9. Januar – Der Kater ohne Namen

Es war einmal ein Kater, der war so wild, dass er keinen Namen hatte. Er unterhielt sich niemals mit den Hauskatzen, die sich von großen, zweibeinigen Wesen streicheln ließen und kamen, wenn man sie beim Namen rief. Diesen großen Wesen traute er nicht. Aber ihr Futter fraß er doch. Denn einige von ihnen stellten für wilde Katzen wie ihn Futter vor die Tür. Aber er schlich sich immer nur an den Napf, wenn er keines von diesen großen Wesen sehen konnte. Später dann fand er eine schöne warme Höhle vor einem Gartenhäuschen, nur 30 Katzenlängen vom Napf entfernt, der regelmäßig morgens und abends mit lecker duftendem Futter gefüllt wurde.

Die Höhle war in einem Holzkasten mit kreisrundem Loch, innen mit kuscheligen Decken rundum gepolstert. Wenn der Kater ohne Namen nachts darin schlief, spürte er auch in der kältesten Winternacht keinen beißenden Wind im Fell. Am Morgen hörte er dann immer, wenn die zweibeinigen Wesen ihr Haus verließen und etwas Futter für ihn in den Fressnapf taten. Dann quietschte das Garagentor und schließlich hörte er einen Motor dunkel und tief brummen. Erst wenn das tiefe Brummen des Autos verklungen war, schlich er sich schnell an den Napf und fraß eilig, was er dort vorfand. Nach einer Weile schlich er schon aus seiner Höhle, wenn er die Tür hörte, und rannte schnell hinter die Mülltonnen und beobachtete von dort, wie das Futter von den zweibeinigen Wesen ausgeteilt wurde. Sobald sich der Zweibeiner zur Garage wandte, sprang der Kater ohne Namen schnell zum Napf und fraß einen hastigen Bissen, immer auf dem Sprung sofort wieder hinter die Mülltonnen zu flüchten, falls der Zweibeiner sich wieder umdrehte.

Eines Tages kam noch ein anderer Kater zu seiner Futterquelle, ein großer schwarz-weißer Bolzer. Der wollte ihm sein Futter wegfressen, das konnte der Kater ohne Namen nicht zulassen. Also warnte er den Schwarz-weißen und fauchte ihn mit zurückgelegten Ohren böse an. Der sprang zurück, machte sich noch dicker, als er war und fauchte. So fauchten und heulten sich die Kater eine Weile bedrohlich an, bis schließlich der Kater ohne Namen angriff und dem Schwarz-weißen zeigte, was ein richtiger Straßenkämpfer ist. Wild kratzte er mit den Pfoten und versuchte, dem dicken Kater in die Schwanzwurzel zu beißen. Das tat am meisten weh. Aber dort kam er nicht heran.

Der andere Kater wehrte sich nach Kräften und versuchte, den Kater ohne Namen ebenfalls an einer empfindlichen Stelle zu erwischen. Nach einer kurzen erfolglosen Rangelei trennten sich die beiden und standen sich wieder lauernd gegenüber. Schließlich versuchte der Kater ohne Namen eine Finte und wirklich, es gelang ihm, den schwarz-weißen einen ordentlichen Biss in den Bauch zu verpassen. Das war noch besser als die Schwanzwurzel. Heulend strampelte sich der Schwarz-weiße frei und biss um sich. Dabei erwischte er den Hinterlauf des Katers ohne Namen. Aber der merkte fast gar nichts davon in seinem Triumph den dicken Bolzer besiegt zu haben. Zufrieden machte sich der Kater ohne Namen über das Futter her.

