21. Januar – Der Drache

Der Drache war des Kampfes müde. Lange Zeit hatte er Feuer gespuckt und gewütet, Bäume ausgerissen, Felsen gebrochen und auf Häuser fallen lassen. Er hatte Menschen gejagt und Menschen genagt, aber die schmeckten nicht besonders.

Ab und zu war ein großer Held vorbeigekommen, der ihn töten wollte. Die Lanzen und Schilde dieser Männer hatte er vor dem Eingang seiner Höhle in den Boden gerammt. Zur Abschreckung.

Tatsächlich, es hatte sich seit mindestens 50 Jahren kein Mensch mehr zu seiner Höhle verirrt. Obwohl er noch regelmäßig alle Jahrzehnte ausflog und ab und zu um der alten Zeiten willen auch ein paar Steine auf die Häuser fallen ließ und ein bisschen zündelte, schienen sich die Menschen damit abgefunden zu haben.

Zwar reckten sie noch die Fäuste in seine Richtung. Aber dann kamen sie schon mit Löschwagen angerollt und beseitigten emsig die Schäden, die der Drache angerichtet hatte. Und es machte dem Drachen einfach keinen rechten Spaß mehr, das zu tun, was Drachen gewöhnlich tun. Also schlief er jetzt meistens unter dem Berg und träumte.

Eines Tages wurde er davon geweckt, dass ihn irgendetwas ständig in die Schulter pikste. Er öffnete ein Auge halb und sah ein Mädchen vor sich stehen. Er seufzte. Hatten sie ihm schon wieder so eine lästige Jungfrau geschickt? Er ließ das Lid wieder nach unten klappen. Aber nein, überlegte der Drache, die Jungfrauen hatten sie ihm früher, lange, lange ist es her, draußen an den Felsen gekettet. Und die hatten geschrien und geschluchzt, aber niemals gepikst. Es pikste wieder.

„Hey, Du, Schlafmütze, wach auf!“, hörte er nun eine helle Stimme rufen. Also klappte er das Augenlid wieder hoch.

„Was willst Du?“, grollte es aus seinem tiefsten Innern.

„Ich komme von der Vereinigung ‚Schutz mythologischer Wesen international‘. Unsere Aufgabe ist es die mythologischen Wesen zu retten, die Drachen, die Einhörner, die Elfen, die Zwerge, die Werwölfe, die Vampire, die Nymphen, die Hausgeister, die olympischen Götter und was es sonst noch so alles gibt.“

Der Drache rümpfte die Nase, ein paar Rauchwölkchen quollen hervor. Er wusste nicht genau, was das Gerede bedeuten sollte, aber aus irgendeinem Grunde vermutete er, dass diese Frau noch lästiger sein würde als die Jungfrauen und die Helden zusammen. Ach, sie sollte ihn einfach schlafen lassen, er hatte gerade so schön davon geträumt, dass er einen ganzen Wald in Brand… Es pikste wieder. Jetzt reichte es aber, einen Drachen beim Schlafen zu stören, was für eine Unverfrorenheit. Nun öffnete er beide Augen und fixierte das kleine Menschlein vor sich böse.

„Was?“, blaffte er. „Ich komme von…“ fing die junge Frau wieder an.

„Interessiert mich nicht“, raunzte der Drache.

„Aber Du bist der letzte Drache, und wenn wir nicht dafür sorgen, dass Du…“

„Interessiert mich nicht! Lass mich schlafen!“ Er schloss die Augen. Mit einer schnellen Bewegung schlug er der jungen Frau mit seiner Kralle den Regenschirm aus der Hand, bevor sie wieder piksen konnte. Er öffnete die Augen noch einmal halb, hielt der Frau seine Kralle vor die Nase und sagte.

„Wag es nicht noch einmal her zu kommen, wag es nicht mich noch einmal mit Deinem Dingsda zu pieksen, wag es nicht mir helfen zu wollen. Ich bin ein Drache. Ich brauche keine Hilfe.“

Er spuckte ein bisschen Feuer, um seine Rede zu unterstreichen. Aber er bekam schon gar nicht mehr mit, wie die Frau seine Höhle verließ. Er träumte schon wieder und stieß wohlig grunzend ein paar Rauchwolken aus. Und wenn er nicht gestorben ist, schläft der Drache heute noch irgendwo unter dem Berg.

