffnet und schon sausten die kleinen Insekten hinein.

Da hatte der Lehrling Maximilian eine Idee. Wenn es doch einfach derart unmöglich sei, Fliegen vom Palast fernzuhalten, dann müsse der König einen Weg finden, sich mit den Fliegen zu versöhnen, sich an sie zu gewöhnen. Als das der Oberhoffliegenfänger hörte, gefiel ihm das überhaupt gar nicht. Wie sollte er sein Salär sichern, wenn der König keine Fliegenfänger mehr brauchte. Der Unterhofflliegenfänger und alle Fliegenfängergehilfen sahen das ähnlich und ergriffen Gegenmaßnahmen.

Mit anderen Worten: Sie verprügelten den armen Maximilian nach Strich und Faden, damit er ja schweige. Aber als der König Maximilians blaue Flecke und seine zerschlagene Nase sah und sich daraufhin erkundigte, was dem armen Jungen widerfahren sei, erzählte ihm der Fliegenfängerlehrling von seiner Idee und wie wenig sie den anderen Fliegenfängern geschmeckt habe. Da schwieg der König verblüfft.

Dann dachte er eine lange Weile nach, schließlich breitete sich ein Lächeln über sein Gesicht. Fortan schloss er Freundschaft mit den Fliegen, mit den dicken Brummern, den gemeinen Summern und den lautlos tanzenden Fruchtfliegen. Er ließ alle Fliegengitter und die Schleusen entfernen. Und er entließ den Oberhofflliegenfänger, den Unterhoffliegenfänger und alle Fliegenfängergehilfen.

Nur Maximilian behielt er bei sich als seinen Berater. Seit dieser Zeit gibt es keine königlichen Fliegenfänger mehr. Es ist also nicht sehr verwunderlich, wenn du noch nie von diesem Beruf gehört hast.

2. Oktober – Der Regenwurm

Es war einmal ein Regenwurm, der hatte ein regelmäßiges, manche würden sagen, eintöniges Leben.

Er fraß sich tagein, tagaus durch die Dunkelheit in der Erde. Nur wenn es stark regnete, so sehr, dass seine wunderbare Erdeinsamkeit abzusaufen drohte, kam er hervorgekrochen und versuchte, so gut er konnte, dem unerfreulichen Nass zu entgehen.

Viele seiner Artgenossen kamen bei Regenwetter an die Erdoberfläche und soffen dann in großen Pfützen ab. Manche wurden totgetrampelt, überfahren oder vom Vogel gepickt. Bisher hatte der Regenwurm alle Unbill überstanden und wurde immer dicker und länger und fraß und fraß sich durch die Unterwelt.

Dann eines Tages wurde er unsanft von einem Spaten in zwei Teile geschnitten und aus seinem Erdparadies herausgehebelt. Die Hälften des Wurms kringelten sich und wanden sich. Die eine immer noch tief in der Erde, die andere im Erdbrocken auf dem Spaten.

„Was ein dicker Wurm“, rief der Ausgräber und kippte den Erdaushub auf einen Haufen. „Gute Erde hier“.

Das dachten sich die beiden Hälften des Regenwurms auch und bemühten sich, so schnell wie möglich wieder in ihr zu verschwinden. Jede in entgegengesetzte Richtungen und für immer getrennt. Aber immerhin noch am Leben.

1. Oktober – Herbststurm

Herbststurm fegst übers Land, treibst Regen vor dir her, der laut gegen meine Fenster klatscht und auf den schwarzen Asphalt prasselt. Öffne ich das Fenster einen Spalt, dann höre ich dich heulen und stöhnen.

Ein großer Schwarm verspäteter Singvögel streicht über den Dachgiebel. Sammelt sich, dreht sich im Flug wie ein Leib. Die Birke oben am Ende der Straße beugt sich und schüttelt sich im Wind.

Entspannt ist mein Blick in den Sturm dort draußen. Warm mein Tee, mein Pullover, meine Socken. Dankbar sinne ich über tausende von Jahren an Erfindergeist und Ingenieurskunst, die mich im Trockenen diesem Schauspiel zusehen lassen.

