20. Januar – Die Trauerweide

Im Sommer spielten die Kinder verstecken unter den lang herabhängenden Zweigen der Trauerweide. Manchmal am Abend fanden sich Liebespaare unter ihrer Krone ein, um ungestört zu sein. Aber jetzt im Winter stand sie nackt und ungeschützt im Sturm, im Regen und im Schnee. Nur selten verirrte sich ein Mensch in ihre Nähe. Nur die Hunde kamen nach wie vor jeden Tag und hoben ihr Bein an ihrem Stamm.

Nicht dass es der Weide etwas ausmachte, dass jetzt im Winter die Säfte ruhten und auch ihre Umgebung ruhiger wurde. Jetzt war die Zeit, Kraft zu sammeln, für das Frühjahr, wenn die Blätter wieder austrieben und sie allmählich und stetig weiter wachsen würde und ein bisschen älter werden würde, wie jedes Jahr seitdem sie ein Sprössling gewesen war.

Irgendwann, das wusste die Weide, da würde sie morsch werden oder eine Krankheit würde sie befallen oder sie würde im Weg stehen und dann weit vor ihrer Zeit abgeholzt werden. Sie würden kommen mit Motorsägen und Äxten, sie würden sie kurz und klein machen und ihre Wurzeln ausbaggern wie bei den Platanen, die vorne am Wegesrand gestanden hatten.

Dann würde ihr Holz verbrannt werden und der Rauch würde in den Himmel getragen und weit oben würden die Rauchpartikel Wasser einfangen und eine Wolke bilden und später würde die Trauerweide mit dem Regen aus dieser Wolke wieder zu Boden stürzen. Und dort würde sie für irgendeine andere Pflanze kostbare Nahrung sein und so für immer im Kreislauf des Lebens eingebunden sein.

Nichts und niemand geht jemals verloren.