19. Juli – Erkenne deinen Feind

„Erkenne deinen Feind“, sagte mein Vater immer und nickte dabei bedeutungsvoll. Und ich lauschte andächtig und nickte ebenfalls. Das erschien mir einleuchtend.

„Erkenne deinen Feind!“ Und dann weißt du genau woher alles Gemeine und Böse auf dich zukommen wird. Du kannst dich wappnen, du kannst ihm eins auswischen, bevor er darauf kommt dir eins auszuwischen, dein Feind. Oder du gehst ihm einfach großräumig aus dem Weg, das ist am sichersten.

Dann kam ich aufs Gymnasium und las über der Tür zur Aula: „Erkenne dich selbst“, natürlich stand dort in Altgriechisch Gnothi Seauton und ich musste abwarten, bis es einer unserer Lehrer erklärte, was es bedeutet. Aber dann war ich erschüttert.

Wenn es so wichtig war, mich selbst zu erkennen, wäre es da nicht logisch, dass ich selbst mein ärgster Feind sei. Und wenn das so wäre, welche Chance hätte ich dann, so dachte ich, mir selbst aus dem Wege zu gehen, mir eins auszuwischen bevor ich es selber tat oder zu verhindern, dass alles Gemeine und Böse direkt von mir auf mich zukommen würde.

Als ich nach Hause kam, fragte ich sofort meinen Vater danach, aber der lachte mich nur aus. Da würde ich schon noch drauf kommen, wenn ich älter wäre.

18. Juli – Schwarze Krähe

Eine schwarze Krähe saß auf dem Zaun und wippte mit dem Schwanz. Ich wusste genau, wenn ich noch ein paar Schritte auf sie zugehe, dann breitet sie die großen schwarzen Flügel aus und erhebt sich in die Lüfte.

Dann zieht sie einen Halbkreis über mir und landet irgendwo auf dem Rasen in der Nähe der Landebahn. Warum die Krähen mich fürchten, weiß ich nicht so genau. Vielleicht sehe ich der Vogelscheuche ähnlich, die ohnehin keiner mehr aufstellt. Oder ich ähnele dem Bauern, der die nimmersatten Krähen gerne abknallen würde, das aber nicht darf.

Manchmal balancieren fünf, sechs oder sogar acht Krähen auf dem Zaunrand. Dann sehe ich, wie eine antäuscht, die nächste mit den Flügeln zuckt und sie doch sitzenbleiben bis zum letzten Augenblick – bis sie alle wie ein schwarzes Gestöber in den Himmel aufflattern.

15. Juli – Charlotte

An der Straßenbahnhaltestelle spricht Charlotte plötzlich jemand an.

„Bist du nicht auch am Kästner?“

Sie blickt erstaunt von ihrem Buch auf und nickt zögernd.

„Hast dich irgendwie verändert in letzter Zeit“, plappert der Junge weiter.

„Irgendwas mit den Haaren“, er schaut sie prüfend von oben bis unten an, „und mit deinen Klamotten.“

Als sie immer noch nichts sagt, streckt er ihr die Hand entgegen.

„Ich bin der Peter!“ Sie rührt sich immer noch nicht. „Eine Stufe über dir“.

Charlotte runzelt die Stirn.

„Hast du eine Zigarette für mich? Weißt du meine Mutter hat einen neuen Freund und ist jetzt dauernd bei ihm. Sie lässt mir nur so wenig Taschengeld da, das reicht dann nicht mehr für Kippen. Sie will auch nicht, dass ich rauche. Na ja, und ich bin jetzt schon zweimal beim Klauen erwischt worden.“

Peter zaubert ein charmantes Lächeln auf sein Gesicht.
Als Antwort kramt Charlotte in der Tasche ihres langen schwarzen Mantels und reicht ihm schließlich ein Päckchen zerdrückte Gaulloises. Er nimmt sich gleich zwei und steckt eine in seine Tasche.

„Feuer?“ Er schaut ihr immer noch charmant lächelnd in die Augen.