30. September – 7schläfer

Es war 1mal 1 7schläfer, der lebte in 1 kl1en Waldstück bei 9kirchen. Jedes Jahr im Mai wurde auf der Wiese direkt daneben 1 großes Volksfest abgehalten.
Da war es furchbar laut. Vor allem das Kreischen der Leute, wenn sie auf der 8terbahn fast senkrecht nach unten stürzten, störte den 7schläfer. Außerdem rannten viele Kinder durch den Wald und sammelten Schnecken, Raupen oder Käfer, die sie in 1machgläser stopften.

Am liebsten hätte der 7schläfer diese Lauser ge4teilt, aber was konnte er schon ausrichten. Er war doch nur ein kl1er 7schläfer. Sogar die 11fen, die in den großen Wacholderbüschen am Waldrand lebten, waren völlig hilflos. Sie überlegten, ob sie sich nicht vielleicht für die Zeit des Volksfestes irgendwo eine 2raumwohnung mieten könnten. Aber da sie k1e Aufenthaltsgenehmigung besassen, war daran nicht zu denken.

So litten der 7schläfer und die 11fen stumm ganze 5 Tage lang. Sie ertrugen, dass sich ihre 10nägel bei jedem Kreischen nach oben bogen. Am 6. Tag hielten sie es nicht mehr aus und suchten Schutz in der kl1nen Kapelle unter der heiligen 3faltigkeit.

Aber anstatt hier endlich Ruhe zu finden, wurden sie von 6gierigen Jugendlichen gestört, die zwar weniger kreischten, dafür mehr stöhnten, aber insgesamt 1 unerträgliche Belästigung für die Ohren und die Moralvorstellungen von 7schläfer und 11fen darstellten. Am 7ten Tag kehrte endlich Ruhe 1.

Bis zum nächsten Jahr

29. September – Mir gäbet nix

„Mir gäbet nix“ –

Auf der Terrasse ist es kalt und nicht mehr viel los. Aber zwei Bekannte von Kerstin haben sich trotzdem dort ihr Abendessen servieren lassen. Kerstin und ich sagen „Hallo“.

Während Kerstin sich nach einem Zeitungsartikel über das Schülertheater-Festival erkundigt, wann der wohl online stehe, als PDF vielleicht, schaue ich in eine andere Richtung. Das Gespräch interessiert mich nicht besonders. Vor den Ferien habe sie nicht damit zu rechnen, erhält sie Bescheid. Aber eine gute Idee, da wäre wohl noch keiner drauf gekommen. Das mache dann der Peter oder der Franz.

Die Gittertür rechts von uns wird von einem jungen Mann mit einem Tarnrucksack über der Schulter aufgehakt. Vorsichtig betritt er die Terrasse. Seine Kleidung sieht ziemlich abgerissen aus. Im Gesicht hat er ein paar Piercings, seine Haare stehen zottelig vom Kopf ab. Durch die Hintertür betritt er das Lokal. Ich verliere ihn aus den Augen. Die Unterhaltung dreht sich inzwischen um ein abgesagtes Stück. Der Hauptdarsteller ist wegen Krankheit ausgefallen. Aber Kerstin muss es bis zum Sommer auf die Bühne bringen oder neue Lizenzkosten an den Verlag bezahlen. Plötzlich steht der junge Mann mit dem Tarnrucksack neben mir.
„Habt Ihr vielleicht ein paar Cent für einen Obdachlosen?“, fragt er in die Runde. Stille senkt sich über uns. Eine feindselige Schwingung fühle ich. Eine schwäbische Schwingung, die mir sagt: „Mir gäbet nix.“

Aber ich mag nicht dazugehören zu denen, die nichts geben. Warum soll ich dem Mann, dem Obdachlosen, der ein bisschen punkig, ein wenig ungewaschen aussieht und das Geld vielleicht versäuft oder für andere Drogen ausgibt oder am Ende mit Betteln mehr Geld verdient als ich mit meiner anständigen Arbeit, warum soll ich dem nicht ein paar Cent geben? Ein bisschen Kleingeld herzugeben tut mir doch nicht weh. Habe ich das Recht, über seine Lebensführung zu richten? Nein, natürlich nicht. Also zücke ich mein Portemonnaie. Viel ist nicht mehr drin, aber im Kleingeldfach finde ich noch etwas.

