21. September – Sonntagskind

Gerhard war ein Sonntagskind, denn er wurde an einem Sonntag geboren. Die Hebamme war wütend, weil er ihr den guten Sonntagsbraten, das leckere Kaffeetrinken am Nachmittag und sogar noch das Abendbrot vermieste. Die Wehen dauerten ewig und jedes Mal, wenn die Hebamme Hedwig sich gerade verabschiedet hatte, weil es noch eine Weile dauern würde, bis es richtig losging, und weil sie endlich an ihren Mittagstisch, Kaffeetisch, Abendbrottisch zurückkehren wollte, da machte Gerhard schon wieder derartige Anstalten, nun endlich doch herausgepresst werden zu wollen, dass seine Mutter schrie und sein Vater rannte, um Hedwig zu holen.

Hedwig kam jedes Mal kauend an die Tür, als Gerhards Vater wieder läutete. Er völlig aufgelöst. Außer Atem. Weiß im Gesicht mit roten Flecken. Kaum fähig ein vernünftiges Wort herauszubringen. Es war sein erstes Kind, die erste Geburt, die er miterlebte und er litt mit seiner Frau. Die krümmte sich und schrie, wollte das Kind endlich da heraus haben aus dem Bauch. Und Gerhard schien ja auch zu wollen. Aber dann auch wieder nicht. Vielleicht war ihm auch nur Hedwig nicht angenehm. Denn kaum hatte sie nach dem voraneilenden Vater das Haus betreten, hielt Gerhard plötzlich still. Versuchte sich im Uterus seiner Mutter zu verkriechen.
Das war doch nur Spaß, das war doch nicht Ernst gemeint. Da raus auf diese Welt? Hervorgepresst und herausgezerrt in Hedwigs Arme?

Das konnte niemals der Ernst seiner Mutter sein. Wie schön war es da doch im gluckernden, wunderbaren Bauch. Jederzeit versorgt, aufgehoben und sicher. Nur sehr eng derweil. Das musste Gerhard doch zugeben. Und er wollte ja, wollte ja endlich hier heraus und kennenlernen, was er nur von innen spürte. Seine Mama hatte ihm so viel erzählt, sein Papa so viel versprochen. Aber dann Hedwig. Die Schritte donnernd, die Stimme irgendwie rau und herrisch. Sie schimpfte mit Mama und schimpfte mit Papa. Wie konnte Gerhard da hervorkommen wollen? Ach welche Erleichterung als diese Person wieder hinausgestampft war, sich Stille ausbreitete.

Vielleicht sollte er es doch noch einmal versuchen. Auch wenn Mama sich wand vor Schmerzen. Er konnte das nun wirklich nicht ändern. Wieder schrumpfen, sich in Luft auflösen. Als sei es nicht schon anstrengend genug und beklemmend genug und da klingelte die Nachbarin. Eine liebe Frau, sehr erfahren und auch sie konnte Hedwig nicht leiden, was Gerhard sehr vernünftig fand.

Mit leisen Schritten kam sie herein, die Stimme eine Wohltat. So voller Freude und Liebe. Sanfte, kühle Hände hatte sie. Legte sie auf Mamas Stirn, beruhigte sie, half ihr und plötzlich mochte Gerhard nicht mehr länger warten. In ihre Welt wollte er gerne kommen und so wurde Gerhard an einem Sonntag geboren. Eine Viertelstunde vor Mitternacht. Und anstatt zu schreien, lachte er. Ein Sonntagskind eben.

20. September – Synchronizität

Wissen Sie, was eine Synchronizität ist? Vor allem unheimlich. Ehrlich gesagt nicht nur die Synchronizitäten, die ich selbst erlebte, sondern auch die, deren Werkzeug ich wurde.

Nun gut, beginnen wir von vorn. Jeder kennt dieses Phänomen, ein Beispiel: Sie haben sich von Ihrem Partner getrennt. Nach einer Trauerphase steht dann die Suche eines neuen Partners an. Garantiert in dem Augenblick, in dem Sie innerlich bereit sind, werden Sie genau den Richtigen treffen.