Aber am nächsten Tag hatte sich die kleine Wunde, eigentlich nur ein Kratzer, entzündet und der Kater ohne Namen hinkte nur zum Futternapf. Und am nächsten Tag konnte er das Hinterbein gar nicht mehr belasten und sprang nur noch auf drei Beinen. Trotzdem rannte er sofort weg, wenn ihm die zweibeinigen Wesen zu nahe kamen. Die versuchten nun den Kater ohne Namen zu locken. Sie hockten sich mit Futter in der Hand auf den Boden und riefen ihn. Aber der Kater ohne Namen lugte nur misstrauisch hinter den Mülltonnen hervor. Das Futter mochte er gerne haben, aber diesen Zweibeinern wollte er einfach nicht näher kommen.
Dann, eines Morgens war kein Futter im Napf. Traurig schlich der Kater ohne Namen zur Tür und schnupperte am leeren Schüsselchen. Er schlich eine Weile ums Haus und da endlich sah er Futter. Ach wie herrlich das duftete. Völlig ausgehungert stürzte er sich auf drei Beinen in den kleinen Drahtkäfig, in dem das Futter lockte. Er bemerkte gar nicht den metallischen Klang hinter sich, so sehr war er mit Schlingen beschäftigt. Erst als er satt war und wieder zu seiner Hütte laufen wollte, da merkte er, dass er gefangen war. Ein paar von den zweibeinigen Wesen näherten sich ihm. Der Kater drehte sich wild im Käfig, kratzte am Boden und biss in die Metallstäbe. Aber es nützte nichts. Die Zweibeiner kamen unaufhaltsam näher. „Wir werden ihn zum Arzt bringen“, sagte eine Stimme. „Er muss auch kastriert werden“, sagte eine andere.

Dann warfen sie ein Tuch über den Käfig und der Kater ohne Namen konnte nicht mehr sehen, was draußen geschah. Er hockte sich ganz eng zusammengekauert hin. Sein Herz schlug schmerzhaft im Brustkorb. Er lauschte. Lange Zeit geschah nichts. Dann hörte er wieder Schritte, der Käfig wurde hochgehoben. Er schwankte leicht und wurde dann in einen hohlen Raum geschoben. Er hörte einen Kofferraumdeckel zuschlagen, dann hörte er Autotüren sich öffnen, Zweibeiner, bedrohlich nahe.

Die Türen schlugen zu, der Motor heulte unangenehm auf und brummte dann beständig. Sie bewegten sich, der Käfig schien sich zu bewegen und zu vibrieren. Der Kater ohne Namen kauerte immer noch abwartend. Er hatte davon gehört. Sie würden ihn wegbringen, sie würden gut zu ihm sein, sie würden ihm einen Namen geben. Und er würde nie mehr sein, wer er einmal war: stolz und frei, der Kater ohne Namen.

8. Januar – Bekannte

Drei Bekannte von mir wohnen in einer Straße, ihre Grundstücke liegen nebeneinander. Der ganz links wohnt, kommt zu mir und sagt: „Mein Nachbar ist so schrecklich, er lässt seinen Garten total verwildern, diese grässliche Wildblumenwiese mit lauter Unkraut, kein Beet ist ordentlich, kein Baum, kein Busch gepflegt und zurechtgestutzt. Immer wehen die Unkrautsamen in meinen ordentlichen Garten hinüber. Der ist doch Rentner, muss der denn so einen verlotterten Garten haben, der hat doch Zeit.

Und im Herbst da fällt immer das Fallobst auf meinen Rasen.“ Aber seinem Nachbarn, dem alten Mann, sagt mein Bekannter nichts. Er grüßt ihn freundlich, wenn er ihn sieht, und flucht innerlich, wenn er in seinem Garten Unkraut jätet oder Fallobst aufliest, denn an all seiner Mühsal ist nur der alte Nachbar schuld.

Auf der anderen Seite vom alten Mann wohnt eine Familie mit kleinen Kindern. Und sie beschweren sich auch bei mir über ihren Nachbarn, genauer gesagt über seine Katze. Denn die legt so häufig tote Mäuse oder manchmal sogar tote Vögel auf deren Terrasse. Und wenn sie nicht immer den Sandkasten der Kinder verdeckt halten, dann verscharrt die Katze dort ihren Kot. Die Familie möchte keinen Streit mit dem alten Mann und die Kinder lieben die Katze ja auch und graulen sie gerne und spielen mit ihr. Aber im Grunde stört sie es doch, dass der alte Mann seine Katze nicht besser erziehen kann.