Irgendwer muss doch dafür sorgen, dass nicht nur die Spatzen, sondern auch die Menschen ernährt werden, auch ohne dass sie in den Scheunen sammeln. Oder habe ich das irgendwie falsch verstanden? Im Gegensatz zu Kerstin und ihren Bekannten gehöre ich keiner Kirche an und kenne mich nicht so gut mit den christlichen Gepflogenheiten aus.

28. September – Der Laden

Er dreht den Schlüssel herum, nachdem er ein letztes Mal das Licht gelöscht hat. Die Regale sind ausgeräumt. Stille senkt sich über den Raum. Die Verkaufstresen ragen wie Mahnmale aus verschlissenem Boden. Dessen Muster kann er seit Jahren nicht erkennen. Er weiß selbst nicht, haben seine Augen ihre Kraft verloren oder sind die Farben einfach nur verblasst, wie nach und nach seine Waren verblasst sind. Die karierten Herrenhüte, die Damenhüte aus Filz und Strick, die edlen Nerzkappen und Zobelmützen.

Vor langer Zeit hat ihn der Laden verschluckt. Da meinte er es noch gut mit ihm. Damals schimmerte die Zukunft rosig. Das schwere, dunkle Eichenfurnier der Einrichtung und die farblich abgestimmte Wandvertäfelung waren der letzte Schrei. Der gewebte Teppich prangte in Gold und Rubin auf tiefem Grund. Seine Frau stand an seiner Seite. Besitzerstolz erfüllte ihn. Endlich ging es aufwärts. Die Kriegsjahre, die Hungerjahre waren vorbei. Die Lehrjahre, die Gesellenjahre hatten sich ausgezahlt. Jetzt brauchten die Leute stolze Hüte, die ihnen sagten: „Du bist wieder wer“. Sie dürsteten nach Pelzkappen, die ihnen zuraunten: „Du wirst niemals wieder frieren“, und nach mondänen Strohhüten – groß wie Wagenräder, die ihnen einredeten: „Du bist tausendmal schöner als deine Nachbarin.“

Der Laden gab sie ihnen. Die Leute strömten hinein und kauften. Verkäuferinnen wurden eingestellt. Kleine, fleißige Frauen, adrett in helle Kittel gekleidet. Sie bedienten die Kunden, kletterten flink die Trittleitern hinauf und hinab, schmeichelten und lobten die Hüte auf die Köpfe der Menschen. Bald schon fuhr er mit seiner Frau auf Messen nach Italien und Skandinavien. Wie leicht und schön das Leben plötzlich erschien. Hell und freundlich strahlte der Laden. Er ernährte ihn, hielt ihn auf Trab.

Irgendwann kauften die Leute weniger Hüte. Aber sie kamen immer noch zu ihm. Schließlich war er doch „Der vom Hutladen“, der beim Weinfest die Girlanden bezahlte, den alle kannten – meist aus der Schulzeit noch. Doch immer öfter sah er die alten Bekannten mit Kopfbedeckungen aus dem Kaufhaus. Da rückten seine Frau und er näher zusammen. Die fleißigen Verkäuferinnen verließen den Laden und kehrten nicht wieder. Seine Frau und er bedienten nun selbst. Wozu musste er noch auf Messen fahren? Die Vertreter kamen ins Haus und für alles andere gab es Kataloge.

Unversehens gingen all seine Schulkameraden in Rente. Für ihn war das nichts. Wo hätten seine treuen Kunden einkaufen sollen. Sie brauchten ihn doch. Der Laden brauchte ihn. Täglich blätterte der Lack ein bisschen mehr ab und doch schien die Zeit still zu stehen. Nach und nach, fast unmerklich, blieben auch die Stammkunden einer nach dem anderen fort. Sie waren alt, grau und gebückt. Niedergedrückt vom Leben so wie er gekrümmt war. Dabei hatten seine Frau und er oft davon gesprochen endlich aufzuhören, endlich in den verdienten Ruhestand zu treten.

Aber der Laden, immer noch mächtig in seinem verblichenen Glanz, ließ ihn nicht los. Durch einen kleinen Spalt zwischen den Vorhängen erlaubte er ihm durch die ermatteten Schaufenster nach draußen zu sehen. Nur dieser kleine Schimmer erinnerte ihn noch an die Träume und Pläne, die er niemals mehr leben würde.