Etwas widerstrebend gibt sie ihm auch Feuer, steckt ihre Zigaretten und das Feuerzeug wieder ein. Sie schaut auf die Uhr und dann die Straßenbahnschienen entlang. Noch ist die 21 nicht in Sicht. Sie schlägt ihr Buch wieder auf.

„Wo willst du denn hin?“ Seufzend lässt Charlotte ihr Buch erneut sinken, behält aber den Finger zwischen den Seiten.
„Hauptwache“, sagt sie möglichst kurz angebunden und hofft, dass dies deutlich genug ihre Ablehnung zeigt.

„Da fahre ich auch hin“, ruft Peter fröhlich, „dann können wir uns ja zusammensetzen.“

Charlotte lächelt kurz verkniffen und schlägt abermals ihr Buch auf. Nun entfernt sich Peter ein paar Schritte. Kommt aber gleich darauf zurück und verkündet, dass die Bahn endlich komme.

Also packt Charlotte ihr Buch in die Schultertasche und steigt in die Bahn. Sie will sich auf einen Einzelplatz setzen, aber die sind alle besetzt. Sie bleibt stehen. Aber Peter hält sich an einer Halteschlaufe direkt über ihr fest.

„Bin gerade unterwegs ins Kino, will mir ‚Das Ding’ angucken. Das soll ein total guter SciFi-Horrorfilm sein, mit interessanten Spezialeffekten!“

Charlotte sagt noch immer nichts, aber ihr Gesicht schaut etwas weniger unfreundlich.

„Gehst du gerne ins Kino? Ich habe Freikarten für morgen Nachmittag, hast du Lust mitzukommen?“

„Vielleicht. Was für ein Film denn?“

„Die Klapperschlange mit Kurt Russel.“

Den hat sich Charlotte sowieso ansehen wollen, sie überlegt, „haste vielleicht auch drei Freikarten? Dann würde ich noch ne Freundin mitbringen.“

Peter zögert.

„Ja, klar, dann treffen wir uns morgen um vier wieder an der Haltestelle wir müssen dann ins Royal. – Ich muss gleich aussteigen. Kannst du mir noch ein, zwei Zigaretten spenden?“
Charlotte reicht ihm wortlos zwei weitere.

„Bis morgen“, ruft er und springt beim nächsten Halt aus der Straßenbahn.

14. Juli – Blind Date

„Warst du jemals in einer Leichenhalle?“, fragt mich Michael, mein Blind Date, und rührt in seinem Cappuccino. Sein Augenaufschlag bei dieser Frage haut mich um. Solche tiefen, braunen Augen haben mich noch nie angeblickt. Darin könnte ich baden, aufgehen, sie ausschlürfen wie den Kakao, der vor mir in einer großen, weißen Tasse dampft.

„Äh, wie bitte?“, frage ich verwirrt nach einer peinlich langen Pause und rühre meinerseits in meinem Heißgetränk.

„Ob du schonmal in einer Leichenhalle warst?“, sagt er.

„Hm, nö“, lüge ich.

Was ist das denn für eine Frage beim ersten Date? Aber diese Augen, schon wieder kann ich mich kaum losreißen. Zum Glück schaut Michael jetzt in eine andere Richtung und ich kann meinen Blick diskret nach unten wandern lassen. Ich gebe zu, mir gefällt, was ich da sehe. Gepflegt der Mann und gut gekleidet, auch gut gebaut, soweit ich das erkennen kann. Und seine Stimme, sehr angenehm, wenn sie mich nicht nach Leichenhallen fragen würde. Was für eine Idee, mich so etwas zu fragen. Ich rühre wieder, um mich zu sammeln. Der Kakao muss langsam kalt sein.

Dann erzählt er, dass er vor kurzem das erste Mal in einer Leichenhalle gewesen sei. Eigentlich nur in einem Besucherraum. Denn die ganze Halle, wo die Leute womöglich aufgeschnitten würden, wo es vielleicht bis an die Decke weiß gekachelt sei wie beim Metzger, wie im Schlachthaus, da wäre er selbstverständlich auch nicht gewesen. Außerdem wolle er sich das gar nicht vorstellen. Nein, lieber nicht.