Sie wünschen sich einen neuen Job (und glauben auch daran, einen zu finden), Schwupps, werden Ihnen die Gelegenheiten über den Weg laufen.

Alles Synchronizitäten: Ereignisse, die keinen kausalen Zusammenhang besitzen, aber sinnhaft miteinander verbunden erscheinen.

Merkwürdiger ist folgendes: Sie bringen Ihrer besten Freundin, die Sie lange nicht getroffen haben, das erste Mal im Leben aus einer spontanen Eingebung ein kleines Geschenk mit. In Ihren Augen ein völlig belangloses Geschenk. Sie packt es aus und ist völlig verzückt, weil es gerade zu dem passt, was sie soeben beschlossen hat, in ihrem Leben zu ändern.

Für mich persönlich ist allerdings dieses Erlebnis von Synchronizität am schönsten gewesen: Eines Tages grübelte ich, wie den wohl dieser Jedi-Ritter hieß, den in den alten Star Wars Filmen Alec Guinness spielte und in den neuen Ewan McGregor. Es war sowas von dumm, ich kam auf die Namen der Schauspieler, mir fiel jedoch der Name der Figur nicht ein.

Nun ja, ich fragte meine Freundinnen, aber die wussten es auch nicht. Da wir gerade unterwegs waren und noch keine Smartphones besaßen – die Geschichte ereignete sich etwa 2013 – konnte ich auch nicht online danach suchen, später, zu Hause vergaß ich es.

Am nächsten Tag besuchten wir eine weitere Freundin, die am Rande der Lüneburger Heide wohnt. Natürlich mussten wir dort einen Spaziergang machen. Es war ein Wochentag und die Heide war wunderbar leer, kein Mensch weit und breit, nur ein großer Hund begegnete uns.

Hah, dachte ich, was für ein Trottel lässt seinen Hund hier allein durch die Gegend laufen? Irgendwo muss doch sein Herrchen sein.

Da hörte ich eine männliche Stimme rufen: „Obi Wan Kenobi, komm her!“

Nur ein Zufall oder doch mehr? Vielleicht der Ausdruck einer Verbundenheit, die sich schwer erklären oder fassen lässt. Oder einfach nur ein nerdiger Fan, der eben seinen Hund nach seinem Lieblingsfilmcharakter benannt hat und der zufälligerweise zur gleichen Zeit am gleichen Ort spazieren ging wie meine Freundinnen und ich, wie es hunderte weitere Menschen mit ihren Hunden Han Solo oder Data oder Beethoven jeden Tag tun, ohne mir weiter aufzufallen?

Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur, dass ich lachen musste und am liebsten auf die Knie gesunken wäre aus Ehrfurcht vor dieser wahnsinnig wunderbaren Kreativmaschine Universum, in der wir leben. Warum einen Zettel dranhängen? Ich erlebe und staune lieber.

19. September – Grafen

Der Telegraf ist seit langer Zeit arbeitslos. Niemand mehr benötigt ihn, der früher einmal Telegramme mittels eines Morsealphabets durch einen dünnen Draht über weite Strecken übermitteln konnte.

Im Grunde war nur seine Fähigkeit gefragt, gesprochenes Wort in Striche und Punkte und Punkte und Striche zu übersetzen und natürlich rasend schnell mit den Fingern die langen und kurzen Signale Dit..Dit…Dit – Dah…Dah…Dah zu tippen oder die auf dem Kopfhörer ankommenden Signale zu verstehen und für den Empfänger in Buchstaben zu verwandeln. Verschwiegen musste er natürlich sein, ein Geheimnis zu bewahren wissen. Denn nicht alle Nachrichten, die durch Punkte und Striche übermittelt wurden, waren für jedermanns Ohren bestimmt.

Auch der Stenograf ist heute so ziemlich ausgestorben. Manchmal noch ersetzt durch eine Stenografin. Aber so häufig wohl nicht mehr benötigt, in den meisten Fällen wird einfach eine Tonaufzeichnung benutzt, die derzeit noch eine Schreibkraft abtippen darf, demnächst aber wohl direkt der Computer verstehen und in eine Textdatei verwandeln soll. Natürlich gibt es entsprechende Programme bereits, aber zum Glück für alle Sekretärinnen und Assistentinnen, funktionieren diese noch nicht so besonders gut.

