16. Juni – Begegnung

Rita schlenderte die Goethestraße entlang. Endlich frei! Was sollte sie mit diesem wunderschönen Sommertag anfangen? Vielleicht im Park einen ausgedehnten Spaziergang und danach ein Eis bei „da Carlo“, den gehetzten Menschen zuschauen, den quengeligen Kindern, den gestressten Müttern. Und sie hatte heute alle Zeit der Welt.
„Hey, Rita, wie geht’s denn so? Lange nicht gesehen!“

Rita drehte sich um. Die Stimme kam ihr doch bekannt vor. Schon sah sie Georg über die Straße zwischen zwei Autos hindurch auf sie zulaufen. Oh, nein ausgerechnet Georg. Rita zwang sich zu einem Lächeln.

„Hi!“

„Gut siehst du aus!“ Georg grinste sie breit an.

Rita konnte dieses Kompliment nun wirklich nicht erwidern. Georg hatte sich völlig verändert. Sein Gesicht aufgedunsen und auch sonst wirkte er moppeliger als früher. Dabei war er auch in der Oberstufe schon keine Schönheit gewesen. Sie erinnerte sich noch gut an seine stillen aber ausdauernden Annäherungsversuche.

Er kapierte einfach nicht, dass sie ihn zum Kotzen fand. Einfach unausstehlich. Widerlich. Und jetzt schaute er schon wieder so.

„Mensch, dass wir uns mal wiedersehen! Bist du immer noch mit diesem Dings, dem Anwalt zusammen?“

Rita runzelte die Stirn.

„Bastian meinst du? Nein, nein.“

Um Gottes willen! Georg erinnerte sich noch an den! Das war doch mindestens 15 Jahre her. Wie kam er darauf, dass sie immer noch mit diesem Totalversager zusammen war?

„Und, was treibst du so?“

„Och“, sagte sie.

Was konnte sie erzählen? Bloß nichts sagen, aus dem Georg Rückschlüsse auf ihren Arbeitsplatz oder Wohnort ziehen konnte. Der fing wieder an mit albernen Geschenken und schmalzigen Briefen!

„Ich bin jetzt beim Fernsehen“, platzte Georg heraus, „kleiner Privatsender, aber voll seriös. Nicht so Spiele, richtig Moderation!“

„Schön, gratuliere.“

Rita rang sich ein Lächeln ab. Das passte zu Georg, vor 15 Jahren hatte er rumgesponnen mal den Gottschalk abzulösen. Große Samstagabendshow. Klar! Was war falsch mit ihr, dass solche Totalversager auf sie abfuhren? Sie schaute auf ihre Armbanduhr.

„Du, war nett. Hab’s leider eilig!“ Seitdem ich dich Hirni getroffen habe, ergänzte sie bei sich und lächelte wieder gequält.

„Oh, ja klar“, sagte Georg, „toll, dass wir uns mal getroffen haben!“

„Ja, wirklich toll.“ Warum merkte er nicht, dass sie diese Begegnung alles andere als toll fand? Sie wandte sich halb zum Gehen.

„Will dich nicht aufhalten.“ Und warum laberte er dann weiter?

„Mach’s gut. Viel Erfolg noch mit deiner Sendung“. Mühsam hielt sie die Maske der Höflichkeit aufrecht. Drei Meter hatte sie schon zwischen sich und ihn gebracht.

„Ja, Tschüß dann, hab’ auch noch n Termin!“, rief er.

Wer’s glaubt, wird selig!

Rita schlenkerte unbestimmt mit der rechten Hand in der Luft, lächelte ein letztes Mal wie aufgezogen und ging mit eiligen Schritten davon.

Als sie sich noch einmal umdrehte, sah sie, wie Georg ihr nachblickte, die Hand immer noch zum Abschiedsgruß erhoben.

15. Juni – Zeus‘ Verhandlung

Zeus saß auf der Anklagebank. Er schmollte. Mit fest vor der Brust verschränkten Armen beobachtete er den Richter, der gerade den Saal betrat. GOTT nannte sich der Typ oder auch Jehova. Behauptete neuerdings, der einzige wahre Gott zu sein. Ganz schön unverschämt. Zeus weigerte sich, aufzustehen und schob demonstrativ die Unterlippe vor, während Stühle schurrten, Füße scharrten und Kleider raschelten. GOTT setzte sich und die Menge tat es ihm nach.