#Und der alte Mann beschwert sich bei mir, weil seine Katze viel lieber bei den Nachbarn sei. Die Kinder lockten sie doch ständig rüber. Dabei wäre es ihm viel lieber, wenn die Katze bei ihm auf dem Sofa säße. Dann könnte er sie graulen und wäre nicht so allein. Zu ihm kommt sie doch fast nur zum Fressen. Und über den Nachbarn auf der anderen Seite beschwert er sich auch. Der sei ja verrückt, jede freie Minute renne der im Garten rum, zupfe Unkraut. Bei ihm stünden alle Pflanzen stramm wie auf dem Kasernenhof. Keiner dürfe dort über den sorgfältig gerechten Weg laufen. Der Rasen sei mit der Nagelschere getrimmt und fast immer, wenn der alte Mann gemütlich in seinem Garten sitzen wolle, die Zeitung lesen, ein Bierchen trinken, dann lärme unweigerlich da drüben beim Nachbarn irgendein Gerät: Der Rasenmäher, die Heckenschere, der Laubsauger oder sonst eine Höllenmaschine. Es sei doch viel schöner, die Natur einfach wachsen zu lassen. Ab und zu mal mähen, hie und da mal vom Obst naschen. Ihm sei das einfach zu anstrengend, in seinem Alter noch ständig im Garten zu wühlen. Wo bliebe denn da die Gemütlichkeit?

Jeder erzählt mir seine Geschichte und jede kommt mir völlig einleuchtend vor, jede der drei Parteien hat Recht. Ich werde mich auf keine Seite schlagen. Das einzige, was mir einfällt, ist jedem der drei zu sagen: „Sprecht miteinander, nicht mit mir!“ Wenn das nichts nützt, bleibt mir nur, mein Zuhören zu verweigern. Manchmal führt das dazu, dass Menschen miteinander sprechen. Aber meistens weichen sie nur auf einen anderen Zuhörer aus: ihren Friseur, den Pfarrer, ihren Hund oder sonst jemanden.

Früher habe ich in solchen Situationen häufig den Fehler begangen, die Parteien versöhnen zu wollen. Aber bis auf das Allmachtsgefühl, das sich kurzzeitig bei mir einstellte, blieb nur umso größere Ernüchterung beim Scheitern all meiner Bemühungen. Also bleibe ich bei dem, was ich kann: Zuhören. Zuhören und Lernen.

7. Januar – Stille Tage in Klischee

Wenn ich vom ganzen Trubel in unserem nordhessischen Dorf mal wieder gründlich die Nase voll habe, mache ich mich auf und verbringe ein paar Tage in Klischee. Dort ist alles genau so, wie es niemand erwartet, und das lüftet meine Gehirnzellen ganz vorzüglich.
Kaum in den Bahnhof eingefahren werde ich schon von drei Jugendlichen mit Migrationshintergrund freundlich empfangen. Der junge Mann mit Burka stolpert zwar etwas über den Saum seines langen Gewandes, als er mir den Blumenstrauß überreicht, aber die beiden anderen Burschen in ihren alpenländischen Trachten singen herzzerreißende Lieder von der verlorenen Liebsten, die nur in ihrem Heimatland Arbeit fand und jetzt jede Woche Geld schickt für Mann und Großeltern in Klischee.

Meinen Koffer muss ich selbst tragen. Das ficht mich nicht an, mein Hotel liegt nicht weit vom Bahnhof. Ich muss nur den Marktplatz überqueren, auf dem ständig ein schönes Lagerfeuer brennt, zu jeder vollen Stunde gibt es furchterregende Feuerspiele, die Glut spritzt in alle Richtungen und die Flammen schießen in großen Fontänen himmelwärts. Eine Punkerin mit Nickelbrille und strengem Kostüm schenkt mir einen Euro.

Die Straßenkehrerin kippt gerade den Müll auf den Platz und verteilt ihn großzügig. Am Ende stopft sie sich noch ein paar Kaugummis in den Mund, kaut hektisch und spuckt die klebrigen Klumpen auf den Gehweg. Einen mir genau vor die Füße, ich kann gerade noch ausweichen.

Im Hotel angekommen werde ich an der Rezeption mit einer lauten Schimpfkanonade empfangen. Ich kenne das bereits, nehme mir einfach meinen Schlüssel vom Schlüsselbrett, 349 steht auf dem großen Schlüsselanhänger in Knochenform.
Also laufe ich schnurstracks in den zweiten Stock und schließe Zimmer 785 auf.

Wunderbar, alles ist bereit: Das Zimmer verwüstet, alles in Unordnung. Ich suche mir frische Bettwäsche und Putzzeug aus dem großen Schrank im Frühstückszimmer. Das Frühstück wird dafür in der Besenkammer serviert aber nur abends zwischen sieben und neun. Kaum bin ich mit Aufräumen fertig, werfe ich mich mit angezogenen Schuhen aufs Bett, kreuze die Arme im Nacken und freue mich auf weitere, stille Tage in Klischee!