Es hat ziemlich viele Grafen erwischt, seit der Französischen Revolution. Aber den Fotografen gibt es noch. Auch den Lithografen hier und da. Ein Hoch auf unsern Adel!

18. September – Blick aus dem Fenster

Blick aus dem Fenster. Wunderbar aufgeräumt sieht es aus dort draußen. Ordentlich stehen die Grashalme in Reih‘ und Glied, ebenso die Bohnenranken und auch die Apfelbäume. Die Herbstsonne wirft ihre goldenen Strahlen über sie. Lässt all die Pflanzen dort noch einmal in hellem, satten Grün aufscheinen.

Ein paar Wölkchen tummeln sich am blauen Himmel, spielen Ringelreihen. Der Wind hält sich noch zurück, kein Tosen, nur ein zartes Streicheln, kein Zerren, nur ein beherztes Zupfen. Die Baumwipfel wiegen sich in seinen Armen. Die langen Schatten künden den Herbst. Der Sommer geht zur Neige.

So sehr wir auch an den letzten Tropfen saugen, sie auf der Zunge behalten, nachschmecken. Brandgeruch dringt schon in unsere Nasen. Erste Kälte zwickt uns, macht uns unleidlich. Die Schwalben sind längst fortgezogen und die Stare machen Zwischenstation auf dem Dach unseres Nachbarn. Unruhig sitzen sie, wippen mit ihren Schwänzen, trippeln voller Ungeduld, Reisefieber unterm Federkleid.

Bald ist auch der Mais überall geerntet, die letzten Äpfel sind gefallen. Dann bereitet sich alles auf die Ruhe vor, das Kräfte sammeln. Im Dämmerschlaf. Bis zum nächsten Aufkeimen, Wachsen, Springen, Wiederkehren.

17. September – Ein knorriger, alter Mann

Eines Nachts kam ein knorriger, alter Mann an meine Tür und klingelte. Normalerweise mache ich um die Uhrzeit die Haustür unten gar nicht mehr auf. Aber ich erwartete eine Freundin, die sich bereits per Telefon angekündigt hatte. Also drückte ich ohne lange nachzufragen den Summer, öffnete meine Wohnungstür einen Spalt und verschwand wieder in der Küche, um Tee zuzubereiten.

Als nach zwei Minuten immer noch keine Caro bei mir in der Küche stand, wunderte ich mich und ging wieder an die Tür. Sie stand immer noch einen Spalt offen, unverändert. Ich öffnete sie und lauschte ins Treppenhaus. Ein keuchender Atem war zu hören, schwere Schritte, ein hohler, klackernder Ton. Caro konnte das nicht sein, außer sie hatte über Nacht 100 Kilogramm zugenommen, sich außerdem noch beide Beine gebrochen und versuchte jetzt mit Krücken in den fünften Stock zu gelangen.

Ich versuchte, durch die Treppengeländer nach unten zu erspähen, wer sich da näherte. Ich sah aber nichts weiter als eine alte, sehr alte knorrige Hand, die sich in Zeitlupentempo am Handlauf nach oben schob. Sich festkrallte. Dann wieder löste und ein paar Zentimeter weiter oben zukrallte. Die Adern traten hervor, knotig waren die Finger und große Altersflecken prangten auf dem Handrücken.

„Hallo!“, rief ich zaghaft. Das Keuchen wurde lauter, dann ein knapper Ruf. Ich verstand aber nicht, was gerufen wurde. Eine große Furcht erfasste mich. Wer schellte um diese Uhrzeit bei mir? Keuchte langsam wie eine Schnecke die Treppen hinauf? Schnell glitt ich zurück in meine Wohnung und schloss die Wohnungstür hinter mir. Leise. Und lauschte. Legte mein Ohr an das glatte Holzimitat. Bestimmt hatte sich der Mann getäuscht. Im Dunkeln die falsche Klingel gedrückt. Vielleicht wollte er zu Familie Semmerau von unten. Ich unterdrückte ein Zittern. Ein lautes Klacken ertönte. Das Flurlicht hatte sich automatisch ausgeschaltet. Dann ein leises Klicken. Wieder an.