„Angeklagter“, wandte sich GOTT an Zeus, „Ihnen wird zur Last gelegt, sich der sexuellen Nötigung und Vergewaltigung in 48 schweren Fällen schuldig gemacht zu haben. Dabei – so legen es die Aussagen der Geschädigten nahe – haben sie sich meist als Tier verkleidet, um sich Ihren Opfern unerkannt nähern zu können und ihr Vertrauen zu gewinnen.“ Zeus rutschte ein wenig auf seinem Stuhl herum und warf einen Seitenblick zu Hera, die auch anwesend war. Ihr Blick war eisig. Trotzdem stand sie zu ihrem Gatten – glaubte Zeus jedenfalls.

Dann erteilte GOTT Gabriel das Wort, der die Interessen der Gottesmacht vertrat. Der verlas die Anklageschrift im Detail und zählte auf, an welchen Frauen sich Zeus in welcher Form vergangen habe. Die Liste war lang. Zeus bemühte sich um einen unbeteiligten Gesichtsausdruck. Aber manchmal zuckte doch seine Augenbraue, besonders als die Namen Leda, Europa und Io fielen. Dann führte Gabriel sogar noch Alkmene an, der er sich in der Gestalt ihres Ehemannes Amphitryon genähert haben sollte.

Wieder warf Zeus einen verstohlenen Blick zu Hera. Hoffentlich glaubte sie den ganzen Quatsch nicht. Es war doch klar, dass ihm der ganze Kram nur angedichtet wurde. Das musste sie doch auch wissen. Ihr Blick war immer noch eisig. Eine halbe Stunde später war Gabriel endlich fertig mit der Liste seiner Anschuldigungen. Und Satan erhob sich, um Zeus zu verteidigen.

Natürlich war Satan ein dämlicher Lackaffe und gehörte überdies zu GOTTES Personal. Zeus versprach sich also nicht besonders viel von seiner Verteidigung. Obwohl Satan ihm versichert hatte, er wäre ganz scharf darauf, GOTT fertig zu machen.

Trotzdem hätte Zeus lieber Hades als seinen Verteidiger berufen. Aber der saß selbst gerade in Untersuchungshaft. Er soll angeblich seine Frau als junges Mädchen entführt und dann in seinem unterirdischen Bunker gefangen gehalten haben. Das war natürlich Unsinn. Völlig lachhaft. Schließlich war Persephone Zeus’ Tochter und er würde doch niemals eine solche Behandlung seines Kindes zulassen. Andererseits Demeter war Zeus’ Schwester, vielleicht sollte er das lieber nicht an die große Glocke hängen, dass sie eine gemeinsame Tochter hatten. Das war ja heutzutage nicht so gern gesehen. Hatte er gehört.

In Wirklichkeit war Demeter doch nur stinkig, dass Persephone sich an so einen Unterweltrocker weggeworfen hatte, anstatt sich einen anständigen Gott als Lebenspartner zu wählen. Deswegen hatte sie diese dumme Geschichte in die Welt gesetzt. Persephone hatte zwar für Hades ausgesagt, aber ein Gutachter hatte behauptet, sie litte an so einem albernen Syndrom. Zeus erinnerte sich nicht mehr genau. Das hieß nach irgendeiner nordischen Stadt. Helsinki oder so.

Die Schergen GOTTES jedenfalls, diese Engel, waren natürlich voll auf diese ganzen Märchen und Mythen abgefahren. Dabei wusste Zeus gar nicht, warum GOTT sich überhaupt solch eine Mühe machte. Schließlich war der Olymp inzwischen nur noch ein Gebirge in Griechenland und Zeus und seine Götterfamilie zählten eher zur Folklore, als das jemand sie noch ernsthaft verehrte. Warum also jetzt diese Prozesslawine? Zeus hatte ehrlich gesagt keine Idee. Aber er behauptete ja auch nicht von sich, allmächtig zu sein. Vielleicht würde er im Laufe des Prozesses noch dahinter kommen, was GOTT wirklich beabsichtigte.