6. Januar – Heimat

Meine Heimat habe ich vor vierundzwanzig Jahren verloren. Nicht durch ein plötzliches Unglück, sondern durch einen schwelenden Kriegszustand wurde ich vertrieben. Ich suchte Vergeltung und konnte keine finden. Also wandte ich mich einer anderen Wirklichkeit zu, leckte meine Wunden und begann von vorn.

Irgendwann fand ich ein neues Zuhause, einen Lebensgefährten, eine Aufgabe. Aber obwohl ich hier sehr willkommen erscheine, so bin ich doch eine Fremde, nur geduldet so lange ich mich anpasse. Immer noch ohne Heimat fasse ich den Plan, mir meine Heimat selbst zu schaffen und dorthin nur die Menschen einzuladen, die mein Haus ehren können.

5. Januar – An meinen inneren Saboteur

Lieber Saboteur, ich erkläre den Frieden mit Dir! Natürlich, Du hast eine Menge Mist gebaut. Du hast mich verschlafen lassen, wenn ich eine wichtige Prüfung hatte. Du hast mich plötzlich den Weg nicht finden lassen, wenn ich eine wichtige Besprechung an einem unbekannten Ort wahrnehmen musste. Du hast mich schweigen lassen, als es besser gewesen wäre, zu sprechen.

Du hast mich dummes Zeug reden lassen, wenn es besser gewesen wäre zu schweigen. Du hast mich dazu verführt, lieber untätig vorm Fernseher zu hängen anstatt an meiner Karriere zu arbeiten. Und ich war so wütend auf Dich, immer wieder. Ich habe Dir den Krieg erklärt. Ich habe geschworen, dass ich Dich in die Ecke treiben werde, dass ich Dich verprügeln werde, dass ich Dich hinauswerfen werde in die Kälte ohne ein Dach über dem Kopf, ohne Geld, ohne Sicherheit. Aber dann habe ich es doch niemals getan.

Und eines Morgens, als Du mir endlich einmal ganz offen und ehrlich gegenüberstandst und mir sagtest: Gib doch einfach gleich auf. Aus Dir wird doch niemals etwas. Sei froh, wenn Du Deinen kleinen Job behältst, Dein kleines Leben weiterführen kannst. Niemals wirst Du die Welt ändern, niemals wird irgendjemand Dir zuhören, niemals werden Menschen geheilt werden durch die Macht Deiner Worte. Da wurde mir klar, dass der Saboteur einfach Angst hat und nur aus Angst handelt. Und mir wurde klar, dass der Saboteur ich bin.

Es wird Zeit, dass ich dem Saboteur den Frieden erkläre und ihn mitnehme bei meinem Aufstieg auf den großen Angstberg. Von dort oben haben wir einen freien Blick auf das Tal der Tränen, auf den großen Wutstausee, dessen gewaltige Staumauer gigantische Wassermassen zurückhalten muss, aber gleichzeitig erzeugt diese ganze angestaute Wut Energie, wichtige Energie, die es leuchten lässt in der kleinen aufgeräumten Stadt, die ich rechterhand liegen sehe. Energie, die dafür sorgt, dass dort die Straßenbahnen fahren, die Kühlschränke und Herde funktionieren.
Links gleich neben dem Tal der Tränen liegt das Tal der tausend Freuden. Und darauf folgt, das Feld des Mutes, der Wald der Finsternis und Träume und das Meer der Sehnsüchte. Im Angstberg liegt eine Höhle, die führt mich ganz tief hinab unter die Erde, wo der gewaltige Druck der Gesteinsmassen Kohle zu Diamanten gepresst hat. Gewaltige Stalaktiten hängen von der Decke und eine Goldader läuft unter dem Berg entlang. Wenn ich noch weiter suche und grabe stoße ich überall auf verborgene Schätze. Ich lade den Saboteur ein, sich mit mir in einer dunklen Grotte vor einen kleinen Tümpel zu setzen. Und dem steten Tropfen des Wassers zuzuschauen.

Lieber Saboteur lege Deine schwarze Augenmaske ab und höre auf, mich am Leben zu hindern. Ja, das Leben ist gefährlich und traurig und unsicher, es geschehen ständig Dinge, mit denen niemand rechnen konnte. Vielleicht werden unsere Träume wahr, vielleicht scheitern wir und verlieren damit sogar unsere Träume. Aber dann kommt etwas Anderes, etwas Neues. So hoffe ich. Ehrlich ich weiß es nicht. Ich habe auch Angst, aber ich will es trotzdem versuchen. Bitte lieber Saboteur, hilf mir dabei, schließe Frieden mit mir. Gemeinsam haben wir eine Chance.