20. Januar – Die Trauerweide

Im Sommer spielten die Kinder verstecken unter den lang herabhängenden Zweigen der Trauerweide. Manchmal am Abend fanden sich Liebespaare unter ihrer Krone ein, um ungestört zu sein. Aber jetzt im Winter stand sie nackt und ungeschützt im Sturm, im Regen und im Schnee. Nur selten verirrte sich ein Mensch in ihre Nähe. Nur die Hunde kamen nach wie vor jeden Tag und hoben ihr Bein an ihrem Stamm.

Nicht dass es der Weide etwas ausmachte, dass jetzt im Winter die Säfte ruhten und auch ihre Umgebung ruhiger wurde. Jetzt war die Zeit, Kraft zu sammeln, für das Frühjahr, wenn die Blätter wieder austrieben und sie allmählich und stetig weiter wachsen würde und ein bisschen älter werden würde, wie jedes Jahr seitdem sie ein Sprössling gewesen war.

Irgendwann, das wusste die Weide, da würde sie morsch werden oder eine Krankheit würde sie befallen oder sie würde im Weg stehen und dann weit vor ihrer Zeit abgeholzt werden. Sie würden kommen mit Motorsägen und Äxten, sie würden sie kurz und klein machen und ihre Wurzeln ausbaggern wie bei den Platanen, die vorne am Wegesrand gestanden hatten.

Dann würde ihr Holz verbrannt werden und der Rauch würde in den Himmel getragen und weit oben würden die Rauchpartikel Wasser einfangen und eine Wolke bilden und später würde die Trauerweide mit dem Regen aus dieser Wolke wieder zu Boden stürzen. Und dort würde sie für irgendeine andere Pflanze kostbare Nahrung sein und so für immer im Kreislauf des Lebens eingebunden sein.

Nichts und niemand geht jemals verloren.

19. Januar – Texas

Karl war noch nie in Texas. Dabei hatte er sich als kleiner Junge bereits vorgenommen, irgendwann in Texas Öl zu fördern oder wenigsten Rinder zu weiden. Nur hatte das bis heute nicht geklappt. Stattdessen arbeitete er in der Bank am Schalter. Dort konnte er nicht einmal seinen geliebten Stetson tragen und auch seine Cowboystiefel wurden schief angeguckt. Sah ja auch blöd aus zum Anzug. Das wusste er selbst.

Jeden Tag träumte er vom Auswandern, schmiedete Pläne. Aber seine Frau wollte unbedingt in Deutschland bleiben, bei ihrer Familie. Die Kinder hatten ihre Freunde, die Schule. Ausbildung war wichtig. Sie sollten es schließlich zu etwas bringen. Bankkaufmann vielleicht oder Verwaltungsfachangestellte. Das war doch was Ordentliches, was mit Zukunft. Leider nicht mehr so gut bezahlt wie früher und ganz so sicher waren die Jobs auch nicht mehr.

Karl selbst war nur dank des Sozialplans noch immer Angestellter bei der Bank. Als Vater von drei Kindern konnten sie ihn nicht so einfach rauswerfen. Andere hatte es härter getroffen. Frau Schmitz als Ledige ohne Kinder hatte gehen müssen, dabei war sie viel besser qualifiziert als er. Er wusste gar nicht, was die jetzt machte. Im Grunde hatte sie es doch gut. Keine Verpflichtungen. Die konnte jetzt ungehindert aufbrechen zu neuen Ufern. Und er träumte immer noch – von Texas.

18. Januar – Schnipsel – In die Freiheit

Schnipsel, der Zwerghase saß in seinem Hasenstall und mümmelte vor sich hin. Solange die Kinder in der Schule waren, ging es ihm gut. Keiner schleppte ihn ständig herum, keiner zog ihm Puppenkleider an oder zwang ihn sogar dazu mit einer albernen Spielzeugtasche um den Bauch herumzuhoppeln. Nein, nein, das Leben war entschieden angenehmer und friedlicher, wenn er keines dieser lästigen Kinder zu Gesicht bekam.