Ich schaute durch den Spion. Ich sah einen alten Mann mit einem dunklen Wurzelholzstock im zerschlissenen Lodenmantel, mit weißem Backenbart und einer Schiffermütze auf dem Kopf vor meiner Tür stehen. Langsam schob sich der Zeigefinger seiner Hand auf meine Klingel. Noch bevor er sie berührte, wusste ich, ich mache nicht auf. Nein, niemals.

Als ich dies dachte zuckte das linke Auge des Mannes in meine Richtung. Sein Augapfel drehte sich und blickte mich voll an. Ertappt machte ich einen Schritt zurück in meine Wohnung. Die Türklingel schrillte in meinen Ohren. Ich versuchte, unhörbar zu atmen. Wartete. Er klingelte wieder. Mich an der Wand entlang tastend trat ich den Rückzug in meine Küche an. ‚Drrrring‘. Ich hasste diesen Ton. Nun ließ er den Finger auf der Klingel. Ich spürte das Knirschen des alten Fingernagels auf dem Knopf.

„Verdammt nochmal“, brüllte ich, „wer sind Sie, was wollen Sie? Mitten in der Nacht?“ Das Klingeln erstarb. Keine Antwort. Vorsichtig näherte ich mich wieder der Tür, spähte durch den Spion. Der Mann hielt einen Zettel hoch.

„Suche Arbeit!“, stand dort in großen Lettern.

„Nachts um Elf?“, rief ich erbost. „Machen Sie, dass Sie wegkommen.“ Dann wurde plötzlich etwas weich in mir.

„Warten Sie einen Moment“, sagte ich und lief in die Küche, um etwas zu essen und eine Flasche Bier in eine Tüte zu packen. Auch zwei Geldscheine legte ich dazu. Dann legte ich die Kette vor, öffnete die Tür einen Spalt und reichte die Tüte hinaus. „Tut mir leid, mehr kann ich nicht für sie tun.“

„Doch, bitte“, stieß der Mann mit rauer Stimme hervor, „würden sie bitte einen Moment meine Hand halten?“ Und schon griff er nach meiner Hand, die die Tüte festhielt, umschloss sie sanft mit seiner alten, knotigen Hand. Ich schaute den Mann an, sah seine Augen, voller Trauer, voller Abschied, voller Freude. Ganz sanft lag meine Hand in seiner.

„Wer…“, begann ich. Und dann begriff ich.

„Warte“, ich löste meine Hand aus seiner, öffnete die Tür und ließ den alten Mann ein.

„Komm!“ Ich führte ihn den Flur entlang Richtung Küche.

„Psst! Du schläfst gerade.“ Ich öffnete kurz die Tür zu Saschas Zimmer. Er war noch klein und niedlich, gerade fünf, er hatte seinen Plüschdelphin im Arm, die Beine freigestrampelt. Leise führte ich den Mann in die Küche, bat ihn, sich zu setzen.

Du träumst gerade“, sagte ich zu Sascha, den ich hinter den Augen des alten Mannes erkannt hatte. Er nickte.

„Ich bin gerade gestorben und du träumst von mir, damit du noch einmal mit mir Tee trinken, meine Hand halten und dich verabschieden kannst.“ Wieder nickte der alte Mann. Also tranken wir Tee und hielten uns an der Hand. Als der Alte Luft holte, schüttelte ich den Kopf.

„Sag’s mir nicht!“ Und so saßen wir, bis Sascha aufhörte zu träumen. Ich erkannte es daran, dass die Augen des Alten plötzlich dunkelgrau wurden. Da entzog mir der Mann verlegen seine Hand, stand auf, nahm die Tüte mit den Kostbarkeiten und verließ schlurfend meine Wohnung. Zehn Minuten später klingelte Caro. Ich musste neues Teewasser aufsetzen.