Nun, schön, denke ich, aber jetzt stelle ich mir das vor. Meine Hand legt automatisch den Löffel auf der Untertasse ab und schiebt den Kakao weit fort von mir. Ein letztes Mal versuche ich, mich in seine tiefbraunen Augen zu versenken. Aber sie haben ihre Magie verloren. Ich sehe nur noch weiß gekachelt vor mir, bis unter die Decke.

Er mache da nämlich so einen Kurs, fährt Michael fort, bei der Volkshochschule, um sich mit dem Thema Tod anzufreunden. Das beträfe ja schließlich jeden, irgendwann, und würde in unserer Gesellschaft doch ausgeblendet, totgeschwiegen sozusagen.

Ha, denke ich, wie passend. Und dann denke ich an die Prosektur und den süßlichen Geruch des Todes, der mir immer noch manchmal in die Nase steigt. Vor allem wenn ich zu schnell auf der Autobahn unterwegs bin. Und dann denke ich an kalte Haut, so kalt wie keines Menschen Haut sich jemals anfühlen sollte. Und ich denke daran, wie unterdrückte Emotionen sich in einem kleinen Raum anstauen können, bis die Kehle zugeschnürt ist.

Und ich denke daran, wie ich plötzlich erst im Tod sehen konnte, dass mein Mann viel größer war, als er mir lebend immer erschien. Lange konnte ich über nichts anderes reden. Über den Verlust. Über ihn. Über alles, was ich vermisse und noch erleben wollte. Meine Freundinnen haben mich bekniet, mich wieder ins Leben zu stürzen. Meine Schwester schließlich hatte mich überredet, mich mit Michael zu treffen, einem ihrer Arbeitskollegen.

Er sei so sensibel und gutaussehend. Und ich war doch nach der langen Zeit mehr als bereit dazu wenigstens für diesen Nachmittag alles zu vergessen. Vielleicht hätte sie ihm sagen sollen, dass ich vor 26 Monaten und vier Tagen meinen Mann verloren habe. Oder sie hat es ihm gesagt, fällt mir ein. Vielleicht ist Michael gründlich und hat sich deshalb bei der Volkshochschule eingeschrieben. Mir ist der Appetit trotzdem vergangen. Nicht nur nach dem Kakao.

12. Juli – Die Fee im Garten

Eine kleine Fee flog gemütlich durch den Garten, an den Apfelbäumen vorbei, kreiste einen Moment über dem Holunderbusch und ließ sich dann auf einem abgesägten Baumstamm nieder. Diesen Garten hier fand sie nett, weil er ein bisschen verwildert und voller Bäume, Büsche und Blumen war. Nicht so wie in den umliegenden Gärten, wo die Beete abgezirkelt und die Möhren und Bohnen in Reih‘ und Glied standen. Sogar die Blumen mussten alle gleich aussehen.

Nein, da summte die kleine Fee lieber in diesem schönen verwunschenen Garten herum. Früher war manchmal eine alte Frau aus dem Haus gekommen und hatte im Garten gearbeitet. Aber immer hatte sie darauf geachtet, dass der verwilderte Charme nicht verloren ging.

Aber heute war etwas anders, das Haus lag wie verlassen da. Im Garten brummten und summten die Hummeln und Bienen. Ein Zaunkönig sang sein eintöniges Lied, als wäre alles wie immer. Und doch spürte die kleine Fee, dass etwas nicht stimmte.
Bald würde der Garten brach liegen, die alte Frau würde nicht mehr wiederkommen. Und die kleine Fee wird einen neuen verwunschenen Platz suchen müssen.

11. Juli – Leander – Höhepunkt der Show

Leander der Clown weint. Eine große Träne fällt aus seinem linken Auge und kullert seine Wange hinab.

Nur sein Gesicht ist noch im Spotlight zu sehen. Sein Partner Toto, der die Violine ebenfalls weinen lässt, bleibt im Dunkel verborgen. Das ist der Höhepunkt ihrer Show.

