4. November – Ein alter Hut

Kennt ihr das Gefühl, gerade irgendeine tolle Entdeckung gemacht zu haben und einen Augenblick später stellt ihr fest, dass genau diese Entdeckung bereits ein Dutzend anderer Menschen vor euch gemacht haben? Also nichts als ein alter Hut ist?

Warum also kommen so häufig alte Hüte dabei heraus, wenn wir auf Entdeckungsreise gehen? Das möchte ich doch gerne mal wissen. Habt ihr eine Idee dazu?

Nun ja, ich schon. Es liegt an den ausgetretenen Trampelpfaden unserer Vorstellungen und Denkweisen. Nur leider auch diese Erkenntnis ein alter Hut.
Ich habe noch ein paar auf Lager, wartet mal ab. Ihr habt doch bestimmt schon einmal vom Dualismus gehört, den zwei Seiten einer Medaille. Das meint zwei Begriffe, die so untrennbar miteinander verschweißt sind wie Kopf und Adler, Arsch und Eimer oder eben Liebe und Hass, Mut und Angst usw.

Im Grunde sind diese so gegensätzlich erscheinenden Begriffe nichts weiter als die zwei Seiten eines Objekts. Das wusste bereits die ollen Griechen, die ganz ollen, die ja bekanntlich alle sehr einfallsreich und gebildet waren. Deshalb gab es auch schon vor mehr als 3000 Jahren (oder so) in der griechischen Sprache neben Einzahl und Mehrzahl die Zweizahl. Also: ich, beide (sich einander bedingende Seiten einer Medaille), wir. Ja, im Deutschen schwer auszudrücken und auch zu verstehen.

Wo ich jetzt viele Worte machen muss, da machte der Grieche eben nur eines und jeder verstand sofort, was er damit meinte. Nun ja, dieser ganze Kram mit dem Dualismus wurde mir bereits in der Schule beigebracht. In irgendwelchen Büchern über Buddhismus las ich auch davon, dass dieser zu überwinden sei. Also der Dualismus begleitet mich mein ganzes bisheriges Leben.

Und plötzlich komme ich darauf, dass es ja auch Gegensatzpaare gibt, die eben nicht dem normalen dualen Verständnis entsprechen. Zum Beispiel ist für mich Vertrauen das Gegenteil von Angst. Oder Gleichgültigkeit das Gegenteil von Liebe. Ach Mensch, das kommt mir so toll vor, endlich mal ein richtig neuer Gedanke aus eigener Erfahrung gewonnen, destilliert und abgefüllt. Aber wahrscheinlich doch wieder nur ein alter Hut. Macht aber nichts, für mich ist er nagelneu.

3. November – Das Unglück mit den Wörtern

Ist dir schon einmal aufgefallen, dass alles Unglück mit den Wörtern anfängt. Im Grunde mit den Abkürzungen dazwischen, den vorgefertigten Gedanken aus der Fabrik. Mit den Fast-Food-Denkweisen aus dem Kühlregal, kurz angewärmt und dann leicht und schnell inklusive aller Farbstoffe und künstlichen Aromastoffe einverleibt.

So hörst du in jungen Jahren den Menschen zu, die du liebst und glaubst ihren Worten. Können sie fehlgehen? Nein! Denn sie sind ja deine Götter. Je älter du wirst umso häufiger werden deren Glaubenssysteme, Philosophien und Weisheiten widerlegt. Nicht alle, aber doch empfindlich viele. Widerlegt durch etwas, das sich Erfahrung nennt.

Wem glaubst du nun? Den Weisheiten deiner Götter oder deinen selbst erlebten Gefühlen? Deinem Kopf oder deinem Bauch? Voller Unsicherheit wendest du dich ab und suchst neue Götter. Götter mit ähnlichen Erfahrungen wie du. So steigst du aus dem tiefen Sumpf der Einsamkeit, in den dich der Zweifel geworfen hat. Der Streit zwischen Theorie und Praxis ist beigelegt.