4. Januar – Das Puppenhaus

Alex presste die Hände gegen das große Schaufenster und versuchte, jede Einzelheit des gigantischen Puppenhauses zu erfassen. Das Puppenhaus war kein gewöhnliches Haus. Nein, es war einer Stadtvilla aus dem späten 19. Jahrhundert nachempfunden. Die große Küche mit dem alten gusseisernen Herd lag im Souterrain, ebenso das Zimmer der Köchin.
Die Küchenmagd schien es sich des Nachts auf der Küchenbank bequem zu machen. Die übrigen Dienstboten hausten in kargen, aber sauberen Mansardenzimmern. Und selbst diese waren liebevoll bis in Detail ausgestattet. Die Bettgestelle aus Metall, weiß lackiert, die einfache, grobe Bettwäsche, ein mickriger, ebenfalls weiß lackierter Kleiderschrank für die Habseligkeiten der Dienerschaft. Ein Kerzenständer auf dem wackligen Nachtspind, eine weiße Nachthaube nachlässig über den Bettpfosten geworfen.

Aber richtig schön und detailgetreu wurde es dann erst im Stockwerk darunter. Alex seufzte vor Wonne beim Blick in das Schlafzimmer der Herrschaften. Die Wände waren mit rotem Brokat ausgekleidet und das Ehebett wurde von einem roten Baldachin gekrönt, über und über mit Goldfäden bestickt. Auf der lang auslaufenden Schleppe prangte ein schlafender Drache. Rauchwolken quollen sanft aus seinen Nüstern.

Neben dem Elternschlafzimmer wurde der Unterricht für die Kinder erteilt. Der Hauslehrer hatte hier auch sein Bett stehen, dass am Tage mit einer bestickten Decke und großen bunten Kissen in ein Sofa verwandelt wurde. Dem Bett gegenüber reihten sich dunkelbraune Bücherregale an der Wand auf und ein Vitrinenschrank, in dem ein Globus in Miniaturgröße stand, einige Landkarten, ein Mikroskop und eine Schmetterlingssammlung hinter Glas. An der Kopfseite des Raumes stand der Schreibtisch des Hauslehrers und vor ihm auf zwei Doppelbänken saßen die Kinder des Hauses. Die Mädchen rechts, die Jungen links. Alle in unbequeme, gestärkte Kleidung gezwängt, mit steifen Kragen. Die Mädchen außerdem mit komplizierten Hochsteckfrisuren, kunstvoll zu Locken gedrehte Strähnen an den Schläfen herabhängend. Die übrigen Räume an der Rückseite des Hauses konnte Alex nur erahnen.

Im Erdgeschoss hatte Alex dafür einen freien Blick auf das Speisezimmer und den Salon. Im Salon blitzte ein blank polierter Parkettboden, an den Wänden hingen riesige, ovale Spiegel mit wuchtigen, handgeschnitzten und vergoldeten Rahmen, die Wände bespannt mit rosa Seide und ein glitzernder Kronleuchter hing von der Decke. Wie kleine Inseln im Ozean lagen Teppiche ausgebreitet und markierten die Lounge und den Kartentisch.
Die Wände des Speisezimmers waren mit weißem Holz getäfelt und die Kassetten mit dunkelblauem Brokat ausgekleidet. Der lange Esstisch war aus dunklem, schwerem Eichenholz wie auch die Anrichte. Die Stühle aber hatten zierlich gedrechselte Beine und handgeschnitzte Verzierungen an der Lehne, die Sitzflächen waren stark gepolstert und mit dunkelblauem Samt bezogen. Alex stellte sich vor, wie schön es wäre dieses wunderschöne Puppenhaus zu Hause zu haben. Es wäre wunderbar, damit zu spielen, die Einrichtung zu ändern oder es einfach nur zu betrachten, sich vorzustellen, was die Bewohner erlebten …

„Alexander, jetzt komm doch endlich!“, rief seine Frau. „Was schaust du dir denn so ein Puppenhaus an? Unser Enkelchen ist doch noch viel zu klein und außerdem ist das nichts für einen Jungen!“

3. Januar – Tiger macht Urlaub

Hinter dem Sofa liegt der dicke Winterpelz von Tiger. Tiger hat sich in den Süden verzogen und braucht den dicken Pelz jetzt nicht. Wäre ja auch viel zu warm mit so viel Fell bei 38 Grad im Schatten. Der kleine Raubtiger aalt sich jetzt lieber nur mit seinem schicken kurzen Sommerfell bekleidet in der Sonne und schlürft Caipirinhas und Pina Coladas. Irgendwann ist er so beschwipst, dass er auf der Liege einschläft und seine Haut unter dem Sommerpelz intensiv rosa zu schimmern anfängt.