Nur perfekt, wenn nun die Kinder lauthals zu Schluchzen beginnen, die Frauen diskret ihre Taschentücher zücken und die Männer heftig schlucken und sich verstohlen die Augen wischen oder plötzlich heftig die Nase putzen müssen. Wenn der letzte Ton der Geige verklingt, verlischt das Licht.

Tosender Applaus brandet auf. Die Manegenbeleuchtung geht an. Leander und Toto lachen wieder, verbeugen sich in alle Richtungen.
Abgang.

10. Juli – Das Mädchen unter dem Tisch

„Was treibst du dich hier herum?“ Franz reagierte wütend, als er das kleine Mädchen unter dem Tisch entdeckte, als er gerade die Stühle hochzustellen begann. Es war spät, Sperrstunde vorbei. Die letzten Gäste hatte er gerade hinausgescheucht, die Tische abgeräumt und abgewischt. Dabei war er so müde. Und morgen früh hieß es schon wieder um fünf Uhr auf dem Großmarkt einkaufen. Und dann das! Ein Kind unter dem Tisch.

Sie wischte sich die Augen. Franz wusste nicht, ob das Mädchen geweint oder geschlafen hatte, aber ihre Augen waren verquollen. Ängstlich zuckte sie zurück, als er unter dem Tisch nach ihr greifen wollte.

„Na, ich tu dir schon nichts“, knurrte er. „Wie heißt du überhaupt?“ Das Mädchen schaute ihn misstrauisch an.

„Eva“, piepste sie schließlich.

„Ich heiße Franz. Und jetzt komm schon raus! Ein alter Mann wie ich sollte sich nicht so lange bücken müssen.“

Vorsichtig schob sich Eva seitlich unter dem Tisch hervor und stand auf. Sie strich ihre Bluse glatt.

„Schon besser“, sagte Franz. „Kannst mir mal helfen die Stühle hochstellen!“

Das ließ sich Eva nicht zweimal sagen. Eifrig half sie dabei und kaum drei Minuten später war schon alles erledigt.

„So“, sagte Franz und packte seine Sachen zusammen „dann fahr ich dich noch eben nach Hause.“

Erschrocken schaute Eva ihn an, dann ein schneller Blick zur Tür.

„Nein!“

„Aber was zur Hölle…“, begann Franz und verstummte.

So groß und ängstlich konnten Kinderaugen aussehen. Eva zog sich in sich zusammen, als wäre sie eine Schnecke, der das Haus abhandengekommen war. Franz schüttelte den Kopf. Wer tat Kindern sowas an?

„Hör mal“, sagte er, du kannst auch hier übernachten. Hinten gibt’s ein Sofa.“

Er führte sie in den kleinen Flur hinter der Küche. Dort stand sein altes, abgewetztes Sofa, wo er ab und zu ein Mittagsschläfchen machte. Es lohnte ja nicht, um drei Uhr nachmittags für die paar Stunden bis zum Abendbetrieb in seine Wohnung zu fahren. Er kramte eine Decke aus dem Dielenschrank. Eva beobachtete ihn misstrauisch.

„Magst was trinken oder essen?“, fragte er. Sie schüttelte den Kopf. Er stellte ihr trotzdem eine Flasche Apfelsaft hin und machte schnell ein belegtes Brot für das Mädchen. Sie beobachtete ihn genau, bei jedem Handgriff. Als er ihr den Teller hinstellte, setzte sie sich vorsichtig auf die Ecke des Sofas.

„Ich schließe ab. Morgen früh bin ich aber wieder hier und lass dich raus. Geht leider nicht anders“, fügte er bedauernd hinzu.

Am nächsten Morgen fuhr Franz wie jeden Tag zum Großmarkt. Gegen Sieben kam er in seiner Gaststätte an und schloss die Hintertür auf. Eva war verschwunden. Als er nachschaute, stand das Toilettenfenster offen.