Und am liebsten, am allerliebsten wäre er gänzlich verschwunden, würde verduften, sich in Luft auflösen. Aber wie sollte Schnipsel das gelingen? Schon lange brütete er über einem Ausbruchsplan. Und jetzt mal ehrlich, so schwer konnte das doch nicht sein. Ein Hasenstall war schließlich nicht Stammheim.

Trotzdem bisher war keiner seiner Pläne aufgegangen. Durchbuddeln ging nicht, der Boden des Hasenstalles war massiv. Gitterstäbe durchnagen ging auch nicht, die waren zu fest. Und die Tür bekam er auch nicht auf, obwohl er doch so genau aufgepasst hatte, wie die Kinder die Tür auf und zu machten. Aber er konnte sie einfach nicht öffnen.

Schnipsel hörte die Türklingel. Einen Augenblick später trampelten die Kinder herein, warfen ihre Schultaschen in die Ecke und stürzten sich auf ihn. Ein Glück, dass der Vater zum Mittagessen rief. Galgenfrist.

Doch dann bemerkte Schnipsel, dass die Kinder vergessen hatten die Tür zu seinem Hasenstall richtig zu schließen. Er jubelte innerlich. Endlich die ersehnte Chance auf Freiheit. Schnipsel stieß die Tür auf und hüpfte aus dem Stall, drückte die angelehnte Zimmertüre mit seinem Kopf auf und hoppelte langsam Richtung Eingangstür. Die war natürlich verschlossen.

Also quetschte er sich in die Ecke neben den Schuhschrank, zog mit den Zähnen noch eine leichte Sommerjacke von der Garderobe auf sich. So würde ihn keiner entdecken. Jetzt hieß es warten. Normalerweise kam die Mutter mittags zum Essen nach Hause, wenn er vorsichtig war, konnte er schnell entwischen, wenn sie die Haustür öffnete. Und tatsächlich, nach kurzem Warten hörte er Schritte und einen Schlüssel im Schloss. Schnipsels Herz pochte wild, seine Nase zuckte aufgeregt.

Dann stieß die Mutter die Tür auf und rief: „Ich bin da!“. Sie warf ihren Schlüssel auf den Schuhschrank, ihre Aktenmappe stellte sie daneben. Den Augenblick nutzte Schnipsel zur Flucht.

Mit einem großen Satz hüpfte er durch die immer noch geöffnete Haustür, sauste die vier Stufen der Steintreppe hinab und warf sich seitlich ins Gebüsch. Schwer atmend kauerte er dort und wartete darauf, dass endlich die Haustür zuschlug. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis das ersehnte Klappen der Tür ertönte. Sie hatten also nichts bemerkt.

Schnipsel schaute sich um, in welche Richtung er weiterhoppeln wollte. Im Garten nebenan schraubte der Nachbarsjunge an einem alten Opel Manta. Dort sollte er sich lieber nicht hinwenden. Auf der anderen Seite grenzte das Grundstück an ein Weizenfeld. Schnipsel hoppelte schnell über den Rasen, tauchte unter dem Zaun durch, überquerte den Feldweg und verschwand zwischen den Halmen.

Nach dem Mittagessen liefen die Kinder ins Spielzimmer. Die Tür des Hasenstalls stand sperrangelweit offen. Schnipsel war nicht zu sehen.

„Welcher Blödmann hat den Hasenstall offen gelassen!“, brüllte der Vater, als er vom Geschrei der Kinder angelockt ins Zimmer kam.

Nun suchten sie überall, unter dem Bett, hinter dem Schrank, im Sofakasten, im Flur, im Wohnzimmer, in den Schlafzimmern, in der Küche. Aber Schnipsel blieb verschwunden.

17. Januar – Der vermaledeite Nebelscheinwerfer

Das war eine Suppe da draußen, solch einen elenden Nebel hatte Celine noch nie erlebt. Sie konnte kaum die nächste Laterne erkennen, geschweige denn sehen, wo diese blöde Straße weiterging. Nebelscheinwerfer und Nebelschlussleuchte hatte sie längst eingeschaltet. Aber Celine hatte den Eindruck, dadurch noch weniger zu sehen.