Aber ein Tiger kennt keinen Schmerz. Er verzieht keine Miene als er am Abend zum Tanzen in der Strandbar auftaucht. Ein bisschen kühlendes Gel hat er sich aber doch einmassieren lassen. Er will ja keine bleibenden Schäden riskieren. Am nächsten Tag geht der Urlaubstiger zum Segeln, obwohl er Wasser nicht so besonders mag. Aber er spielt eben auch gern mit der Gefahr. Verwegen über das unergründliche Nass zu segeln wie weiland Erol Flinn oder Kirk Douglas, das war schon immer Tigers Traum.

Natürlich ist Tiger normalerweise ein Stubentiger, der im Winter in Deutschland wirklich ungern vor die Tür geht. Das Mäusefangen macht sowieso keinen Spaß bei dieser Hundekälte. Aber ach, bei so einem Heldenwetter in der Karibik, da wächst auch der Stubentiger über sich hinaus. Schade, dass er noch vor Weihnachten nach Hause fliegen muss. Dann zieht er seinen warmen Kuschelpelz wieder an und blinzelt gelangweilt in die Weihnachtskerzen am Baum. Mit dem Lametta darf er schon wieder nicht spielen, wie jedes Jahr. Und Pina Coladas gibt es auch keine, nur ein Schälchen warme Milch. Miau!

2. Januar – Die ganze Wahrheit über Engel

So sehen Engel also aus, wie Pippi Langstrumpf mit Flügeln. Ich wusste es doch: Engel sind längst nicht so langweilige Wesen, die immer auf der Wolke hocken und Hosianna singen. Dieser kleine Engel mit Turboflügeln bestätigt nur, was ich schon immer ahnte.

Engel haben in Wirklichkeit riesig viel Spaß bei der Arbeit, ihnen sitzt der Schalk im Nacken und ab und zu werden sie beim Überschreiten der Höchstfluggeschwindigkeit geblitzt, das gibt dann Strafsterne in Flensburg. Die kleine, herzförmige Fliegenklatsche braucht mein Engelchen, um uns armen Sündern ganz liebevoll auf die Finger zu klopfen, wenn wir uns mal wieder für das Falsche entschieden haben.

Aber die meisten Menschen bemerken die zärtlichen Klapse gar nicht, sie sind so viel Nachsicht und höfliche Zurückhaltung gar nicht mehr gewöhnt, also trampeln sie weiter auf den Nerven anderer Leute herum, sind egoistisch, hassen ihre Nachbarn und passen einfach nicht auf. Aber Engel sind deswegen nicht frustriert und sehen sich auch nicht nach einem anderen Job um. Nein, das ist eben das Besondere an Engeln, dass sie langmütig sind, dass sie den Menschen ihre ganzen, schlimmen Fehler lassen können und sie trotzdem lieb haben.

Nur den ganz besonders hartnäckigen Fällen spielen sie manchmal Streiche und halten den Unverbesserlichen den Spiegel vor, auf dass sie sich fürchterlich erschrecken. Den einen oder anderen soll diese Engelstherapie sogar zur Besinnung gebracht haben. Die anderen müssen eben nochmals wiederkommen bis sie endlich ausgelernt haben.

1. Januar – Schatztruhe

Die große und schwere Schatztruhe stand verstaubt auf dem Dachboden des Hauses, das ich gerade besichtigte. Dicke Spinnweben hingen an den Seiten hinab. Sie war einfach vergessen worden. Als ich mich ihr näherte, sah ich, dass sie verblüffend der kleinen Schatztruhe ähnelte, die Marilu vor vielen Jahren auf den Tisch gestellt hatte unsere kreative Schreibrunde auffordernd eine Geschichte über diese Schatztruhe zu schreiben.