Eines Tages wachte seine Frau nicht mehr auf. Da kroch seine Trauer überallhin, zwischen die Vorhangfalten, in die Ritzen der Täfelung. Sie lauerte hinter den dunklen Tresen, versteckte sich unter den Hüten und Kappen. Der Laden blieb sein einziger Freund. Es dauerte Jahre. Jahre, die nur selten vom Läuten der Türglocke unterbrochen wurden. Jahre, die er damit verbrachte schwer auf seinen Stock gestützt die Waren zu sortieren. Die hohen Regalbretter erreichte er längst nicht mehr. Erst dann entschloss der Laden sich, ihn auszuspucken.

Er hatte keine Kraft mehr zur Gegenwehr. Nur seine Trauer lastete noch schwerer auf den Regalbrettern. Er hing Plakate ins Schaufenster: „50 % wegen Aufgabe“. Selbst das führte kaum Kunden in den Laden. Wenn sich jemand hineintraute, so blickte er in junge, unbekannte Gesichter, die sich ratlos umsahen. Die meisten flohen. ohne etwas zu kaufen. Am Ende warf er alles fort. Wer sah den Hüten und Kappen schon an, dass er ihnen sein ganzes Leben geopfert hatte?

Und jetzt also dreht er den Schlüssel herum nach einem letzten Blick in seine Welt, seine Heimat, seine Bestimmung. Ein letztes Mal überwindet er die drei Stufen zur Straße. Geschrumpft, gebeugt und schwankend auf seinen Stock gestützt, sieht er sich im Schaufenster und erkennt sich nicht wieder. Er wendet sich ab und geht mit zittrigen Schritten davon. Nur seine Trauer springt leichtfüßig von den Regalen, quillt aus den Türritzen, perlt durchs Schlüsselloch und zieht ihm wie eine lange Schleppe nach. Der Laden liegt still und wartet.

27. September – „Lass die Arbeit ruhen“

„Lass die Arbeit ruhen“. In dem Roman „Hallo lieber Gott, hier spricht Anna“ war es, glaube ich, dass die Hauptfigur, die kleine Anna sagte, die tollste Erfindung von Gott sei der Ruhetag.

Und irgendwie ist was dran – auch für die Agnostiker unter uns ist das Ausruhen eines der schönsten Errungenschaften der Menschheit. Ich frage mich nur, warum haben wir das überhaupt verlernt, vorher?

Vom Ahorn bis zur Zichorie, vom Affen bis zur Zecke wissen alle Lebewesen wie wichtig Ruhe und Entspannung ist. Aber wir dusseligen Menschen haben das irgendwann vergessen. Und so gibt es heute so merkwürdige Krankheiten wie Burn-out-Syndrom.

Dabei müssen wir nur einmal in aller Ruhe draußen spazieren gehen, den Pflanzen und den Tieren zuschauen. Die lassen sich Zeit. Hetze ist nämlich ganz schlecht für die Lebensqualität.

26. September – Wende die Welt

Wende die Welt einmal um, wie du Taschen umstülpst und sieh, was herausfällt.
Bunte Blätter und junge Katzen, ein paar Sonnenstrahlen und feuchtes Gras, Kieselsteine und Stroh, ein kleines Haus mit roten Dachziegeln, eine Herde Schafe und der Schäfer dazu mit seinen Hütehunden. Seine Pfeife qualmt noch, ein wenig durchgerüttelt und zerzaust stützt er sich schwer auf seinen langen gebogenen Stab um wieder auf die Beine zu kommen.

Dann rieselt und bröckelt Muttererde hervor und formt sich fast wie von selbst zu großen Äckern mit Furchen, die Saat setzt sich in Reih‘ und Glied selbst dort hinein. Ein paar Bäume rutschen nach, wenn du noch ein wenig schüttelst, ein Stoppelfeld von Mais und Büsche und Vögel, Krähen und Elstern. Wütend keckern sie über die üble Behandlung und ganz am Schluss kullerst du selbst heraus und irgendwie ist alles wie zuvor nur ganz anders.

Merkst du es schon?

25. September – Ogülko

Ogülko war ein wunderschönes Mädchen. Ihre Mutter Japanerin, der Vater Deutscher. Ein wundersamer Zufall hatte ihr nur die besten Eigenschaften beider Eltern verliehen. Und so war sie nicht nur wunderschön, sondern auch klug und fleißig.