Jedenfalls nach vorn! Die Nebelschwaden rechts und links der Straße wurden von den Scheinwerfern ganz hervorragend ausgeleuchtet. Eine Wand aus Watte! Celine hörte als einziges Geräusch auf dieser Welt nur noch den Motor ihres Autos, aber ganz hohl und halb verschluckt. Sie kroch inzwischen dahin. Es schien ihr, dass die weiße Wand vor ihr nur widerwillig den dunkelgrauen Straßenbelag ausspuckte. Am liebsten wäre sie stehen geblieben, aber es gab keinen Seitenstreifen an dieser kleinen Kreisstraße und Celine hatte auch keine Lust im Graben zu landen.

Hätte sie nur auf ihren Vater gehört, dann würde sie jetzt mit einer dampfenden Tasse Tee in der Küche ihrer Eltern sitzen anstatt mit dem Nebel, um jeden Meter Straße zu ringen. Sie versuchte mit dem Fernlicht, die dicken Schwaden zu durchdringen. Aber der Nebel blieb genauso dicht, wurde nur strahlender angeleuchtet und blendete sie sogar. Also wirklich, irgendwo hinter diesem Nebel war Sonnenschein, grünes Gras, Luft, Weite, schlicht die Welt.

Dann fiel Celine ein, was ihr Vater heute noch gesagt hatte. Laut einer Statistik gab es in den Bundesstaaten der USA, die die Todesstrafe abgeschafft hatten, weniger Mordfälle als in denen die Todesstrafe noch durchgeführt wurde. Wenn es ohne Todesstrafe weniger Mörder gab, dann gab es ohne diesen vermaledeiten Nebelscheinwerfer vielleicht auch weniger Nebel.

Celine schaltete zuerst die Nebelschlussleuchte aus. Der Nebel lichtete sich. Dann drehte sie den Schalter für die Nebelscheinwerfer auf 0. Der Nebel riss auf und gab den Blick auf einen atemberaubend blauen Himmel frei.

16. Januar – Nach Hause

Eines Abends kam ich wie gewöhnlich von der Arbeit nach Hause, hängte meine Schildmütze an den Haken, zog die schweren Arbeitsstiefel aus und wunderte mich über den merkwürdigen, heulenden Lärm, der aus der Küche drang.

Also öffnete ich die Küchentür und schaute nach. Meine Frau hatte gerade die Teekanne in der Hand, um meinem Vater Tee einzugießen. Ihr Gesicht sah verweint aus, die Augen gerötet, die Wangen ganz verquollen.

Meine Kinder saßen um den Tisch, ließen die Köpfe hängen, die Kleinste schniefte leise. Sogar mein Ältester hatte ganz verweinte Augen. Mein alter Vater saß mit dem Rücken zur Tür und sah mich nicht, unsere Nachbarin, die alte Schmidt stand neben dem Herd und knetete ihren Rosenkranz. Ich wunderte mich sehr. Mir kam es fast so vor, als müsse jemand gestorben sein, nur fehlte keiner. Sogar die Katze saß auf dem Fensterbrett und putzte sich das Fell.

Immer noch hatte mich keiner bemerkt. Ich räusperte mich und fragte leise: „Ist jemand gestorben!“ Meine Frau blickte auf, ließ die Teekanne fallen. Die traf zuerst die gerade gefüllte Tasse am Rand, so dass sie im weiten Bogen den Tee über den Tisch spie und dann Richtung Tischkante sprang. Dann knallte die Kanne auf die Untertasse und zersprang in tausend Stücke. Der Tee spritzte in alle Richtungen.

Mein Vater fuhr mitsamt dem Stuhl ein Stück nach hinten und stieß mich dabei fast um. Meine Frau hingegen streckte mit einem Blick voller Entsetzen die Hand aus und deutete mit ihrem ausgestreckten Zeigefinger auf mich. Ein ersticktes Gurgeln kam aus ihrer Kehle, dann wurde sie ganz weiß und kippte einfach um. Mit einem lauten Krachen landete sie hart auf dem Boden. Ich wollte schnellstens zu ihr, aber mein Vater saß im Weg. Er versuchte noch, seine mit heißem Tee durchnässten Hosenbeine vom Körper fernzuhalten und drehte sich endlich zu mir um.