Die Decke hatte sie ordentlich zusammengefaltet. Dann schaute er nach. Die 20 Euro, die er extra im großen Portemonnaie hatte liegen lassen, hatte sie nicht mitgenommen. Auch sonst fehlte nichts.

„Armes Kind“, dachte er. „Hoffentlich schaffst du’s!“

Dann räumte er die Waren in den Kühlraum.

9. Juli – Cecilia

Cecilia blieb als Letzte übrig, wie immer. Keine ihrer Schulkameradinnen wollte sie in ihrer Völkerballmannschaft haben. Dafür war Cecilia einfach zu ungeschickt. Nie schaffte sie es, den Ball zu fangen, wenn sie doch mal eine Mitspielerin anspielte und außerdem war sie so langsam, dass sie praktisch sofort getroffen wurde und das war es dann. Sie schaffte es nie zurück ins Spiel. Und auch heute war es wieder so.

Die anderen spielten, sie strengten sich an, sie lachten und hatten Spaß. Und Cecilia saß in der Hölle fest. Auch als andere Spielerinnen dazukamen, beachteten die Cecilia nicht. Schließlich war sie einfach zu merkwürdig. Später dann im Mathematikunterricht saß Cecilia still in der dritten Reihe. Niemals meldete sie sich. Sie zitterte davor, dass der Lehrer sie aufrufen könnte. Aber meistens hatte sie Glück. Der Lehrer nahm dann nur die dran, die sich meldeten. Und die glänzten und wussten die Antworten. Alle anderen waren eben einfach schlauer als Cecilia. So war das den ganzen Tag.

Nur im Kunstunterricht da geschah plötzlich etwas Unerwartetes. Die Lehrerin befahl den Mädchen, ihren rechten Schuh auszuziehen und vor sich auf den Tisch zu stellen. Den Schuh sollten die Mädchen zeichnen. Eifrig packten sie Papier und Bleistifte aus und strichelten los. Cecilia beugte sich besonders tief über ihr Blatt. Nur kurze Blicke warf sie auf den Schuh vor sich. Mit sicheren Bewegungen ihrer Hand warf sie die Konturen des Schuhs aufs Papier und arbeitete die dunkle Lederoberfläche, das silbrige Glänzen der Schnalle, die dunklen Falten im Leder, den leicht schiefen Absatz, die abgewetzte Stelle an der Ferse mit Licht und Schatten heraus.

So eifrig war sie bei der Sache, dass Cecilia sogar das Klingeln überhörte. Erst als sie die anderen Mädchen die Stühle an die Plätze rücken sah. Und eine nach der anderen mit ihrer Schultasche über der Schulter der Lehrerin ihr Werk abgab, da merkte sie, dass die Doppelstunde zu Ende war. In der Aufregung vergaß Cecilia, ihren Namen auf das Papier zu schreiben. Schnell packte sie ihre Sachen zusammen und legte ihren Schuh beim Hinausgehen auf den Stapel mit Zeichnungen.

In der nächsten Kunststunde gab die Lehrerin die benoteten Zeichnungen zurück. Eine Zeichnung, sagte sie, habe ihr besonders gefallen. Sie sei mit außerordentlich sicherem Strich gezeichnet und zeige das wahre Wesen des Schuhs. Dies sei schließlich das Ziel der Kunst, das wahre Wesen der Welt einzufangen, das ja für jeden anders und besonders sei. Das verlange einen sehr genauen Blick und die Fähigkeit die Wirklichkeit zu durchdringen. Und sie freue sich, dass sie eine so begabte Künstlerin in der Klasse habe. Leider habe die aber vergessen, ihren Namen auf das Blatt zu schreiben. Und dies sei das Bild. Die Lehrerin hob Cecilias Zeichnung hoch. Die Mädchen schauten ehrfürchtig auf die Zeichnung, die dermaßen von der Lehrerin geadelt wurde.

