17. November – Gregor

Gregor war ein wahres Glückskind. Er tat immer nur das, was er wollte, und niemals das, was er musste. Am frühen Morgen schrillte sein Wecker. Kurz nach fünf. Da sprang Gregor aus dem Bett und dankte dem Wecker für seine zuverlässigen Dienste.

Oh wie schön, in der Küche brodelte bereits die Kaffeemaschine. Die hatte Gregor mit einer Zeitschaltuhr versehen. So stieg ihm der Geruch von frisch gebrühtem Kaffee in die Nase, wenn er sich auf den Weg ins Bad machte.

Dort angekommen strahlte er sich selbst im Spiegel an.

„Guten Morgen“, rief er und dann rasierte er sich. Nach einer kurzen heißkalten Dusche rieb er sich trocken, zog sich an und ließ sich in der Küche sein Frühstück schmecken. Danach nahm er seine Mappe, schlüpfte in seine Jacke und verließ die Wohnung.

Frau Meier von gegenüber ging gerade mit ihrem Hund Max Gassi. Sie schaute verdrießlich, grüßte Gregor aber, als er ihr fröhlich einen schönen Tag wünschte. Später an der Arbeit addierte Gregor lange Zahlenkolonnen, füllte Formulare aus und erstellte einige Gutachten.
Seine Kollegen stöhnten und meckerten. Das Wochenende war noch so fern, die Arbeit so langweilig, das Wetter zu heiß oder zu kalt, zu trocken oder zu nass. Der Ehepartner war blöd, die Kinder dumm und sie selbst in einer schrecklichen sie niemals loslassenden Tretmühle gefangen.

„Och“, sagte Gregor da, „mir macht die Arbeit Spaß.“

Da schauten ihn alle komisch an, verdrehten die Augen. Der Priepke zeigte ihm hinter seinen Rücken einen Vogel.

„Warum sollte ich sie sonst machen?“, fragte Gregor entrüstet.

16. November – Das Leben

Das Leben ist kein Ponyhof und auch kein Vergnügungsdampfer. Nein, nein, es ist hart, aber ungerecht. Das Leben ist Mühsal, ein Tal der Tränen. Leben ist Leiden. Wem nützt eigentlich diese Propaganda?

Gut, Religionen oder Philosophien brauchen natürlich solche Beschreibungen des Lebens. Schließlich bringen ja gerade diese Aspekte des Lebens – die Mühsal, das Leiden – Menschen dazu bei Ihnen nach Trost, nach Sinn, nach Hilfe zu fragen. Aber ist deshalb Leben gleich Leiden?

Warum eigentlich nicht: Leben ist Freude?

Die mannigfachen Arten der Freude.

Die Freude, seine Mutter zu lieben.

Die Freude gehalten und genährt zu werden.

Die Freude an der Beständigkeit und Verlässlichkeit der kosmischen Kräfte.

Die Freude an den Abenteuern des Lebens.

Die Freude an der Lust.

Die Freude am Aufhören.

Die Freude zu denken, zu gehen, zu tanzen, zu lernen, zu beten, zu sprechen, zu singen, zu lieben, zu wirken.

Die Freude selbst zu leben und Lebendiges um sich herum zu erleben.

Die Freude am Erschaffen.

Die Freude sogar am Zerstören.

Kann ich nicht lernen, Leiden als einen Aspekt des Lebens zu sehen, wenn ich sage:

Leben ist Freude.

Leben ist Strömen.

Leben ist Werden und Vergehen.

Leben ist steter Wandel.

Die wahre Natur des Menschen ist schillernd, wie der Flügel eines Skarabäus im zarten Morgenlicht.

15. November – Rufe der Kraniche

Aufgeregte Schreie dringen durch das gekippte Fenster. Zuerst traue ich meinen Ohren kaum. Doch dann kommen sie immer näher die lauten Rufe der Kraniche.
Hoch oben am Himmel ziehen sie in keilförmigen Formationen dahin. Ans Meer. Tränen laufen mir die Wangen hinab, während ich auf dem Balkon stehe und den Kranichen hinterher schaue.

Eine Runde drehen sie jetzt. Vielleicht warten sie noch auf ein paar Nachzügler oder überlegen, ob es einen Landeplatz gibt. Aber hier in der Nähe gibt es keinen See, noch nicht einmal einen Teich, der ihnen gefallen könnte. Also ziehen sie weiter. Ein großes V, ein kleines V und rufen unablässig.