Ogülko konnte gar nichts dafür, aber überall wo sie hinkam, war sie der Star. Wenn sie den Raum betrat, strahlte plötzlich der ganze Raum. Die Männer vergaßen, was sie sagen wollten und meistens auch den Mund wieder zuzuklappen, die Frauen zuckten entweder mit Augenbrauen und Schultern und taten gleichgültig oder erlagen sofort Ogülkos Charme und suchten ihre Nähe, ihr Strahlen, ihre Freundschaft und Liebe.

Auf Ogülko hatte dieses Verhalten der anderen Menschen auf sie eine unerwartete Wirkung. Es machte sie unglücklich. Oft hatte sie das Gefühl, die Menschen sähen nur das wunderschöne Bild von ihr und nicht sie selbst. So sehnte sich Ogülko verzweifelt danach, endlich erkannt zu werden. Jeden Morgen bat sie darum, dass endlich jemand erkennen möge, wer sie wirklich ist. Eines Tages ging sie durch die Fußgängerzone. Die Menschen reagierten wie immer auf sie. Die Männer drehten die Hälse, die Frauen auch oder sie schauten demonstrativ woanders hin, zupften ihren Begleitern am Ärmel und machten abfällige Bemerkungen.

Aber etwas war doch anders diesmal. Ogülko konnte es anfangs nur spüren. Und dann sah sie es. Dort am Wegesrand saß eine alte Frau in einem weiten Mantel mit einem schwarzen Hund neben sich und schaute Ogülko mitten ins Herz. Ogülko blieb stehen, dann machte sie ein paar Schritte und setzte sich im Schneidersitz der Frau gegenüber auf den Boden. Die Blicke der Menschen um sie herum erloschen plötzlich, die Menschen gingen wieder ihres Weges, als existiere sie gar nicht. Ogülko atmete auf und lächelte die alte Frau an. Die nahm Ogülkos Hand und sagte zu ihr:

„Hab keine Angst, meine Kleine, du wirst noch viele Menschen treffen, die dich erkennen wollen. Dir mag es vielleicht so erscheinen, dass nur du auf einen Aspekt deiner Persönlichkeit reduziert wirst und das an deiner Schönheit liegt. Aber das widerfährt einem jeden. Schau, dieser Mann dort im teuren, blauen Anzug mit seinem Aktenkoffer, wie er eilig aus der Mittagspause zurück ins Büro eilt. Würdest du glauben, dass er nachts elegische Gedichte schreibt und an den Wochenenden regelmäßig Frau und Kinder prügelt? Oder hier, diese Frau, du würdest sie für arm und unglücklich halten in ihren abgerissenen Kleidern. Aber sie ist eine große Künstlerin, sie ist voller innerem Reichtum und nicht nur das, sie ist sogar wohlhabend, hat eine Familie, ein großes Haus, ist umgeben von Menschen und Dingen, die sie liebt. Nur Kleidung ist ihr gleichgültig, sie läuft immer noch herum wie eine ewige Studentin. Es wird Zeit, dass du durch die erste Reaktion der anderen Menschen auf deine Erscheinung hindurchschaust. Lerne die anderen richtig zu sehen und du wirst merken, dass auch du erkannt wirst.“

Ogülko dachte eine Weile über die Worte der alten Frau nach. Dann nickte sie. Plötzlich bemerkte sie, dass die Frau eine gelbe Binde am Ärmel trug mit drei schwarzen Kreisen darauf zu einem Dreieck angeordnet. Der schwarze Hund neben ihr trug das Geschirr eines Blindenhundes. Überrascht schaute sie der alten Frau in die trüben, grauen Augen.

„Und doch siehst du alles!“, flüsterte Ogülko.

24. September – Herberts Pech

Herbert hatte immer Pech gehabt im Leben. Lange hatte er das selbst nicht wahrhaben wollen, aber dann musste er es doch einsehen. All das, was ihm widerfahren war, konnte nur Pech sein, schlechtes Karma oder womöglich die Rache Gottes.