„Du kannst dich ruhig melden“, sagte die Lehrerin in die Klasse hinein.
Wen sah sie denn bloß an? Die Mädchen blickten sich gegenseitig an, welche von ihnen denn nun diesen sagenhaft realistischen Schuh zu zeichnen in der Lage gewesen war, diesen Schuh, der das Wesen aller Schuhe abbildete, den Schuh, der die Wirklichkeit durchdrang. Suchend irrten ihre Blicke. Keiner traf Cecilia. Die langweilige Cecilia, die konnte ja nichts. Die war doch nur merkwürdig und still und zu nichts zu gebrauchen.

Aber plötzlich ging die Lehrerin gerade auf diese Cecilia zu, legte das Blatt vor sie hin und sagte: „Wirklich hervorragende Arbeit, eine Eins plus! Denk das nächste Mal ans Signieren.“

Die Lehrerin lächelte sie freundlich an. Cecilias Gesicht erstrahlte glutrot, automatisch senkte sie den Blick. Da sah sie ihren Schuh auf dem weißen Papier. Den hatte sie gezeichnet. Sie und keine andere. Sie hatte die beste Zeichnung abgeliefert.

Da hob sie den Kopf und schaute das erste Mal seit langer Zeit ihren Mitschülerinnen in die Augen.

8. Juli – Positiv denken in der Katastrophe

Eines Tages stürzte Jens ins Labor und verkündete, dass es tatsächlich geschehen war. Die Katastrophe war eingetreten. Lange Jahre hatten wir alle gewarnt. Ständig hatten wir Lobby-Arbeit gemacht. Für den Klimaschutz, gegen die Regenwaldrodung, für fairen Handel, gegen Genfood.

Und nun war es passiert: Die ersten Toten nachweislich durch genetisch manipulierte Nahrung. Natürlich brodelte es seit langem. Aber bisher war es der Regierung, den Wirtschaftsvertretern immer gelungen den Deckel drauf zu halten.

Die Meldung verbreitete sich in sekundenschnelle um den Globus.
Diesmal war es nicht aufzuhalten. Es hatte fast alle Menschen auf einem Luxusdampfer erwischt, sämtliche Passagiere inklusive Mannschaft und Kapitän waren vergiftet worden, es hatten nur 16 Personen überlebt.

Nur mit Mühe konnten sie einen Hafen anlaufen, um sich dann in Quarantäne wiederzufinden. Zunächst wurde Vogelgrippe vermutet oder eine andere Viruserkrankung. Aber dann stellte sich heraus, dass das Fleisch von genmanipulierten Rindern die Ursache war.

Der Skandal offenbarte, dass weltweit bereits mehrere tausend Menschen an genau diesem veränderten Rindfleisch draufgegangen waren. Es entwickelte sich eine Art gallopierender Creutzfeld-Jakob-Variante. Die 16 überlebenden Personen auf dem Dampfer aßen allesamt kein Rindfleisch. Das hatte sie gerettet.

Und wir? Unsere Organisation? Uns wurden nach dem Aufdecken dieses Skandals sämtliche Gelder gestrichen.

Diese Rumstänkerei müsse aufhören, haben die Leute gesagt. Wir würden dieses ganze Unglück doch geradezu herbeireden. Wenn wir endlich aufhören würden immer die ganzen Missstände zu erfinden, dann wäre die Welt wieder in Ordnung. Alle wären glücklich. Und die Zukunft könne sowieso keiner aufhalten.

Wir sollten lieber lernen, positiv zu denken, das würde allen helfen.

7. Juli – Gertrud backt Pfannkuchen

„Verdammt nochmal!“ Gertrud schleuderte den verbrannten Pfannkuchen wütend in den Mülleimer. „Das gibt es doch nicht!“ Das war schon der dritte Pfannkuchen, der ihr verbrannte.

Beim ersten hatte es an der Tür geläutet. Der Postbote hatte ein Paket für den Nachbarn gebracht, der nie aufmachte. Das legte Gertrud dem Nachbarn noch schnell vor die Wohnungstür und als sie zurückkam, da qualmte es schon über dem Herd. Schnell zog sie die Pfanne von der Platte und riss das Fenster auf.