Zunächst vertagte GOTT aber erst einmal. Zeus wandte sich flüsternd an Satan, ob er nicht wenigstens seine Freilassung auf Kaution beantragen könne, aber der schüttelte den Kopf. „Nein, nein, das passt nicht zu meiner Strategie!“ Tja, toll, Strategie, dachte Zeus, bevor er wieder in seine langweilige Zelle geführt wurde. Mit einem Besuch von Hera rechnete er jedenfalls nicht.

Am nächsten Verhandlungstag rief Gabriel alle 48 geschädigten Frauen in den Zeugenstand. Dies dauerte den ganzen Vormittag. Aber Zeus hatte den Verdacht, dass GOTT die Zeit manipulierte. Für Zeus verging der Vormittag jedenfalls in rasender Schnelle und gerann zu einer einzigen charakteristischen Handbewegung: dem ausgestreckten auf ihn gerichteten Zeigefinger.

Satan schien seinen Job schlecht zu machen. Er fragte wenig, versuchte gar nicht, die Unglaubwürdigkeit der Zeuginnen zu beweisen. Aber immer wenn Zeus sich zu ihm umwandte, gluckste Satan nur zufrieden und glücklich in sich hinein, als hätte er noch einen Trumpf im Ärmel. Zeus hoffte jedenfalls, dass der Ausdruck in Satans Gesicht diese Bedeutung hatte. Vielleicht freute er sich auch nur darüber, dass Zeus bald für immer und ewig im Knast landete. Die Demütigung nur noch ein Folklore- und Operettengott zu sein, hatte ihn schon hart genug getroffen. Mehr – das wurde ihm immer bewusster – würde er nicht ertragen.

Dann rief Gabriel Hera auf – als Zeugin der Anklage. Am liebsten hätte Zeus sich unter dem Tisch versteckt. Ihr Blick! Ihr Blick war für ihn einfach unerträglich. Er hörte nicht wirklich, was sie sagte. Erst später sollte er sich bruchstückhaft erinnern. Aber dieser Blick, der sagte ihm alles. Zeus war inzwischen überzeugt, dass seine Chancen als freier Gott diesen Gerichtssaal zu verlassen gegen Null tendierten. Trotzdem – Satan gluckste immer noch.

Nach der Mittagspause geschah dann das Unfassbare. Satan rief GOTT in den Zeugenstand. Der versuchte sich erst herauszuwinden. Ein Richter könne nicht in den Zeugenstand gerufen werden. Aber Satan überzeugte ihn davon, dass er als allmächtiger Gott alles könne. Das nannte Zeus, GOTT mit seiner Eitelkeit austricksen, und schöpfte das erste Mal wieder Hoffnung.

Satan freute sich augenscheinlich teuflisch, GOTT in die Zange zu nehmen. Als erstes verlangte er, dass GOTT auf die Bibel schwor, die Wahrheit zu sagen. „GOTT“, fuhr Satan danach fort, „ich weiß aus sicherer Quelle, dass Deine Marketingabteilung Dich dazu gedrängt hat, diesen Prozess anzustrengen, um Dein Image aufzupolieren!“ Zeus setzte sich auf und sah GOTT gespannt an. Der räusperte sich und rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum.

„Schließlich macht dein Bodenpersonal immer mehr Mist, kaum einer hält sich noch ans Zölibat und Verbot der Empfängnisverhütung. Frauen verlangen immer mehr Gleichberechtigung – auch in deiner Kirche. Und um glaubwürdig vorzutäuschen, wie sehr du die Belange der Frauen unterstützt – ohne dass dein katholisches Bodenpersonal sich auch nur einen Zentimeter ändern muss – hast du die alten griechischen Götter und deren Missetaten aus dem Hut gezogen. Stimmt das?“

Zeus lehnte sich weiter vor. GOTT räusperte sich noch einmal. „Mmh! JA!“, sagte er. Das war’s dann wohl. Gabriel schlug die Hände vors Gesicht. Die Zuschauer pfiffen und buhten. Satan drehte sich theatralisch zu Zeus um und ließ sich die Hand schütteln. Die Gerichtsdiener öffneten die Türen. GOTT war auf seinen Platz als Richter zurückgekehrt und brüllte: „DIE ANKLAGE WIRD FALLENGELASSEN!“

Als Zeus den Saal verließ, zwinkerte er Maria zu. Es stimmte schon, GOTT hatte sich einfach geschickter angestellt. Diesen Trick mit der jungfräulichen Empfängnis musste er sich merken. Da war sein oller Goldregen natürlich nichts gegen.