Da ich nun diese Schatztruhe hier fand, nur in Originalgröße, aber sonst fast gleich aussehend, ließ mich erkennen, dass dies endlich das richtige Haus war – mein Herrinnenhaus, das ich solange gesucht hatte. Ich versuchte nicht diese Truhe, verstaubt und lange vergessen, zu öffnen. Ich strich nur sanft über ihre Oberseite und wischte den Schmutz von den großen, geschliffenen Glassteinen, die ihren Deckel schmückten.

Irgendwann einmal, das wusste ich, würde ich diese Truhe öffnen. Vielleicht an einem verregneten Nachmittag oder in höchster Not, weil ich Antworten brauche. Und dann wird in dieser Truhe genau das zu finden sein, was mir Heilung bringt, Erkenntnis oder vielleicht ein herzhaftes Lachen in trüben Zeiten. Ich drehte mich zu dem Makler um und sagte: „Wir müssen nicht weiter suchen, das Haus nehme ich!“

31. Dezember – Neuanfang

Neuanfang. Natürlich könnte jeder Tag des Jahres als der letzte Tag desselben und als der Beginn eines neuen, hoffnungsvollen, wunderbaren Zeitabschnitts gelten.

In der Tat feiern die unterschiedlichen Religionsgemeinschaften der Welt auch an unterschiedlichen Tagen ihr Neujahrsfest. Das wichtige ist also nicht der jeweilige Tag, sondern der Neuanfang!

Es gilt zu würdigen, dass es einen Zyklus von Werden, Wachsen und Vergehen gibt. Alles beginnt immer wieder von Neuem. Immergleich aber doch mit unerwarteten Varianten und unerklärlichen Möglichkeiten. Gleichgültig, in welchem Land dieser Erde wir leben. Einen Tag im Jahr gibt es überall, an dem wir die alten Geister hinaustreiben aus ihren Ritzen und Winkeln. Dann ist es vorbei mit deren Bequemlichkeit und ihrer Einmischung.

Wir tragen den Abfall hinaus und verbrennen ihn zu Ehren der Wiedergeburt des Lebens. Leben verschwendet sich, verschenkt sich und ist doch heilig. Für das Leben zahlt keiner einen Preis. Nicht der Tod ist der Preis für das Leben. Der Tod ist die Voraussetzung für das Leben. Ohne Ende, kein Anfang. So einfach ist das. Bewahre es wie ein Juwel in deinem Herzen, damit es dir leuchte in dunklen Zeiten.

30. Dezember – Wieder die ollen Geister

In dieser Zeit zwischen den Jahren, zwischen Heiligabend und Dreikönigstag, da kommen sie aus ihren Ecken, die ollen Geister der Vergangenheit. Manche gähnend und sich am Kopf kratzend. Wieso sollen sie jetzt schon wieder? Auch ein oller Geist hätte ja gerne mal seine Ruhe.

Aber so ist das eben, zwischen den Jahren, in den Raunächten, vor allem bei Neumond, da besteht Anwesenheitspflicht. Also schleppen sich die Geister aus den Ritzen der Dielenbretter, schlüpfen durch die Gipslöcher aus den Wänden, schweben ganz langsam durch die Dunstabzugshaube in die Küche.

Plötzlich sinkt die Raumtemperatur um 3 bis 4 Grad. Staub und vergessene Gerüche schweben durch das Haus. Es knackt und knorzt im Gebälk. Die Menschen schütteln sich und sagen Dinge wie: „Ist aber kalt heute!“ Dann drehen sie die Heizung etwas weiter auf oder legen noch einen Scheit Holz ins Feuer.

Katzen können die Geister sehen. Die alten Kater lassen sich gar nicht weiter stören. Aber junge Katzen springen die Wände hinauf, versuchen, diesen Hauch von nichts zu fangen. Natürlich gelingt es ihnen nicht. Die ollen Geister streifen durchs Haus, legen sich probeweise aufs Sofa, inspizieren den Backofen und die unaufgeräumten Schubladen. Manchmal bringen sie die noch ein bisschen mehr durcheinander.

Die meisten Menschen haben kein Empfinden für sie. Sie wischen nur ein bisschen mehr Staub fort als sonst. Das komme von der trockenen Heizungsluft, sagen sie dann. Aber einige, wenige Menschen sprechen mit den Geistern in ihren Träumen, betrachten mit ihnen die Sterne und schauen zu, wie der Atem dabei gefriert in der dunklen, klaren Nacht. Wenn die Schatten flüstern.