Voller Freude lachst du denen zu, die dein Erleben teilen. Ist es deshalb Wahrheit? Nein, nur deine Wirklichkeit und die Erkenntnis, wie wohltuend es sich anfühlt verstanden zu sein.

2. November – Josefs Tagesform

Josef atmete schwer. Nur noch 100 Höhenmeter hatte er zu überwinden, aber noch niemals waren ihm diese letzten Meter so anstrengend vorgekommen.

Er keuchte und war dankbar dafür, allein zu sein. Wie peinlich, wenn ihn nun jemand beobachten würde. Josef musste sich setzen. Keinen Schritt mochte er mehr machen. Mühsam ließ er sich am Wegesrand nieder und ließ den Kopf auf die Knie sinken.

Nach einer Weile nahm er einen Schluck aus seiner Wasserflasche. Immerhin hatte sich sein Atem beruhigt. Aber nun zuckten seine Beine. Er war heute einfach nicht in Form. Dabei ging er jedes Jahr an seinem Geburtstag auf den Berg, seit seinem zwanzigsten Geburtstag tat er das, seit 65 Jahren. Und niemals war ihm der Weg so schwergefallen.

Er verstand einfach nicht, warum seine Tagesform heute so miserabel war.

1. November – Uralte Steine

Eine flache Schale habe ich extra besorgt. Viereckig mit gerundeten Ecken. Dort ruht nun der Ostseesand, auf ihm ein paar uralte Steine.

Natürlich ist ein Hühnergott dabei. Ein Stein mit Loch. Im Hühnerstall – so sagt es die Überlieferung – soll er bewirken, dass die Hühner mehr Eier legen und die Füchse von ihnen ferngehalten werden. Ob das wirkt, werde ich nun erproben.

Vielleicht hilft dieser Hühnergott und der große auf dem Fensterbrett zwischen den Blumentöpfen mir dabei, „mehr Eier“ zu legen, also noch kreativer zu sein und vielleicht sogar ein paar goldene, diamantene oder kunterbunte „Eier“ zu legen. Womöglich werden die im ganzen Hause verteilten Hühnergötter tatsächlich auch die Füchse fernhalten, die listigen Gedanken und vorwitzigen Zweifel. Wenn ich daran glaube, wird es so sein.

Aber ich habe nicht nur Hühnergötter gesammelt. Im sandigen Bett liegen auch noch ein paar interessant geformte Sedimentgesteine. Glattgeschliffene Kiesel zu einem Turm aufgeschichtet. Ein hellgrauer auf einem glitzernden dunkelgrauen auf einem tiefschwarzen auf einem weißen Stein. Insgesamt herrschen die schwarzen, weißen und grauen Töne vor. Den gelben Feuerstein und die rosafarbenen und blauen Steine habe ich woanders aufbewahrt.

31. Oktober – Wieder daheim

Ein paar Tage war ich getrennt von meiner gewohnten Umgebung und kehre zurück in Vertrautheit, bin wieder daheim. Aber als Erstes nehme ich mir Zeit. Dann Ruhe. Dann Zweisamkeit.

Ich ordne und pflege. Lasse dann alles los und gönne mir noch mehr Zeit.
Der Rhythmus des Meeres pulsiert noch in meinem Blut und lässt mich das Staccato der täglichen Hektik noch ein paar köstliche Tage ignorieren.

Vielleicht für immer.

30. Oktober – Ostsee-Elfchen

Ostsee-Elfchen

Wind
Fegt um
Das Haus. Sicher
Behütet es unseren Schlaf.
Geborgenheit!

Kuscheln
In warme
Kissen und sägen,
was Marilu halten kann:
Damp

Vier
Lachende Schwestern
Stehen am Strand
Und tanzen im Sonnenaufgang:
Magie!

Löcher
Suchen am
Strand mit Stein
Drumherum für Marions Mobile:
Hühnergötter!