14. Juni – Durchgeknallt

Einfach durchgeknallt, die Glassplitter flogen Karin nur so um die Ohren. Verdammt nochmal, das ging doch nicht mit rechten Dingen zu. Schon die zweite Glühbirne, die explodierte, sobald Karin den Schalter umlegte.

Vielleicht war das jetzt die Rache, weil sie keine Energiesparbirnen eingeschraubt hatte. Zum Glück dämmerte es draußen erst, so konnte Karin wenigstens etwas sehen. Trotzdem stieß sie sich das Knie an der Ecke der großen Eichentruhe. Mist!

Dieses blöde Haus war viel zu groß. Das hatte sie Herbert gleich gesagt. Und alt. Und renovierungsbedürftig. Aber er konnte nicht anders als zuschlagen.

„Für den Spottpreis bekommst du nie wieder so eine Villa mit einem Riesengrundstück“, hatte er gesagt.

Aber Herbert gehörte auch zu den Leuten, die fünfzehn Topfuntersetzer kauften, weil sie im Preis reduziert waren. Ob er den Mist wirklich brauchte, hatte ihn noch nie interessiert.

Und nun war Karin hier allein, eine Glühbirne nach der anderen knallte durch. Bald würde es stockduster sein. Kerzen waren keine im Haus. Die hatte es wohl nicht irgendwo im Angebot gegeben, dachte Karin missgelaunt. So ein Blödsinn. Und der Mobilempfang war hier auch äußerst lausig.

Im nächsten Raum tat sich einfach gar nichts, als sie den Lichtschalter betätigte, war auch kein Wunder, es hing gar keine Lampe an der Decke. Wenigstens war der Raum völlig leer bis auf den zerrissenen und aufgerollten Teppich in einer Zimmerecke. Was suchte sie nochmal hier? Jetzt hatte Karin es vergessen.

Im nächsten Zimmer gab es einen Kamin und eine atemberaubende Aussicht durch ein großes Panoramafenster. Der Himmel schien rosa auf im letzten zarten Blau. Die Schwärze der Nacht kroch ganz langsam näher, aber noch konnte Karin den Park und die Berge in absoluter Klarheit erkennen. Sie trat ans Fenster.

Ohne es zu bemerken, streichelte sie mit ihrer Hand leicht über die Fensterbank aus Marmor. Eine Ricke lief über den Rasen, gefolgt von zwei Kitzen. Einen Augenblick drehten sie die Köpfe in Karins Richtung und schauten sie aufmerksam aus schwarzen Augen an, ihre Ohren leuchteten im letzten Abendrot.

Dann drehte sich die Ricke um und trottete davon, die beiden Kleinen sprangen hinterher.

Karin wandte sich ins Zimmer zurück. Ein schönes Feuer im Kamin wäre sicher nicht schlecht. Mit ein bisschen Farbe hier und da, ein paar neuen elektrischen Leitungen und neuen Teppichen könnte man aus dem Haus vielleicht doch etwas machen.

13. Juni – Der Geborenentest

Wenn du ganz scharf nachdenkst, dann erinnerst du dich bestimmt noch an den Geborenentest, den du vor deiner Zeugung und Geburt absolvieren musstest.

Denn es darf nicht einfach so jede oder jeder im Bauch einer Frau heranwachsen und geboren werden. Eine gewisse Grundeignung wird inzwischen verlangt.