Das war der erste Pfannkuchen, der in den Mülleimer wanderte. Sie wischte die Pfanne aus, gab frisches Öl hinein und stellte sie wieder auf die heiße Platte. Pfannkuchenteig hinein. Diesmal würde sie aufpassen. Aber ihr Telefon läutete, Max war dran, sie erzählte ihm das Malheur mit dem Pfannkuchen. Plötzlich schlug sie sich an die Stirn, der zweite Pfannkuchen, sie hatte ihn vergessen und jetzt roch es schon wieder merkwürdig. Schnell rannte sie in die Küche und nahm die Pfanne vom Herd. Zwar qualmte der Pfannkuchen noch nicht, aber er war trotzdem völlig schwarz geworden. Also ab damit in den Müll.

Aber beim nächsten würde alles gut gehen. Gleichgültig, ob es klingelte, läutete, das Haus einstürzte. Sie würde neben dem Herd stehen bleiben und diesmal würde der Pfannkuchen genau richtig werden, auf jeder Seite zartgebräunt und innen goldgelb. Dann würde sie leckeren Ahornsirup darübergießen und ihn direkt aus der Pfanne essen. Mmh. Ihr lief schon das Wasser im Mund zusammen. Hatte sie denn überhaupt noch Ahornsirup? Sie schielte kurz zum Pfannkuchen. Der brauchte noch eine Weile.

Also lief sie schnell zur Vorratskammer und schaute nach dem Sirup. Da war ja gar keiner mehr. Schade. Aber sie hatte noch Honig. Oder was war das dort hinten? Sie räumte gerade ein paar Gläser ohne Beschriftung aus der hinteren Reihe nach vorn, da roch sie es. Angebrannt! Unverkennbar! Schon wieder! Auch der dritte Pfannkuchen gesellte sich zu den beiden anderen im Mülleimer.

Und noch einmal von vorn. Das war ihr letzter Rest Teig. Diesmal konnte sie sich keinen Fehler mehr leisten. Diesmal musste Gertrud unbedingt ihre ganze Aufmerksamkeit dem Gelingen des Pfannkuchens widmen. Sie stellte sich neben den Herd, als das Fett in der Pfanne genau die richtige Temperatur erreicht hatte, gab sie den letzten Pfannkuchenteig in die Pfanne. Sie dachte an Dosenobst und verbot es sich. Es klingelte an der Tür. Sie überhörte es. Eisern behielt sie den Pfannkuchen im Blick. Sie wendete ihn genau im richtigen Moment. Dann zog sie die Pfanne von der Platte, schaltete diese aus und stellte sich einen Teller auf den Tisch, Besteck daneben.

Dieser Pfannkuchen hatte einen gedeckten Tisch verdient. Sie gab den Pfannkuchen auf den Teller. Dann fiel ihr ein, dass der Ahornsirup im Kühlschrank stand, und holte ihn herbei. Dann gab sie genau die richtige Menge Ahornsirup über den Pfannkuchen, nahm die Gabel und teilte einen Bissen ab. Innen war der Pfannkuchen goldgelb und locker. Es dampfte leicht. Mit vollem Genuss steckte sie das erste Stück in den Mund, kaute, erstarrte und spuckte aus.

„Verdammt nochmal!“ Sie hatte Zucker mit Salz verwechselt und der Pfannkuchen war total versalzen. Voller Bedauern ließ Gertrud auch dieses Prachtstück in den Mülleimer wandern. Dann holte sie tief Luft. Was blieb ihr anderes übrig? Sie holte die Eier aus dem Kühlschrank, das Mehl aus dem Schrank. Dann eben wieder von vorn.

6. Juli – Häuptling Leuchtender Schuh

Eines Tages kam Leuchtender Schuh, der Häuptling der Mohawks, von einer anstrengenden Sitzung im Aufsichtsrat des Casinos nach Hause. Da stellte er fest, dass seine Frau Ausgemergelte Feder, ihre Koffer gepackt und ihn verlassen hatte.