28. Oktober – Schwanenpantomime

Schwanenpantomime. Schwäne machen es sich hier an der Ostsee gerne in Strandnähe gemütlich. Im flachen Wasser treiben sie dahin und gründeln. Mit einem entschlossenen Zurückwerfen ihres Kopfes lassen sie ihre Ernte den Schlund hinabrollen.

Von April bis September ist dieser Teil des Strandes für Spaziergänger gesperrt und allein den brütenden Vögeln vorbehalten. Nun im Oktober scheinen die Brutgeschäfte erledigt und wir Touristen dürfen auch hier im hellen Sand am Rand des Meeres balancieren.

Das Rauschen der See scheint mich von den übrigen Spaziergängern zu entfernen und ganz der Beobachtung der Natur zu öffnen. Ein junger Schwan, dick und mächtig aber immer noch in graues Gefieder gekleidet, schwimmt nahe am Ufer. Nicht weit von ihm entfernt ein etwa gleichgroßer, weißer Schwan. Immer wieder ins salzige Wasser abtauchend. Als ich mich dem grauen Schwan langsam aber unaufhaltsam nähere, denke ich nach über die Geschichte vom hässlichen Entlein. Ich frage mich, ob dieser minderjährige Schwan nicht recht spät dran sei, ob Schwäne nicht auch in den Süden ziehen.

Dabei beobachtete ich den Grauen, der ein wenig gelangweilt im Wasser entlang dümpelt, als plötzlich der weiße Schwan durch das Heben seines orangefarbenen Beines aus dem Wasser meine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Er streckt es nach hinten aus, als mache er Stretching. Dann wendet er sich ganz mir zu und entfaltet für einen kurzen Augenblick seine Schwingen, breitet sie aus und streckt mir fast spielerisch in Zeitlupe den Hals entgegen. Eine Drohung nur und ich verstehe sofort.

„Wag es nicht meinem Kinde zu nahe zu kommen, sonst bekommst du es mit mir zu tun.“ Respektvoll entferne ich mich mit zügigen Schritten. Ohne es zu beabsichtigen, habe ich eine Grenze überschritten und bin mit einer wohlwollenden Ermahnung davongekommen.

27. Oktober – Das Meer rauscht

Das Meer rauscht und plätschert und perlt und sprüht und tanzt seinen ganz eigenen Tanz mit dem Wind und der Kraft der Gezeiten. Weit fort am Horizont ziehen große Tanker vorbei wie kleine rote Spielzeuge. Fast kann ich sie mit der Hand greifen. Möwen schreien. Salzige Luft legt sich auf meine Haut. Der beständige Grundton des Meeres trennt mich von allen anderen und zieht mich unausweichlich in den Bann der See.

Trotz der Kälte muss ich wenigstens meine Hand das Wasser berühren lassen. Und die See brandet auf, umspült meine Finger, benetzt meinen Handrücken. In ewigem Geben und Nehmen zieht sie hinab und speit wieder aus. Hineinstürzen mag ich mich und mich vereinen, versinken in der kühlen Tiefe. Die Geborgenheit lockt mich. Nur mein Verstand sagt mir, wie unpraktisch es sei, bei einer Lufttemperatur um 10 Grad Celsius sich ins Meer zu stürzen. Ohne Badekleidung, ohne Handtuch, so völlig besinnungslos.

Schade. Vielleicht lüftete ich sämtliche Geheimnisse der Welt, wenn ich nicht täte, was praktisch, oder nicht lasse, was unnötig erscheinen mag.

26. Oktober – Nach langer Fahrt

Nach langer Fahrt ankommen, fünf Tage liegen jetzt vor uns. Tage voller Möglichkeiten. Tage voller Geheimnisse. Tage voller Begegnungen.

Jede von uns ergreift auf ihre Weise Besitz von dem Raum, den wir in den nächsten Tagen teilen werden. Die Betten werden ausgelost. Die Kleidung und wichtigen Besitztümer wohl verstaut. Die Schreibkladden, die Stifte, die Zeitschriften, Scheren und Kleber, um Collagen herzustellen, bereitgelegt. Pläne werden geschmiedet. Und beschlossen, sich einfach nicht daran zu halten, wenn „gerade etwas Anderes dran ist“.