Vor allem in Anbetracht des großen Ansturms von Seelen, die in einen Leib geboren werden wollen. Und für alle Nichtgeborenen hier eine kleine Auswahl aus dem Fragenkatalog, dann könnt ihr schon einmal darüber nachdenken, was Ihr antwortet und ob Ihr nicht doch lieber auf Wolke Sieben bleibt:

„Wie lautet der Name des Planeten für den du dich beworben hast?“

„Wie heißt die Lebensform, für die du dich qualifizieren möchtest?“

„Warum bist du dafür besonders gut geeignet?“

„Was möchtest du lernen?“

„Was möchtest du zum Wohl aller geborenen und ungeborenen Seelen beitragen?“

Und zum Schluß der Warnhinweis:
„Du wirst als Geborener großes Glück erleben. Du wirst alles erreichen und lernen, was du dir hier und jetzt gewünscht hast, aber dies wird auch mit unangenehmen Erfahrungen, Schmerzen und Leid verbunden sein. Bist du dazu bereit diese Eigenschaften des Geborenseins in Kauf zu nehmen? Bist du bereit die große Einsamkeit des Geborenseins kennenzulernen? Wenn ja, unterschreibe unten links.“

Tja, liebe geborene Leserin, lieber geborener Leser, du hast ja schon vor langer Zeit Ja gesagt zum Leben.

Wenn du ganz ehrlich bist, war das doch alles in allem eine richtig gute Entscheidung, nicht wahr?

12. Juni – Der Zwerg

Es war einmal ein Zwerg, der wohnte im Land der Riesen. Dort fühlte er sich immer klein, unnütz und hässlich. Die Riesen verspotteten ihn und machten Weitwurf mit ihm oder steckten ihn in eine Showkanone und schossen ihn damit in einen Riesendunghaufen. Es war ein elendes Leben.

Und der Zwerg jammerte und haderte: „Es ist ja so gemein, was diese Riesen mir antun“. Jeden Tag betete er: „Lieber Gott, rette mich aus dieser gräßlichen Lage!“

Eines Tages hatte Gott ein einsehen. Er nahm den Zwerg und setzte ihn in die Welt der Zwerge. Plötzlich war der Zwerg nichts Besonderes mehr, er war nicht größer, nicht kleiner, nicht schöner, nicht hässlicher als all die anderen Zwerge um ihn herum.

Da begann er sich zu fürchten. Wo waren die Beschimpfungen und Demütigungen, wo die Kanonenschüsse und Weitwürfe geblieben? Welchen Sinn hatte sein Leben jetzt noch?

Also heuerte der Zwerg bei einem Zirkus an, der Zwergenweitwurf zeigte, Zwerge mit Kanonen in Dunghaufen schoss und alberne Zwergenclowns über sich selbst lustig machen ließ. Aber im Zwergenland wollte keiner diesen merkwürdigen Zirkus sehen.

So kehrte der Zwerg in dem Zirkus zu den Riesen zurück und führte nun freiwillig die Nummern auf, mit denen er damals gedemütigt wurde. Aber eines Abends trat er vor seinen Wohnwagen und schaute hinauf zu den Sternen.

Da wurde ihm klar, dass er endlich wachsen musste. So ließ er den Zirkus hinter sich und kehrte nie wieder ins Land der Riesen und Zwerge zurück.

11. Juni – Tierische Gartenparty

Du denkst vielleicht, dass es nachts in Deinem Garten völlig ruhig und gesittet zugeht. Die Vöglein haben sich alle schlafen gelegt, die Würmer räkeln sich endlich unbekümmert in der Erde und sogar die Bienen, Hummeln und sonstigen Flieg- und Krabbeltiere haben sich zur Nachtruhe begeben. Aber in Wahrheit ist es aus einem ganz anderen Grunde so ruhig.

Der kleine Maulwurf hat wie jede Nacht außer montags in seinen Nightclub geladen. Die Grillen spielen auf zum Tanz, die Glühwürmchen leuchten, was die Hinterleiber hergeben und alle Tiere, die tagsüber brav ihren Aufgaben nachgehen, scheren sich einen Dreck um all das, was gemeinhin von ihnen erwartet wird. Die Vögel und die Würmer stehen einträchtig an der Bar und schlürfen einen leicht vergorenen Nektar, die Motten summen zur Musik und die Igel legen mit den Mardern eine kesse Sohle aufs Parkett.

Nur die Schnecken treffen meist zu spät ein, weil sie solange überlegen, ob sie heute als Männchen oder Weibchen kommen. Manchmal dürfen sogar ein paar Hauskatzen mitfeiern. Die sind ja bekannt für ihre Diskretion und Verschwiegenheit. Und wenn er besonders gut gelaunt ist, dann spielt der Maulwurf ein Lied auf seiner Stehgeige und singt dazu.