Bereits als kleiner Junge gehörte Herbert immer zu den Kindern, die nur die unmöglichsten Klamotten ihrer älteren Geschwister auftragen mussten. Bereits als vierjähriger musste er eine Brille tragen. So ein fieses Horngestell, die Gläser größer als seine Handteller. Sah besonders toll aus zu seinen abstehenden Ohren, der Zahnlücke und den dünnen Fusselhaaren. Auch mit dem Lernen in der Schule lief es nicht so toll, irgendetwas oder irgendjemand gelang es immer, Herbert abzulenken. Also hagelte es Einträge und Elterngespräche. Dabei gab Herbert sich wirklich Mühe aufzupassen. Sehr große Mühe. Aber dann saß eine kleine Meise auf dem Fensterbrett oder eine Spinne in der Zimmerecke spann kunstvoll ihr Netz oder ein Mitschüler hatte prima Comics dabei.

Herbert wuchs lange kaum. Seine Schulkameraden überragten ihnen alle um etliche Zentimeter. Erst mit 15 Jahren tat er plötzlich einen Schuss und war lang und klapperdürr statt klein und schlaksig. Mädchen interessierten sich überhaupt nicht für ihn. Die fanden ihn bloß merkwürdig, weil er sich immer für Vögel, Insekten und Kriechtiere aller Art begeisterte. Er baute auch Labyrinthe für Mäuse und Hamster. Dann schaute er ihnen stundenlang zu, wie sie dort herumliefen und in einer Ecke Futter fanden, in der nächsten Wasser oder sich immer wieder auf dem Weg dazu verirrten. Seinen Hauptschulabschluss schaffte er mit Ach und Krach. Eine Lehrstelle war einfach nicht aufzutreiben. Ab und zu gelang es ihm, einen Gelegenheitsjob zu finden. Aber niemals blieb er lange irgendwo. Die anderen Mitarbeiter fanden ihn merkwürdig und die Chefs zu langsam und unkommunikativ. Also blieb er in seinem Kinderzimmer wohnen, bis er 35 Jahre alt war.

Da geschah plötzlich etwas Unerwartetes. Es schien, als würde Herbert plötzlich durch eine geballte Ladung Glück für das Elend seines Lebens entschädigt werden. Die Vorsehung sandte einen Lichtstrahl zu Boden und traf ausgerechnet Herbert. Das Glück trat in Gestalt einer TV-Redaktion in Herberts Leben. Die suchten skurrile Leute für ihre RealityReportagen. Das wirkliche wahre Leben hat ja jeder selbst daheim. Aber Herbert war natürlich eine Ausnahme. Sie bauten ihn auf als armen Kerl, der immer Pech im Leben gehabt hatte und nun endlich einmal die Chance auf ein Leben im Glück haben sollte. Wobei Glück bedeutete, von irgendeinem EbisF-Promi in den sogenannten Jetset eingeführt zu werden und im Finale tolle Frauen zu bezirzen, die ihm dann zu Füßen liegen sollten. Dazu brauchte Herbert natürlich eine Beauty-Behandlung, neue Kontaktlinsen, schicke Klamotten, einen Tanztrainer, einen Benimm-Trainer und etliche Coachings mehr. Dabei wurde er von der Kamera begleitet.

Aber Herbert spielte gar nicht mit, wie es die Fernsehfritzen erwartet hatten. Er stolperte auf Entdeckungsreise durch den Wellness-Tempel, aß die Gurkenmaske lieber auf und fand sie delikat, er verweigerte die Kontaktlinsen, seine neuen Klamotten fand er Scheiße und trug lieber die alten karierten Sakkos von Opa Herrmann auf. Dem Tanzlehrer brachte er erst einmal bei, wie Mäuse und Ratten tanzten. Das hatte Herbert schließlich lange genug beobachtet. Und der Benimm-Lehrer nahm nach einer knappen Viertelstunde Reißaus. Herbert sei beratungsresistent. Trotzdem schleppte ihn der EbisF-Promi auf eine IN-Party, die Kameraleute immer schön dabei. In der Tat lagen Herbert die Frauen dort zu Füßen allerdings vor Lachen. Doch das erwies sich als seine große Chance.

Heute hat Herbert seine eigene Comedy-Show und das Labyrinth mit den Mäusen Mini und Mausi eine Institution in der deutschen Unterhaltung. Ob das jetzt wirklich so ein Glück ist, weiß ich allerdings nicht zu sagen. Am besten fragt ihr Herbert mal selbst.

23. September – Das Gegenteil von gut…

Das Gegenteil von gut…ist gut gemeint. Heiner ruft aus der Küche. „Komm essen!“ Rita seufzt. Andauernd nervt der Typ. Erst kochen, dann aufwaschen, dann staubsaugen, putzen, einkaufen, ausgehen.

