18. Januar – Schnipsel – In die Freiheit

Schnipsel, der Zwerghase saß in seinem Hasenstall und mümmelte vor sich hin. Solange die Kinder in der Schule waren, ging es ihm gut. Keiner schleppte ihn ständig herum, keiner zog ihm Puppenkleider an oder zwang ihn sogar dazu mit einer albernen Spielzeugtasche um den Bauch herumzuhoppeln. Nein, nein, das Leben war entschieden angenehmer und friedlicher, wenn er keines dieser lästigen Kinder zu Gesicht bekam.

Und am liebsten, am allerliebsten wäre er gänzlich verschwunden, würde verduften, sich in Luft auflösen. Aber wie sollte Schnipsel das gelingen? Schon lange brütete er über einem Ausbruchsplan. Und jetzt mal ehrlich, so schwer konnte das doch nicht sein. Ein Hasenstall war schließlich nicht Stammheim.

Trotzdem bisher war keiner seiner Pläne aufgegangen. Durchbuddeln ging nicht, der Boden des Hasenstalles war massiv. Gitterstäbe durchnagen ging auch nicht, die waren zu fest. Und die Tür bekam er auch nicht auf, obwohl er doch so genau aufgepasst hatte, wie die Kinder die Tür auf und zu machten. Aber er konnte sie einfach nicht öffnen.

Schnipsel hörte die Türklingel. Einen Augenblick später trampelten die Kinder herein, warfen ihre Schultaschen in die Ecke und stürzten sich auf ihn. Ein Glück, dass der Vater zum Mittagessen rief. Galgenfrist.

Doch dann bemerkte Schnipsel, dass die Kinder vergessen hatten die Tür zu seinem Hasenstall richtig zu schließen. Er jubelte innerlich. Endlich die ersehnte Chance auf Freiheit. Schnipsel stieß die Tür auf und hüpfte aus dem Stall, drückte die angelehnte Zimmertüre mit seinem Kopf auf und hoppelte langsam Richtung Eingangstür. Die war natürlich verschlossen.

Also quetschte er sich in die Ecke neben den Schuhschrank, zog mit den Zähnen noch eine leichte Sommerjacke von der Garderobe auf sich. So würde ihn keiner entdecken. Jetzt hieß es warten. Normalerweise kam die Mutter mittags zum Essen nach Hause, wenn er vorsichtig war, konnte er schnell entwischen, wenn sie die Haustür öffnete. Und tatsächlich, nach kurzem Warten hörte er Schritte und einen Schlüssel im Schloss. Schnipsels Herz pochte wild, seine Nase zuckte aufgeregt.

Dann stieß die Mutter die Tür auf und rief: „Ich bin da!“. Sie warf ihren Schlüssel auf den Schuhschrank, ihre Aktenmappe stellte sie daneben. Den Augenblick nutzte Schnipsel zur Flucht.

Mit einem großen Satz hüpfte er durch die immer noch geöffnete Haustür, sauste die vier Stufen der Steintreppe hinab und warf sich seitlich ins Gebüsch. Schwer atmend kauerte er dort und wartete darauf, dass endlich die Haustür zuschlug. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis das ersehnte Klappen der Tür ertönte. Sie hatten also nichts bemerkt.

Schnipsel schaute sich um, in welche Richtung er weiterhoppeln wollte. Im Garten nebenan schraubte der Nachbarsjunge an einem alten Opel Manta. Dort sollte er sich lieber nicht hinwenden. Auf der anderen Seite grenzte das Grundstück an ein Weizenfeld. Schnipsel hoppelte schnell über den Rasen, tauchte unter dem Zaun durch, überquerte den Feldweg und verschwand zwischen den Halmen.

Nach dem Mittagessen liefen die Kinder ins Spielzimmer. Die Tür des Hasenstalls stand sperrangelweit offen. Schnipsel war nicht zu sehen.

„Welcher Blödmann hat den Hasenstall offen gelassen!“, brüllte der Vater, als er vom Geschrei der Kinder angelockt ins Zimmer kam.

Nun suchten sie überall, unter dem Bett, hinter dem Schrank, im Sofakasten, im Flur, im Wohnzimmer, in den Schlafzimmern, in der Küche. Aber Schnipsel blieb verschwunden.