16. September – Maeve stattet einen Besuch ab

Liebe Maeve, Göttin der Verantwortung! Das find ich ja nett von dir, dass du mal vorbeischaust. Richtig klasse siehst du aus in deinem Wallekleid mit Diadem auf roten Haaren und natürlich Schwert und Schild und Täubchen auf den Schultern und gehörnter Kuh neben dir.

Ein bisschen getriezt fühle ich mich ja schon. Aber dann denke ich schnell daran, dass du mich ja unterstützen willst, nicht gängeln. Und ich arbeite ja sowieso gerade am Endlich-Erwachsen-Werden. Und ist das jetzt wirklich noch sooo viel, wofür ich noch keine Verantwortung übernehme, dass du extra zu Besuch kommen musst?

Mmh. Na ja, So ein, zwei Dinge fallen mir da schon ein. Peinlich, nicht, dass da immer noch was ist, worum ich mich bisher gedrückt habe. Okay. Ich spuck es aus. Ich bin selbst verantwortlich für mein Dicksein. Kein Mensch hat mich gezwungen so viel zu essen und zu sammeln und mir Schutzschichten zuzulegen, nur damit ich mich nicht mit unerwünschten, unangenehmen, angstmachenden, lästigen Gefühlen herumschlagen musste. Ja, ich habe die Verantwortung für all diese Regungen, die Wut, den Zorn, die Lust, die Lebendigkeit, die Angst, die Wildheit, die Hingabe, die Ach-was-weiß-ich, eben alles, was sich so regt in mir und gerade nicht passt, weil ich mich dann streiten müsste (oh, wie ich Konflikte scheue) oder weil ich dann meine Angst oder Unwissenheit zugeben müsste. Nö, da ist es natürlich viel einfacher noch ne Pizza zu bestellen. Klar, soll sich mein armer Körper mit den ungelebten Gefühlen abplagen.

Na gut, Maeve, das war Nummer eins. Dann zeig mal, was du kannst, und lehre mich Mores, also Verantwortung zu übernehmen. Anstatt zur Gabel greife ich also in Zukunft zu Schwert und Schild und hau den Deppen eine auf die Barnatzel. Wer mich ärgert, muss damit rechnen. Okay, okay, ganz so dolle wird’s nicht, dafür sitzen ja die friedlichen Täubchen auf meinen Schultern und gurren mir was vor: „Bedenke das Ende, gib dich hin, aber bedenke das Ende!“ Ja, ja! Das Rumlavieren soll ich lassen, immer auf die passiv-aggressive Tour einfach Aufgaben „vergessen“, die mir nicht passen anstatt zu sagen: „Mach ich nicht, will ich nicht!“ Wenn ich Raum brauche, mir den einfach zu nehmen anstatt auf eine glückliche Fügung zu warten, die mir die willkommene Ausrede liefert, das zu tun, was ich lieber will.

Gut, gut, Maeve. Schon kapiert! Schnauze auf statt Klappe halten, zu mir stehen, die Folgen tragen. Können ja auch ganz angenehme Folgen sein. Wahrscheinlich sind die sogar superangenehm und ich Idiotin habe aus lauter Schiss all die Jahre darauf verzichtet. Her mit dem Schwert, ich richte es auch nur zu Boden, wie du es tust. Solange die anderen friedlich sind, versprochen.

15. September – Frau mit Jaguar

Eine Freundin von mir hat einen Jaguar. Also nicht das Tier, sondern das Auto. Das ist so ein wirklich schickes, ein klein wenig gefährlich aussehendes Gefährt mit einem springenden Jaguar als Kühlerfigur.

Ihr Jaguar ist ein etwas älteres Modell, fast schon ein Oldtimer. Meine Freundin ist alleinstehend, Single, wie man das neudeutsch nennt, und besitzt außer dem Jaguar noch ein großes Haus mit Doppelgarage und Kenntnisse als Automechanikerin obendrein, anscheinend ist das bei einem alten Jaguar von Vorteil. Ja, richtig, sie ist ein außergewöhnliches Exemplar Mensch.