Und dann noch unerträgliche Einmischung in ihre Kleiderwahl.
„Zieh doch bitte das grüne Kleid an. Jeans und Bluse sind doch viel zu leger.“

Seit Rita mit Heiner zusammen ist, hat sie immer öfter das Gefühl, er behandele sie wie ein Kind. Wenn sie ihm sagt: „Halt dich da raus, ich ziehe mich an wie ich will“, dann sagt er sofort: „Aber ich kümmere mich doch nur um dich, weil ich dich so liebe!“ Schaut aus der Wäsche wie ein getretener Hund dabei. Wie soll Rita sich da noch weiter aufregen?

Sie ist so ungern im Unrecht oder womöglich gemein, lieblos und hartherzig. Also schluckt sie tapfer runter, was ihr auf der Zunge brennt, im Hals schwillt und im Bauch grummelt. Eingeengt fühlt sie sich von so viel Fürsorge. Weil das Etikett „Liebe“ daran klebt, wagt sie nur zaghafte Gegenwehr.

Aber, so denkt sie in letzter Zeit, ist das nicht nur ein gigantischer Schwindel? Kann das Liebe sein, wenn sich einer dauernd so über sie überstülpt und ihr jegliche eigene Initiative nehmen will? Immer über sie bestimmen will? Immer alles besser weiß? Auch wie sie sich zu fühlen hat?

Sie hat es so gründlich satt. Und immer öfter schaut der Heiner getreten aus der Wäsche. Spielt sie aus die Böse-Rita-Karte. Nur dass ihr schlechtes Gewissen sich inzwischen häufiger verflüchtigt. Zur Hölle mit der freundlichen, lieben, geduldigen Rita. Diese Behandlung bringt den Giftzwerg in ihr hervor.

Wütend tanzt der Zwerg auf dem Parkett und hätte nichts dagegen statt nur auf Heiners Gefühlen auch auf seinem Rücken herumzutrampeln. Solch ein Zorn wütet in ihr. Der Giftzwerg spuckt Gift und Galle. Die liebevolle Fürsorge juckt und kratzt wie ein viel zu enger Schurwollpullover. Rita hat noch keine Idee, wie sie Heiner davon abhalten soll die Gluckenmutter zu geben.

Aber in einem ist sie sich sicher: Das Gegenteil von gut ist gut gemeint.

22. September – Ideenlos?

Franz war einfach schon immer total ideenlos, das hatten ihm seine Lehrer seit jeher bescheinigt. Wenn er im Kunstunterricht einen Baum malte, groß und mächtig mit bunten Blüten vor einer idyllischen Landschaft mit Äckern und Wiesen, mit Bach und Weg, eine geschwungene Bergkette am Horizont und blauer Himmel mit Schäfchenwolken, dann sagten sie ihm, dies sei ganz nett, hübsch und sogar gut ausgeführt aber doch wahnsinnig ideenlos, so gar nicht avantgardistisch oder kritisch oder sublim oder ätherisch oder popartig oder wenigstens irgendwie surreal.

Franz neigte dann beschämt seinen Kopf, um die Röte seiner Wangen zu verbergen. Und doch, er konnte nicht anders. Er malte am liebsten Landschaften mit einem Baum als Mittelpunkt. Mal stand der Baum in Blüte, mal hing er voller Früchte, mal leuchteten seine Blätter gelb und rot, dann ragten schwarze Äste in den Winterhimmel. Er malte Bäume im Morgenlicht, in der Abendsonne und in wallendem Nebel verborgen. Er wurde immer besser darin. Irgendwann malte er ein paar Schafe auf einer Weide dazu, dann Reiter auf den Wegen und Vögel am Himmel. Seine Gemälde wurden immer belebter. Der mächtige Baum wanderte langsam vom Zentrum des Bildes an den Rand. Andere Bildinhalte wurden wichtiger.

Aber seine Lehrer lobten nach wie vor höchstens die Akkuratesse seines Pinselstrichs und tadelten die Ödnis seines immergleichen Themas. Franz ließ dann mehr aus Gewohnheit denn aus Scham einen Moment den Kopf hängen. Und dann malte er weiter seine immer belebteren Landschaften mit Baum. Er wollte nicht anders.