29. Dezember – Mutig wie ein Mäuschen

Mutig wie ein Mäuschen. Seine Nasenspitze zittert. Wenn Sebastian Schnurrhaare hätte, würden auch die jetzt zittern. Unheimlich ist das heute in dem alten Haus von Oma. Mama ist in der Küche mit ihren Geschwistern, den Onkeln und Tanten, den Nachbarn von links und von rechts. Sie nehmen Mama in den Arm und helfen Kaffee kochen und Brote schmieren.

Die Oma liegt im Wohnzimmer, in ihrem Lieblingssessel. Sie atmet nicht mehr. Mama hat eine Decke über sie gelegt. Aber Omas Gesicht ist nicht zugedeckt und die Arme liegen auch über der Decke. Sebastian hat beobachtet, wie ein Nachbar nach dem anderen, ein Verwandter nach dem anderen hineingegangen ist zu ihr. Sie angeschaut hat, noch einmal ihre Hand berührt hat.

Manche haben nur schnell einen Blick geworfen und sind dann wieder zu den anderen gegangen. Sich in die Herde drängend. Leben atmen. Den Anblick des Todes vergessen. Sebastian hat sich nur bis an die Tür getraut. Die ganze Zeit haben sich die Leute an ihm vorbeigedrängt, Abschied genommen.

Heute ist Sonntag. Alle haben Zeit zu kommen. Sebastian staunt, wie viele Leute die Oma kannten. Wie ein Lauffeuer hat es sich im ganzen Dorf herumgesprochen. Wahrscheinlich hat jeder den Hubschrauber gehört, der heute Vormittag bei Omas Haus gelandet ist. Aber es war schon zu spät, die Notärzte sind wieder davongeflogen. Das hat Tante Lisa wieder und wieder jedem erzählt, Mamas Schwester. Sie hat Mama panisch angerufen, als Sebastian noch im Bett lag heute früh.

„Die Mutter stirbt, komm her, sofort!“, hat sie durchs Telefon gebrüllt, sofort wieder aufgelegt. Da gab es kein Überlegen, kein irgendwas. Mama hat Sebastian nur einen Mantel übergezogen und die Stiefel an. Dann sind sie mit dem Auto rübergebraust zu Oma. Das hat höchstens fünf Minuten gedauert, aber es war schon zu spät. Die Notärzte haben sich gerade verabschiedet. Tante Lisa sprang rum wie ein aufgescheuchtes Huhn und Mama wurde ganz blass.
Sebastian war an der Wohnzimmertür stehen geblieben. Die Nachbarn von gegenüber kamen durch die Terrassentür. Irgendwer rief den Arzt an, Mama rief die anderen Geschwister an. Die würden frühestens in einer Stunde hier sein. Immer mehr füllte sich der Raum. Im Garten standen die Leute, in der Küche begannen die Nachbarsfrauen mit Kaffeekochen. Sebastian hatte das Gefühl, dass all das nur so an ihm vorbeizog.

Irgendwann kamen Onkel Georg und seine Freundin und Tante Sabine. Auch der Arzt kam, untersuchte die Oma und redete mit den Erwachsenen. Sebastian stand einfach da. Ließ es geschehen, dass ihm ab und zu jemand übers Haar strich. Die Oma lag da in ihrem Lieblingssessel und atmete nicht mehr. Im Wohnzimmer war jetzt niemand mehr.

Sebastians Nasenspitze zitterte. Wenn er Schnurrhaare hätte, würden auch die jetzt zittern. Langsam und vorsichtig schiebt sich Sebastian vor. Vielleicht, wenn er Omas Hand ganz fest in seine nimmt. Wenn er ihr das Haar aus dem Gesicht streicht. Wenn er ihr in den Bauch pikst. Vielleicht wacht sie dann wieder auf.

Aber dann steht Sebastian vor der Oma. Ihr Gesicht ist ganz grau. Ihre Hand ist unnatürlich kalt. Alles Lebendige an ihr ist verschwunden. Die Oma schläft nicht. Die Oma ist wirklich, wirklich tot. Sebastians Nasenspitze zittert. Tränen rollen ihm die Wange hinab. Er kauert sich zu Omas Füßen vor den Sessel und weint und weint.

Plötzlich kommt Mama und nimmt ihn in den Arm. Dann weinen sie beide, bis ihre Trauer zu einem kleinen Rinnsal zusammengeschmolzen ist.