Nicht jede Frau ist erfolgreich im Job, hat ein großes Haus, ein tolles Auto, kann dieses auch selbst reparieren und sieht darüber hinaus auch noch gut aus. Und entscheidet sich gegen Ehe, Kinder und sonstige familiäre Verpflichtungen. Dabei ist sie nicht unglücklich. Das Klischee vermutet nun eine schlimme Kindheit oder sonstige Traumata als Hintergrund. Aber nein, die Eltern meiner Freundin haben sie stets dazu ermuntert, sich selbst treu zu sein. Und das bleibt sie bis heute: sich selbst treu.

Ab und zu hat sie mal Amouren. So nennt sie das. Aber bisher hat sie keinen Mann getroffen, der mit ihrer Unabhängigkeit über längere Zeit klar kommt. Sicherlich, irgendwo wird es diesen Menschen geben, der schätzen kann, dass meine Freundin vor allem sich selbst treu ist und nicht einem anderen Menschen oder einer Sache.

Wenn ich ehrlich bin, dann bewundere ich sie für ihre Unangepasstheit und dennoch erscheint sie mir oft wie ein Monolith aus dunkler Vergangenheit oder einer unerreichbaren Zukunft, irgendwo in einer Welt gestrandet, die mit ihr rein gar nichts anfangen kann.

14. September – Die Bedürfniserfüllungsmaschine

„Das ist doch wirklich kein großes Ding, du kannst mich doch eben mal rüber fahren zu Klaus!“ Forderung steht in seinem Gesicht, auch Trotz und Empörung über meine Ablehnung. Die Bedürfniserfüllungsmaschine hat heute eine Störung, tut mir leid, mein Sohn, denke ich im Stillen. Und schüttele den Kopf.

„Nein!“

„Ach menno, warum denn nicht?“

Viele Antwortmöglichkeiten schießen mir durch den Kopf. Wilde Lügen wie „Tropfen vom Augenarzt und ich sehe nicht mehr richtig“ oder „Mein Kreislauf ist so down, dass es zu gefährlich ist Auto zu fahren“ fallen mir ein. Aber erstens glaubt mir das mein Sohn ohnehin nicht – ist ja ein schlaues Kerlchen – und zweitens warum soll ich eigentlich lügen?

Natürlich aus Angst. Ich mag nicht zugeben, dass ich nicht will, dass es mich ankotzt, dass ich keinen Nerv auf ‚Supermutter reitet wieder‘ habe. Wann bitteschön ist denn hier in dem Haushalt mal ein bisschen Zeit für mich und meine Bedürfnisse reserviert? Klar, ich bin ja selbst schuld. Erst die Gören so verziehen und dann beschweren.

Aber trotzdem. Die sind alt genug. Und dann gibt es eben Knatsch, dann haben sie Mami eben nicht mehr lieb. Meine Tochter hab ich schon verprellt, weil ich mit ihr partout nicht Gummitwist spielen wollte. Ihre Freundin Karin hat nämlich keine Zeit. Jetzt spielt sie in ihrem Zimmer mit zwei Stühlen, die die Beine der Mitspieler ersetzen. Und jetzt ist also mein Sohn dran. Will gefahren werden, dabei muss er nur aufs Fahrrad steigen und ist in einer halben Stunde bei seinem Kumpel.

Also sage ich: „Weil ich nicht will.“

„Das ist doch voll gemein von dir!“

„Ja, klar“, sage ich. „Ich find es auch voll gemein, dass du dein Zimmer nicht aufräumst und putzt, den Müll nicht rausträgst, vergisst den Teller in die Spülmaschine zu stellen. – Ich will einfach nicht. Ich brauche mal einfach Zeit und Ruhe für mich ohne Fahrdienst, ohne Putzdienst, ohne Spieldienst. Ich bin schließlich nicht nur Mutter und Putzfrau.“

Mein Sohn verzieht sein Gesicht. „Geht die Leier wieder los!“

„Genau, die Leier“, sage ich. „Und ich fahre dich auf keinen Fall. Nimm halt das Fahrrad, geh zu Fuß oder sag Klaus, dass er zu dir kommen soll.“

„Du bist echt blöd“, ruft mein Sohn, dreht sich um und rauscht aus dem Zimmer.