„Mach Platz“, rief ich. Aber mein Vater wurde ebenfalls blass, seine Kinnlade sank so weit hinab, dass ich befürchtete, sein Gebiss würde mir entgegenspringen. Gleichzeitig hörte ich meine Kinder hilflos wimmern. Mein Vater sprang plötzlich auf, packte den Stuhl an der Lehne und brachte ihn zwischen sich und mich.

„Jesus, keuchte er mühsam und richtete die linke Hand mit ausgestrecktem kleinen und Zeigefinger auf mich. Die Nachbarin brach lauthals in ein „Vater unser“ aus.
Nur meine Jüngste begriff, krabbelte von der Bank einfach unter dem Tisch durch, rannte zu mir und umarmte mich ganz fest.

„Mama, Mama, Papa ist wieder da, Mama, guck doch. Papa ist wieder da.“

15. Januar – Eine tapfere Frau

Eine tapfere Frau hat mir erzählt, dass sie zwei Kinder habe, eine große Tochter und einen Sohn. Der Sohn habe sich im Alter von 19 Jahren das Leben genommen, das sei inzwischen fast 6 Jahre her. Ihre Tochter habe schon Kinder. Sie selbst sei also bereits Großmutter.

Aber es sei ihr doch schwergefallen, nicht einfach aus dem Fenster zu springen, als Anfang des Jahres ihre Gebärmutter entfernt worden sei und sie plötzlich wieder über all das nachgedacht habe: Den Selbstmord ihres Sohnes, den Tod ihrer Mutter mit nur 73 Jahren, nachdem sie sie gepflegt habe und nun eben die Operation.

Wie sie so vor mir steht, erscheint mir diese Frau als ein fröhlicher und optimistischer Mensch, sie redet einfach über ihr Schicksal, macht sich Luft. Reden zu können ist doch schon ein erster Schritt zur Heilung. Oder? Aber vielleicht trifft sie andere Menschen wie mich nur an ihren „guten“ Tagen.

Die finsteren Tage verbringt sie allein in ihrer Kammer und da gibt es keine Rettung. Dann ist sie allein, nur sie und die Geister der Vergangenheit.

14. Januar – Friedensbewegt

In den 1980er Jahren bin ich an Ostern zu Friedensmärschen aufgebrochen, ich habe gegen die Stationierung der Pershing II Raketen demonstriert und unsere Gemeinde hat sich zur „Atomwaffenfreien Zone“ erklärt. Was war ich damals friedensbewegt! „Schwerter zu Pflugscharen“ war mein Slogan, Mahatma Gandhi mein Vorbild und die weiße Taube mein Symbol.

Heute denke ich lieber nicht darüber nach, dass deutsche Soldaten weltweit im Einsatz sind. Und falls doch, dann mache ich mir unterstützt von beruhigenden Medienberichten romantische Vorstellungen: Unsere Soldaten sorgen für Ruhe und Ordnung. Und die einheimische Bevölkerung ist unseren Jungs dafür dankbar.

Keiner meiner Freunde und Bekannten kam auf die Idee eine Karriere bei der Bundeswehr anzustreben. Die Chancen standen also gut, dass ich niemals mit den Realitäten der deutschen Auslandseinsätze konfrontiert würde.

Dann begegnete ich Klaus! Er saß mir im Zug gegenüber und schüttete mir ungefragt sein Herz aus. Klaus ist Anfang vierzig und wie ich ihn verstanden habe Reserveoffizier mit Spezialausbildung. Er entschied sich zu einer Zeit für diese Laufbahn, als ich noch für den Frieden marschierte. Und er hat sich damals auch nicht träumen lassen, dass es mit dem Job jemals richtig Ernst würde.

