21. Januar – Der Drache

Der Drache war des Kampfes müde. Lange Zeit hatte er Feuer gespuckt und gewütet, Bäume ausgerissen, Felsen gebrochen und auf Häuser fallen lassen. Er hatte Menschen gejagt und Menschen genagt, aber die schmeckten nicht besonders.

Ab und zu war ein großer Held vorbeigekommen, der ihn töten wollte. Die Lanzen und Schilde dieser Männer hatte er vor dem Eingang seiner Höhle in den Boden gerammt. Zur Abschreckung.

Tatsächlich, es hatte sich seit mindestens 50 Jahren kein Mensch mehr zu seiner Höhle verirrt. Obwohl er noch regelmäßig alle Jahrzehnte ausflog und ab und zu um der alten Zeiten willen auch ein paar Steine auf die Häuser fallen ließ und ein bisschen zündelte, schienen sich die Menschen damit abgefunden zu haben.

Zwar reckten sie noch die Fäuste in seine Richtung. Aber dann kamen sie schon mit Löschwagen angerollt und beseitigten emsig die Schäden, die der Drache angerichtet hatte. Und es machte dem Drachen einfach keinen rechten Spaß mehr, das zu tun, was Drachen gewöhnlich tun. Also schlief er jetzt meistens unter dem Berg und träumte.

Eines Tages wurde er davon geweckt, dass ihn irgendetwas ständig in die Schulter pikste. Er öffnete ein Auge halb und sah ein Mädchen vor sich stehen. Er seufzte. Hatten sie ihm schon wieder so eine lästige Jungfrau geschickt? Er ließ das Lid wieder nach unten klappen. Aber nein, überlegte der Drache, die Jungfrauen hatten sie ihm früher, lange, lange ist es her, draußen an den Felsen gekettet. Und die hatten geschrien und geschluchzt, aber niemals gepikst. Es pikste wieder.

„Hey, Du, Schlafmütze, wach auf!“, hörte er nun eine helle Stimme rufen. Also klappte er das Augenlid wieder hoch.

„Was willst Du?“, grollte es aus seinem tiefsten Innern.

„Ich komme von der Vereinigung ‚Schutz mythologischer Wesen international‘. Unsere Aufgabe ist es die mythologischen Wesen zu retten, die Drachen, die Einhörner, die Elfen, die Zwerge, die Werwölfe, die Vampire, die Nymphen, die Hausgeister, die olympischen Götter und was es sonst noch so alles gibt.“

Der Drache rümpfte die Nase, ein paar Rauchwölkchen quollen hervor. Er wusste nicht genau, was das Gerede bedeuten sollte, aber aus irgendeinem Grunde vermutete er, dass diese Frau noch lästiger sein würde als die Jungfrauen und die Helden zusammen. Ach, sie sollte ihn einfach schlafen lassen, er hatte gerade so schön davon geträumt, dass er einen ganzen Wald in Brand… Es pikste wieder. Jetzt reichte es aber, einen Drachen beim Schlafen zu stören, was für eine Unverfrorenheit. Nun öffnete er beide Augen und fixierte das kleine Menschlein vor sich böse.

„Was?“, blaffte er. „Ich komme von…“ fing die junge Frau wieder an.

„Interessiert mich nicht“, raunzte der Drache.

„Aber Du bist der letzte Drache, und wenn wir nicht dafür sorgen, dass Du…“

„Interessiert mich nicht! Lass mich schlafen!“ Er schloss die Augen. Mit einer schnellen Bewegung schlug er der jungen Frau mit seiner Kralle den Regenschirm aus der Hand, bevor sie wieder piksen konnte. Er öffnete die Augen noch einmal halb, hielt der Frau seine Kralle vor die Nase und sagte.

„Wag es nicht noch einmal her zu kommen, wag es nicht mich noch einmal mit Deinem Dingsda zu pieksen, wag es nicht mir helfen zu wollen. Ich bin ein Drache. Ich brauche keine Hilfe.“

Er spuckte ein bisschen Feuer, um seine Rede zu unterstreichen. Aber er bekam schon gar nicht mehr mit, wie die Frau seine Höhle verließ. Er träumte schon wieder und stieß wohlig grunzend ein paar Rauchwolken aus. Und wenn er nicht gestorben ist, schläft der Drache heute noch irgendwo unter dem Berg.