Eine Viertelstunde später schaue ich von meinem Buch auf und sehe die Mutter von Klaus vorfahren. Mein Sohn springt aus der Tür und steigt ein.

„Meine Güte“, stöhne ich, „Mütter aller Länder vereinigt euch doch endlich!“

13. September – Ihr Herz spricht

Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle, ich bin Ihr Herz! Wahrscheinlich haben Sie sich längst daran gewöhnt, dass ich in ihrer Brust schlage. Womöglich beachten Sie mich kaum. Außer natürlich, wenn Sie sich gerade verliebt haben oder Sie verlassen worden sind. Da greifen Sie sich vielleicht an die Brust, um Ihr gebrochenes Herz zu halten oder Sie freuen sich, wie wild ich auf und ab Hüpfen kann vor lauter Liebe.

Nun ja, aber insgesamt muss ich doch feststellen. Sie kümmern sich viel zu selten um mich und darum, dass es mir gut geht. Und ich meine damit nicht solche Dinge wie Ausdauertraining und gesundes Essen. Natürlich schadet mir das nicht gerade. Aber noch viel wichtiger als womöglich lustlos aber pflichtbewusst auf dem Cardio-Trainer herumzuhampeln ist es, wenn Sie spielen, Spaß haben, herumrennen, lachen, hüpfen, knobeln, singen oder malen.

Sie glauben gar nicht wie gut mir das tut, wenn Sie sich einfach nur mal hängen lassen. Also nicht wirklich, aber so im übertragenen Sinn. Dann fließt das Blut gleich viel leichter durch Ihre Blutbahnen. Das ganze Stressige, Strenge fällt von Ihnen ab und ich schlage leicht wie eine Vogelschwinge und Sie fliegen mit mir davon in eine Welt voller Leichtigkeit und Freude.

12. September – Aufgespartes Leben

Es war einmal ein kleines Mädchen, das war das jüngste von 13 Kindern. Und weil die Eltern sehr arme Leute waren, hatten sie für ihr jüngstes Kind kein Leben mehr übrig und es musste das Leben von einer älteren Cousine auftragen, die es nicht mehr brauchte.

Also quälte sich das kleine Mädchen mit dem viel zu großen Leben ab. Seine Eltern hatten zwar ein paar Abnäher reingemacht und Arme und Beine gekürzt so gut es ging. Aber das Mädchen stolperte doch ständig über die losen Enden. Zum Glück fanden die Eltern noch ein altes verstaubtes Leben in einer Truhe unter dem Dach, das war von einer Großmutter übrig. Sie hofften, dass das dem Mädchen vielleicht besser passen würde. Also probierte das Mädchen das Leben an und siehe da, das von der Oma passte tatsächlich besser.

So stolperte es nicht mehr so oft. Die Leute wunderten sich nur manchmal über seine sehr bestimmten Ansichten zu ehelicher Treue, Nacktheit in der Öffentlichkeit und über sein streitbares Verhältnis zum Pfarrer, mit dem es regelmäßig religiöse Fragen erörterte. So wuchs das Mädchen heran und das alte Leben von der Großmutter fiel langsam aber sicher auseinander, wurde immer löchriger und fadenscheiniger. Da machten sich die Eltern Sorgen, wo sollten sie denn bloß noch ein haltbares Leben für ihre jüngste Tochter herbekommen. Ein Leben, das nicht gleich auseinanderriss, wenn mal einer zu laut nieste.

Aber dem Mädchen schien überhaupt nicht bange zu sein. Sie strapazierte das alte Leben der Großmutter nach Herzenslust. Denn das Mächen hatte längst bemerkt, dass die Oma heimlich große Klumpen von Lebensenergie ganz unten in den Taschen versteckt hatte. Das Mädchen wusste nicht so genau warum. Aber dort musste sie nur die Fingerspitzen hineinstecken und schon kribbelte und hippelte es überall an ihr und in ihr. Und so lachte sie nur über die Sorgen ihrer Eltern und ließ es sich wohlergehen mit dem ganzen aufgesparten Leben von der alten Großmama.