Meistens ist die Party dann so gegen Mitternacht schon vorbei, manchmal auch erst um drei Uhr morgens. Dann schlafen die Tiere wirklich. Der nächste Tag verlangt ja wieder allerhand tierisches Gehabe von ihnen. In Brehms Tierleben steht darüber natürlich nichts. Für uns Menschen muss schließlich alles seine Ordnung haben. Und daran wird auch nicht gerüttelt.

10. Juni – Lottogewinn

Sergej ist völlig aus dem Häuschen! Seit fast zwanzig Jahren spielt er regelmäßig Lotto und wenn er ehrlich ist, so richtig hat er nie daran geglaubt, dass überhaupt jemals irgendjemand richtiges Geld gewinnt. Aber jetzt, er kann es kaum fassen.

Ludmilla tanzt schon auf dem Tisch. Das große Los, ein Sechser mit Zusatzzahl und Superzahl. Ein paar Millionen werden das bestimmt. Wie gut, dass die Kinder nicht zu Hause sind. Besser wenn die nichts erfahren. Sonst weiß es am Ende jeder und Sergej muss aller Welt Geld schenken oder Geld leihen.

Er möchte diese peinlichen Situationen nun wirklich vermeiden. Aber das Haus können sie abbezahlen, auf einen Schlag. Und es ist genug für das Studium der Mädchen da. Und Ludmillas Mutter kann endlich in eine anständige Wohnung ziehen.

Aber natürlich, alles muss in Ruhe bedacht werden. Ein neues Auto wäre auch schön. Nur die Fragen, die bohrenden Fragen von den Verwandten und Arbeitskollegen.
„Nein, nein. Sei nur vorsichtig, Sergej“, tadelt er sich selbst.

Dann springt Ludmilla vom Tisch auf und holt den Krimskoye aus dem Kühlschrank. Immer noch vor Freude trällernd stellt sie die Sektflöten auf den Couchtisch.

„Los mach auf!“, fordert sie Sergej auf.

„Warum haben wir so teuren Sekt im Haus?“, braust Sergej auf.

„Ach Lieber“, Ludmilla sinkt ihm auf den Schoß, „ich habe doch geträumt, dass es so kommt. Was denkst du? Mach’ dir nicht soviel Gedanken. Es wird alles gut!“

8. Juni – Loslassen

Weißt du noch, wie du als Kind Fahrradfahren gelernt hast? Erinnerst du dich noch daran, wie du auf dem Rad saßest, das erste Mal ohne Stützräder. Deine Mutter oder dein Vater lief neben dir her, hielt das Rad durch einen sicheren Griff unter den Sattel stabil, rief dir zu: „Treten, treten, nicht aufhören!“

Und immer, wenn deine Mutter oder dein Vater losgelassen hat, hast du aufgehört zu treten, das Gleichgewicht verloren und bist beinahe umgefallen.

Falls es dein Vater war, der dir Fahrradfahren beigebracht hat, dann war er vielleicht ein bisschen so wie meiner, nämlich ungeduldig.

Warum lernt das Kind so etwas Einfaches wie Fahrradfahren nicht. Dauernd fällt es wieder um, und ich sag doch noch: „Nicht umfallen, nicht aufhören zu treten!“

Aber obwohl er irgendwann wütend wurde und obwohl ich es wirklich schwierig fand dieses Radfahren, nahezu unmöglich, so wollte ich es doch unbedingt lernen.

Also sah ich über meine Angst, die Wut und Ungeduld meines Vaters hinweg und versuchte es weiter – und dann, plötzlich konnte ich es.

Tat es in Wahrheit schon eine ganze Weile, weil mein Vater einfach so außer Puste war, dass er nicht mehr nebenherlaufen und dabei noch unnütze Anweisungen rufen konnte.
Er hat also einfach losgelassen, ohne dass ich es mitbekommen habe. Und als ich es dann merkte, fuhr ich zwar einen kleinen Schlenker vor Schreck, aber ich konnte doch mein Gleichgewicht halten und trat einfach weiter in die Pedale. Ich fuhr ganz allein Fahrrad!

War das großartig!