Seltsame Einigkeit und Achtsamkeit herrscht zwischen uns. Mit Respekt und Liebe begegnen wir einander. So entfalten sich zwischen uns Flügel, die uns zum Himmel tragen. Gespinste, die alte Trauer umweben und in Leichtigkeit wandeln. Fünf unendliche Tage liegen vor uns und alles ist möglich.

25. Oktober – Ausruhen

„Wie, ich höre immer ausruhen, Pause machen! Was sind denn das für Töne? Willst du denn gar nicht fertig werden?“

Kai schaut Ludmilla herausfordernd an. Er lächelt, aber seinen Augen sieht Ludmilla an, dass er es überhaupt nicht lustig findet. Aber Ludmilla brauch jetzt einfach mal eine Pause.

Seit Wochen arbeiten die beiden an der Ausstellung. Ständig dreht sich alles nur um die Skulpturen, wo was stehen soll, wie das Licht fällt, was auf den Karten steht. Ludmilla kann es nicht mehr hören und nicht mehr sehen. Vor allem wird es nicht besser nur immer chaotischer und schlechter.

In solchen Augenblicken, daran erinnert sich Ludmilla genau, hat ihre Großmutter immer gesagt: „Mädchen, da hilft nur Pause machen, du brauchst Abstand, lass dir den Kopf freiblasen!“ Und genau das wird Ludmilla jetzt tun. Soll doch Kai im Dreieck springen.

24. Oktober – Nacht

Nacht. Tiefe Schwärze breitet sich aus, dringt durch das Fenster ein, sickert durch der Tür durch. Nur mühsam erhellt die trübe Lampe meinen Schreibtisch, taucht meine schrumpfende Welt in gelblich fahles Licht. Es ist so still, dass jedes Geräusch einem Crescendo gleichkommt. So wage ich kaum, zu atmen, streichele nur sanft die Tasten. Sehne mich nach flüsterleisem Anschlag und ruhigem Fluss meiner Gedanken. Rüde unterbrochen werden sie vom Hämmern meiner Finger. Nacht und Kälte. Tropft herein. Wabert um mich. So fern der Tag mit strahlendem Sonnenschein und vollen Klängen.

23. Oktober – Karl zieht aus

Karl wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die letzte Kiste war endlich im Umzugswagen verstaut. Er musste ein wenig drücken, um die Türen des Transporters zu schließen.

Irmgard reichte ihm eine Flasche Wasser. Ein Bier wäre ihm lieber gewesen. Aber er musste ja noch fahren.

„Das war’s dann“.

Irmgard trat von einem Fuß auf den andern. Karl fragte sich, ob ihr nur die Situation unangenehm war oder sie ihn am liebsten schnell loswerden wollte. Warum überhaupt und schon wieder verabschieden. Schließlich hatte er nur noch seinen Krempel abgeholt. Ausgezogen war er vor mehr als sechs Wochen. Rausgeworfen worden traf es wohl eher. Aber er machte Irmgard keinen Vorwurf. Eigentlich hatten sie sowieso nie zusammen gepasst. Dafür waren 16 Jahre eine lange Zeit, die sie miteinander ausgehalten hatten.

„Ja“, er räusperte sich, „dann mach’s mal gut!“

„Du auch“, erwiderte Irmgard mit kratziger Stimme.

Jetzt glitzerten schon wieder Tränen in ihren Augen. Versteh einer die Frauen! Erst die Beziehung Knall auf Fall beenden und danach ewig rumheulen. Karl schraubte die Flasche zu und reichte sie ihr. Dabei ließ er seinen Blick über die Hofeinfahrt flirren. Alles, bloß jetzt nicht Irmgard anschauen. Er streckte ihr die Hand hin und wagte immer noch nicht, ihr ins Gesicht zu sehen.

Als er dann endlich im Auto saß und losfuhr, drehte er die Anlage bis hinten auf und weinte den ganzen weiten Weg bis zu seiner neuen Wohnung.