Aber heute reicht es ihm – nach insgesamt 12 mehrmonatigen Auslandseinsätzen in Kriegsgebieten vom Kosovo bis Afghanistan und bald im Sudan, von denen er zehnmal verwundet heimgekehrt ist. Vor allem, weil die Bilder ihn nicht loslassen. Bei seinem letzten Einsatz sei er auf eine Mine gefahren, bei dem Einsatz davor in Afghanistan sei er angeschossen worden. Der Schütze sei ein höchstens vierzehn Jahre alter Junge gewesen. Da hieß es: „Der oder ich“. Klaus habe das Kind getötet. Er selbst kam mit dem Leben davon.

Ich habe mich nicht getraut, Klaus zu fragen, ob er sich deshalb schlecht fühlt, ob es ihm leidtut, dass er ein Kind erschießen musste. Stattdessen erzählt er mir, dass durch die ständigen Auslandseinsätze bereits seine erste Ehe gescheitert sei. Und er befürchte, dass dies auch seiner jetzigen Beziehung blühe. Heiraten wolle er seine Freundin trotzdem. Er überlege noch, wie er um weitere Einsätze herumkommen könne. Er erzählt, dass er bereits versucht habe, sich zu weigern. Leider sei ihm daraufhin vorgerechnet worden, wie viel Geld seine Ausbildung den Staat gekostet habe. Er habe unterschrieben, die Vorteile genutzt, nun müsse er auch dienen.

Und Klaus erzählt weiter. Kürzlich habe er sich auf einen Einsatz vorbereitet, bei dem ein Kamerad befreit werden sollte. Aber der Einsatz habe sich dann erledigt. Der Kamerad sei hingerichtet worden. Und dessen Ehefrau habe ihr Kind verloren. Totgeburt im sechsten Monat. Wir schweigen einen Augenblick, beide Tränen in den Augen. Dann hält der Zug und Klaus steigt aus.

Zweifel steigen in mir auf, das kann, das darf doch alles nicht wahr sein. Falls es wahr wäre, dann dürfte das ein Soldat niemals einer wildfremden Person erzählen, oder? Vielleicht lacht sich Klaus jetzt auf dem Bahnsteig schlapp, welchen Bären er mir aufgebunden hat.
Ganz ehrlich: Mir hat die Vorstellung besser gefallen, dass die deutschen Soldaten im Ausland alles gute Kerle sind, die sich ganz freundschaftlich für den Weltfrieden einsetzen, niemanden töten müssen, niemals sterben und niemals verletzt werden.

13. Januar – Auf dem Lande

Wer auf dem Lande lebt, hat einen entscheidenden Vorteil. Es gibt Momente der Ruhe und Entspannung im Wald, auf dem Feld oder im eigenen Garten – am Tage vielleicht mit einem Kaffee und einer Zigarette oder in tiefer Dunkelheit und schweigsamer Nacht, wenn jedes Geräusch ohrenbetäubend wird.

In solchen Momenten bemerkst Du plötzlich, dass alles wächst und gedeiht. Auf einem Stein tummeln sich Dutzende oder Hunderte von Ameisenköniginnen. Jede bereit, ihren eigenen Staat zu erschaffen. Es wird nicht jeder gelingen, viele werden scheitern. Die Natur ist nicht geizig.

Sie lässt soviel Leben entstehen, dass eine ausreichende Zahl durchkommen wird, um wieder neues Leben zu erschaffen. Immer wieder und ohne Unterlass: Ein stetes Werden und Vergehen. Das Vergehen gehört dazu, es ist genauso wichtig und bedeutend wie das Werden. Die Natur ist nicht geizig und sie liebt all ihre Geschöpfe – auch Dich!

12. Januar – Im Reinhardswald

Beruflich bin ich viel im Auto unterwegs und manchmal zwischendurch brauche ich einfach ein bisschen Bewegung. Dann halte ich irgendwo an, wo es schön und friedlich aussieht, und drehe eine Runde durch einen Park oder über das Feld. Vor einiger Zeit führte mich mein Weg durch den Reinhardswald, einen großen Staatsforst in Nordhessen, in dem viele Eichen stehen aber auch einiges Nadelgehölz. Angelockt von einem wunderbar lichten Nadelwald und der Nachmittagssonne, hielt ich kurzentschlossen auf einem Waldparkplatz an und machte mich auf einen kleinen Spaziergang.