7. Juni – Urlaubsgeld

Bettina sitzt am Küchentisch und zählt das Kleingeld aus der Mariacron 3 Liter Magnumflasche. Dort wirft sie seit ein paar Jahren alle kleinen Münzen hinein, die sie übrig hat. Manchmal verirrt sich sogar ein Euro dazu. Und wenn die Flasche voll ist, hat sie sich vorgenommen, wird sie von dem Geld in Urlaub fahren.

Heute ist es soweit, die Münzen drohten schon oben heraus zu purzeln, sie hat die Flasche umgekippt und macht jetzt lauter Häufchen mit Eincentstücken, Zweicentstücken, Fünf-, Zehn- , Zwanzig-, Fünfzigcentmünzen, ein bescheidener Stapel Eineuromünzen prangt in der Mitte.

Es dauert elend lange, bis sie alle Münzen fein säuberlich sortiert hat, ein paar alte Centimes und Pfennige wirft sie wieder zurück in die Flasche. Die Zungenspitze zwischen den Zähnen stapelt sie jeweils 10 gleiche Münzen aufeinander. Sobald sie damit fertig ist, steht der Tisch voller Geldstapel. Sie zählt das Geld.

Es sind 9, 86 Euro in Eincentmünzen, 17,02 Euro in Zweicentstücken, 10,55 Euro in Füncentmünzen, die Zehn-, Zwanzig- und Fünfzigcent ergeben zusammen 23,70 Euro und dann hat sie 19 Eineuromünzen.

Na, das wird aber ein kurzer Urlaub!

6. Juni – Sängerwettstreit

Sabine schnürt die festen Schuhe und schleicht sich am frühen Morgen aus dem Haus. Mann und Kinder schlafen. Endlich aufatmen, ein bisschen gestohlene Zeit nur für sie allein.

Hinter dem Haus überquert sie eine frisch gemähte Wiese und läuft über die Feldwege Richtung Wald. Obwohl es so früh ist, wärmt die Sonne sie. Und Sabine ist froh, dass sie Sonnencreme auf Gesicht und Arme aufgetragen hat. Im Schatten des Waldes ist es noch kühl. Und die Vögel singen lauthals um die Wette.

In weiter Entfernung hört Sabine ein „Schuhuhuuuhuuu“, zwei Mal. Aber dann wird es vom Pfeifen und Tirilieren und Jubeln aus allen Richtungen übertönt. Was gäbe Sabine darum, wenn sie die Vögel verstünde.

Vielleicht rufen sie sich zu: „Schaut mal eine Menschenfrau! Was will die so früh hier? Warum stört sie uns? Wer traut sich, ihr auf den Kopf zu scheißen?“

Aber vermutlich, überlegt Sabine, kümmern die Vögel sich kein bisschen um mich.
Sie pfeifen und singen, weil das Leben in ihnen einen Druckausgleich sucht wie bei einem Dampfdrucktopf, weil das Leben immer einen Ausdruck sucht.

Und voller Inbrunst stimmt Sabine ein.

2. Juni – Gesines Leben

Gestern besuchte mich eine Freundin und sagte: „Du, borg mir doch mal eben dein Leben aus.“

Ich musterte sie von oben bis unten. Sie sah aus wie immer, hennagefärbtes Haar, wilde Locken, Ringelpulli, Cordhose, zwei nicht zusammenpassende Socken in offenen Sandalen, Gesine eben. Nur ihre Augen hatten heute so einen merkwürdigen Glanz.

„Was willste denn damit?“, fragte ich.

„Jetzt sei doch nicht so. Als wollte ich jetzt irgendwas Besonderes oder so. Nur heute, ehrlich.“

Sie schaute mich ungeduldig an. Ich zuckte mit den Schultern, schüttelte leicht den Kopf.

„Hm, nö!“, sagte ich. „Mein Leben geb’ ich dir nicht.“

Gesine kullerte mit den Augen.