11. September – Verlässlich wie die Sonne

Die Sonne scheint doch jeden Tag, auch wenn ich sie nicht sehe. Sie scheint und scheint und scheint. Wäre ja auch dumm, wenn sie damit aufhören würde.

Also gibt es doch etwas auf der Welt, auf das ich mich verlassen kann. Die Sonne scheint und scheint unablässig, wahrscheinlich noch die nächsten paar Milliarden Jahre oder? Im Grunde wurscht, weil ich werde ohnehin nur noch 50, 60 Jahre hier herumleben und meine Kinder und Kindeskinder sind vielleicht in 100 oder 500 oder 10.000 oder in einer Million Jahren ausgestorben. Wer weiß das schon. Also steht für mich fest, dass ich mich immer darauf verlassen kann, dass die Sonne scheint. Prima.

Regen fällt vom Himmel auf die Erde. Auch sowas, worauf ich mich verlassen kann. Klar, mal regnet es quer, wenn es sehr windig ist, aber grundsätzlich fällt Wasser, Schnee, Eis oder Graupel aus einer Wolke, zack, abwärts und tränkt die Erde, vermischt sicht mit anderem Wasser im Meer, in Seen und Flüssen. Überhaupt geht angeblich kein Wasser verloren und wird in einem großen Kreislauf immer wieder und wieder verwendet. Blöd nur, wenn es dabei ganz verunreinigt, belastet oder sowas wird. Aber es geht auf keinen Fall verloren. Noch so ein Mysterium der Verlässlichkeit.

Auch das mit den Äpfeln und den Bäumen scheint zumindest hier auf der Erde so einigermaßen verlässlich, obwohl es das natürlich nicht ist. Falls ich das richtig verstanden habe mit der Relativitätstheorie und der Quantenphysik und den Quarks und den Strings. Was bedeutet das aber dann für die Sonne, die immer scheint, oder für das Wasser, das niemals verloren geht?

Könnte es dann nicht auch sein, dass sogar dies anscheinend verlässliche auf Ebene der Teilchen absolut unsicher ist? Ist es einfach nur Zufall, dass ich, dass wir in einer so sicheren Welt leben? In einer Welt, die uns sicher scheint, weil wir genau für sie gemacht sind und uns an sie gewöhnt haben. Einem methanatmenden Eiswesen, das sich bei Null Grad Kelvin erst richtig wohlfühlt, würde es hier nicht so gefallen. Aber warte nur ab, deine Zeit kommt auch noch.

10. September – Im Wald ist es still

Die Vögel singen nicht mehr. Im Wald ist es still. Die Mücken fliegen lautlos und stechen noch lautloser.

Ab und zu raschelt ein Tier im Unterholz. Ganz selten einmal bricht ein Reh durch. Aber kein Singen. Kein einziger Ton.

Die Vögel sind es leid sich zu produzieren und aufzuspielen, sie jiepen und fiepen nicht mehr, kein jubeln, kein tirilieren, kein schuhuhen und auch kein pfeifen weder eintönig noch melodiös. Einfach Stille.

Bis auf meinen Atem, die Schritte auf dunkler Erde, manchmal raschelndes Laub und dann und wann von ganz weit vorn doch ein merkwürdiges Geräusch, fast ein Pfeifen. Aber es ist nur ein Jogger, der sich für seine Gesundheit abmüht. Kaum erspäht er mich, nimmt er Haltung an und hört auf zu keuchen und zu japsen. Nur die schweren Tritte verraten, dass er sich nicht so häufig diese Tortur aussetzt.

Gamander Ehrenpreis ist längst verblüht, dick und lila prangen verräterisch aussehende Früchte am Gesträuch. Da beginne ich ganz langsam und zögerlich selbst zu pfeifen. Ein bisschen die Tonleiter rauf und runter, ein paar Synkopen, dann Beethoven. Ich werd es euch schon zeigen. Wenn ich Urwaldgeräusche will, dann mache ich mir eben selber welche. Herbst? Keine Lust mehr?

Pah. Ich habe das ganze Jahr Saison.