Es gab fast kein Unterholz in diesem Kiefernwald, also ließ ich mich nach einer Weile verleiten den breiten Weg zu verlassen und einfach in den Wald hinein zu gehen. Es war etwas schattig da unter den immergrünen Kiefern. Ihre Stämme waren glatt und hoch, die Kronen konnte ich nur sehen, wenn ich meinen Kopf in den Nacken legte. Je tiefer ich in den Wald kam, umso lauter knarzten und knackten die Bäume, manche Stämme bogen sich leicht im Wind. Ich legte meine Hand an die Rinde eines besonders mächtigen Stammes und fühlte ihn zittern und beben.

Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich gar nicht auf meine Füße geachtet hatte. Ich drehte mich um und sah, dass hinter mir nur Nadelwald lag, licht und schön, aber dennoch kein Weg weit und breit, weder hinter mir, noch rechts, noch links, noch geradeaus. Mir fröstelte plötzlich, die Bäume knackten jetzt ein bisschen lauter.

„Nur nicht die Nerven verlieren“, sagte ich mir selbst. „Du bist in diesen Wald hineingekommen, Du wirst auch wieder hinausfinden.“

Auf keinen Fall aber wollte ich den Weg zurückgehen, den ich gekommen war. Erstens war ich mir nicht sicher, der Wald sah überall gleich aus. Zweitens hasse ich es, den gleichen Weg zwei Mal zu laufen. Ich war von jeher eine Freundin von Rundwegen. Also ging ich rund.

„Aber ohje“, fragte ich mich bei jedem zweiten Schritt, „würde ich jemals ankommen? Kann ich in einem deutschen Forst einfach verloren gehen, verhungern und verdursten?“

Ich wurde etwas langsamer.

„Ach, nein“, machte ich mir Mut, „Du wirst den richtigen Weg schon finden. Hab einfach Vertrauen, in Dich selbst und Dein Schicksal. Das sieht bestimmt nicht vor, dass Du im Reinhardswald verreckst.“

So schritt ich wieder forscher aus.

„Hatte ich nicht letztens in der Zeitung gelesen, dass ein Forstarbeiter im Wald erstochen aufgefunden wurde. Was, wenn sich hier ein Irrer rumtreibt?“

Wieder zögerte ich und blickte ängstlich um mich, lauschte, ob sich jemand Unbekanntes näherte.

„Reg‘ Dich ab, das war doch eine Beziehungstat, die haben den Täter doch längst“, sprach ich mir wieder Mut zu.

„Aber Wildschweine, die sind doch gewiss gefährlich!“ „Nein, nein, die lieben den Eichenwald und halten sich dort auf.“

Merkwürdigerweise trat ich genau in dem Moment, als ich endgültig aufgeben wollte, mit einem letzten Schritt aus dem Wald und stand direkt vor meinem Auto auf dem Waldparkplatz.

11. Januar – Das muss Liebe sein

Ich war vielleicht drei Jahre alt. Ich weiß noch, dass ich mit Mühe aber ohne Hilfe auf unsere Küchenbank klettern konnte. Es war Abend und die Sonne schien durch das Fenster. Meine Mutter saß am Küchentisch und rieb mir einen Apfel. In diesem Moment, als die Abendsonne golden durchs Fenster strahlte, noch wärmend zwar aber schon zur Nacht geneigt, und mir der säuerlich-süße Duft des Apfels in die Nase stieg, da wusste ich plötzlich, was Liebe ist. Dieses Gefühl durchströmte mich, meinen ganzen Körper und es war das erste Mal, dass ich wusste, was ich da fühlte.

10. Januar – Short Story

„Fasse Dich kurz“, sagte mein Vater als ich von meinem neuen Job erzählte, „wir müssen uns beeilen.“ Also verstummte ich.

„Fassen Sie sich kurz“, sagte meine Therapeutin, als ich ihr endlich von meinen Problemen erzählen konnte, „die Stunde ist gleich zu Ende.“ Also beeilte ich mich.

„Fass Dich kurz“, sagte ich mir, als ich diese Geschichte schreiben wollte, „es ist Zeit schlafen zu gehen.“ Also ging ich zu Bett und träumte einen langen Traum.