„Das hab ich mir doch gleich gedacht, dass du wieder soo bist. Da brauche ich einmal deine Hilfe. Echt jetzt.“

„Wie, wieder soo? Außerdem ist mein Leben schon was Besonderes. Kannste Dir nicht einfach ausleihen. Und was mach ich solange? Dein Leben hüten, oder was?“

„Ist doch für’n guten Zweck. Brauch das doch nur heute mal.“

„Aber warum?“

„Na, naja“, Gesine druckste herum, „ist nicht so einfach zu erklären.“

„Dann geb’ ich dir mein Leben erst Recht nicht. Wer weiß, was du damit anstellst. Ne, das geht nicht.“

„Ach menno, ich brauch’ das wirklich nur ganz kurz, heute Abend bring ich’s zurück. Lass dir auch meins als Pfand da.“

Sie ließ nicht locker und ich mich breitschlagen. Wir haben also getauscht.

Natürlich kam Gesine gestern Abend nicht wieder.

Sie ist mit meinem erstklassigen Leben durchgebrannt.

Es wundert mich nicht mehr, wenn ich mir den Saustall so angucke, den sie dagelassen hat.
Bei meinem Glück kommt die wieder, sobald ich alles aufgeräumt und in Ordnung gebracht habe.

Aber bis dahin wundert Euch nicht, wenn ich ab und zu mal verschiedene Socken anhabe. Das passiert einem schnell bei so einem chaotischen Gesine-Leben.

1. Juni – Maries Liste

Marie setzte sich eines Abends an ihren Küchentisch, klappte die leicht abwaschbare Tischdecke um und öffnete die Schublade. Ja, da zwischen alten Einmachgummis und dem Sammelwerk „Fixe Rezepte für die berufstätige Hausfrau“, lag es, das abgegriffene Schulheft von Uwe. Marie kramte es hervor, wühlte weiter nach einem Kugelschreiber.
Keiner da. Sie stemmte sich hoch und schlurfte in den Flur, auf der Telefonbank am Zettelkasten klemmte einer. Zurückgekehrt an den Küchentisch nahm Marie umständlich Platz und schlug das Heft auf.

Auf den ersten paar Seiten standen alte Diktate von Uwe aus der vierten Klasse. Was der immer gekleckst hatte! Sie schüttelte den Kopf. Zu ihrer Zeit hatte es für Kleckse in den Schulaufgaben auf die Pfoten gegeben. Sie blätterte weiter, es folgten einige Aufstellungen von Haushaltsausgaben, die sie eine Weile lang geführt hatte. Endlich eine leere Seite.

Marie strich sie mit der Hand glatt und schrieb in ihrer schönsten Schreibschrift in die Mitte der ersten Zeile „Maries Liste“, darunter teilte sie das Blatt durch eine vertikale Linie in zwei Spalten mit links „Pro Heinz“ und rechts „Contra Heinz“.

Sie starrte eine Weile auf die Blümchentapete vor sich. Und notierte unter „Pro“ „handwerklich begabt“, ihr Stift schwebte über dem Papier, sie stierte an die Wand, nein, es kam nichts mehr, so wandte sie sich der anderen Spalte zu und füllte sie mit „zuviel in Kneipe“, „Weibergeschichten“, „verschwenderisch“, „interessiert sich nicht für meine Bedürfnisse“, „interessiert sich nicht für unsere Kinder“, „hilft nie im Haushalt“, „lässt sich bedienen“, „ist launisch“.

Sie schlug um und teilte das Blatt erneut. „Contra“, sie drückte fest mit dem Stift auf, ohne lange nachzudenken, füllte sie die Rückseite und setzte ihre Liste auf der gegenüberliegenden Seite fort. Sie blätterte zurück „Pro“. Sie nagte an ihrer Unterlippe, sie kaute am Kugelschreiber, dass ihr aber so gar nichts einfiel. Es war doch unmöglich, dass ihr nur ein positiver Wesenszug in den Sinn kam. Endlich schrieb sie „sieht gut aus für sein Alter“ und darunter „Sex meistens ok“.

Dann zuckte Marie mit den Schultern und zählte alle Notizen in der Spalte „Contra“.
Es waren dreiundzwanzig. Dreiundzwanzig Punkte, die gegen Heinz sprachen, nur drei für ihn. Die brauchte sie nicht zu zählen.

Das war katastrophal, ein tausend Mal schrecklicher, als sie erwartet hatte. Sie klappte das Heft zu, legte den Kugelschreiber in gerader Linie daneben.
Dann lief sie ins Schlafzimmer, um Heinz’ Koffer zu packen.