„Na sowas!“, wunderte sich Leuchtender Schuh und checkte seinen Blackberry, der wegen der Konferenz noch auf stumm geschaltet war. Dort fand er eine Nachricht vor und die lautete folgendermaßen:

Lieber Leuchtender Schuh!

Es tut mir sehr leid, aber ich habe einen anderen kennengelernt und ziehe zu ihm. Ich hoffe, du findest bald eine neue Frau und wirst glücklich.

Bye-bye Deine Ausgemergelte Feder.

Aber Leuchtender Schuh hatte gar keine Lust eine neue Frau zu suchen. Das war ihm viel zu anstrengend. Erst das Kennenlernen. Da musste er wieder seine beste Seite hervorkehren und die Dame tat das gleiche. Dann stellten beide fest, dass seine beste Seite und die beste Seite der Frau prima zusammenpassten.

Als Nächstes kam der Liebestaumel, keiner konnte mehr ohne den anderen leben, große Sehnsucht bei nur fünfminütiger Trennung. Anschließend zusammenziehen, womöglich heiraten – nach der Scheidung versteht sich – und schon kam der Alltag und die schlechten Seiten von beiden kehrten sich hervor.

Und dann war es doch ohnehin vorbei mit dem Glück. Warum also sich immer wieder aufs Neue anstrengen, nur um die schlechten Seiten einer Frau kennenzulernen? Und noch schlimmer die eigenen schlechten Seiten vorgehalten zu bekommen?

Nein, nein. Da ging Leuchtender Schuh lieber ein paar Mal öfter die Woche mit seinen Freunden Golf spielen.

5. Juli – Ein kleiner Tierfreund

Es war einmal ein kleiner Tierfreund, der brachte jeden Tag irgendein verirrtes oder verletztes Tier mit nach Hause. Einmal war es ein Hund, dann ein Kaninchen, dann eine Brieftaube, manchmal auch nur eine arme Spinne, der ihr Netz zerrissen war oder ein Eichhörnchen, das sich den Knöchel verstaucht hatte.

Die Eltern des Jungen waren verzweifelt. Sie konnten ihm das einfach nicht austreiben. Sie hatten alles versucht. Sie hatten ihm verboten Tiere mitzubringen. Der Junge hatte es ignoriert. Sie hatte ihn angefleht. Aber der Junge hatte auf das Leid der Tiere hingewiesen. Das sei doch weitaus größer als das ihre.

Schließlich versuchten die Eltern, die Tiere heimlich fortzuschaffen, aber es nützte nichts, der Junge brachte sie am nächsten Tag einfach wieder mit oder sie kamen von selbst wieder. Es wäre ja vielleicht noch gegangen, wenn der Junge die Tiere nur in seinem Zimmer gehalten hätte.

Aber sie sprangen in der ganzen Wohnung herum. Die mitgebrachten Spinnen webten riesige Spinnennetze, erst in den Zimmerecken, dann aber auch über den Tür- und Fensteröffnungen. Und natürlich durfte niemand die Netze zerstören. Das hätte ja die Spinnen traurig gemacht. Die Hunde wohnten im Parterre, die Katzen unter dem Dach dort konnten sie über einen Ast, der fast bis zum Dachfenster reichte, ein und aus gehen wie sie wollten.

Die Eichhörnchen, Mäuse und sonstigen Kleintiere wohnten im ersten Stock. Im Keller tummelten sich noch zahlreiche andere Tiere. Für die Vögel hatte der Junge im Garten Volieren gebaut. Natürlich konnten sie von dort ausfliegen, wie sie lustig waren. Denn er zwang kein einziges Tier bei ihm zu bleiben, sie blieben alle freiwillig und lebten sogar einigermaßen einträchtig untereinander, nur um dem Jungen einen Gefallen zu tun.

Nur die Eltern, die hielten es irgendwann nicht mehr aus und suchten sich eine Wohnung weit, weit fort von dieser Menagerie. Und wenn sie nicht gestorben sind, ärgern sie sich heute noch.