Wenn ich sie nur verstehen könnte. Wenn ich nur wüsste, was sie rufen. Manchmal kommt es mir so vor, als müsste ich nur noch ein klein bisschen genauer zuhören. Dabei die Worte vergessen, all das, was ich zu wissen glaube, beiseitelassen und plötzlich könnte ich Kranichesisch und Spinnisch und vielleicht sogar Bäumisch.

Dabei fällt es mir schon schwer genug meinen Kater zu verstehen. Und er macht es mir leicht, redet überdeutlich mit mir wie mit einer Schwachsinnigen. Katzen sind ja berühmt für ihre Geduld und Toleranz.

14. November – Wertesalat

Guten Tag, ich bin Ihre Servicekraft für den heutigen Abend. Herzlich willkommen in unserem Etablissement. Als Tagesgericht empfehle ich Ihnen Sein mit einer Prise Bewusstsein an Wertesalat mit einer Vinaigrette aus Selbstgerechtigkeit und Stolz.

Danach eine naturbelassene, gute Tat. Sie werden sich unerhört besser fühlen. Es tut so gut, den Müll zu trennen und gegen Atomkraftwerke, Flughafenausbau und die Unterdrückung der Frau in der islamischen Welt aufzustehen.

Es ist noch viel wunderbarer, jeden Tag online zu bestellen, auch zum Dosenöffnen und zum Krawattebinden noch einen elektrischen Helfer zu besitzen, mindestens einmal im Jahr in Urlaub zu fliegen und den Frauen im Betrieb satte 20 % weniger zu bezahlen als den männlichen Kollegen und sich trotzdem unerhört besser zu fühlen.

Eine kleine, gute Tat zum Dessert reicht aus. Ach was, ein guter Gedanke. Und den müssen Sie noch nicht einmal selbst denken. Das erledigen wir gerne für Sie. Und jetzt genießen Sie Ihren Aufenthalt.

Als Vorspeise servieren wir Ihnen die sieben Todsünden Ihrer Nachbarn und Konkurrenten, damit Sie was zu lachen haben.

12. November – Ethik im Alltag

Ethik im Alltag. Eine übergewichtige Dame betritt ein Ladengeschäft. Ein kleines, etwa sieben Jahre altes Mädchen läuft kurz vor ihr in den Gang zwischen den Produktregalen. Dort stellt sich das Mädchen so neben seine Mutter, dass für die Frau kein durchkommen mehr ist.

Die Mutter nimmt das Mädchen am Arm und sagt: „Geh mal zur Seite“.

Als die Frau vorbeigegangen ist, flüstert das Mädchen laut hörbar seiner Mutter zu:
„Die ist aber dick. Richtig fett.“

Die Mutter macht „Psssschht!“ und läuft rot an.

Die dicke Frau tut, als höre sie nichts und geht einfach weiter. Kaum ist sie um die nächste Ecke verschwunden, schnappt sich die Mutter das Mädchen und zischt:
„Sowas sagt man nicht, verstanden?“

Das Mädchen schmollt. „Die war aber wirklich dick. Ehrlich.“

„Aber man sagt nichts Negatives über fremde Leute, wenn sie dich hören können.“

„Achso, später darf ich das sagen? Im Auto?“

Die Mutter druckst herum. „Nein, sowas sagt man gar nicht.“

„Aber warum? Du sagst doch immer ich soll die Wahrheit sagen.“

„Natürlich, natürlich“, die Mama beginnt zu schwitzen, „aber zwischen Wahrheit und Lügen liegt immer noch das Schweigen. Einfach mal den Mund halten. Das gehört sich so. Oder findest du das toll, wenn dir in der Schule wer hinterherruft: ‚Die hat aber blöde Klamotten an‘?“

Das Mädchen überlegt eine Weile.

„Ich verstehs trotzdem nicht. Wenn die doch fett war, warum soll ich das nicht sagen?“

„Weil…, weil ich dir das sage. Und jetzt Schluß!“

Die Mutter nimmt das Mädchen entschlossen an der Hand und führt sie mit sich zur Kasse.

11. November – Ein fünfblättriges Kleeblatt

Habt Ihr schon einmal ein fünfblättriges Kleeblatt gefunden? Nun ja, ich schon. Vor einer Woche erst habe ich mein erstes Vierblättriges entdeckt und ausgerupft. Natürlich zu Hause dann gleich ein Beweisfoto geschossen.

Als ich das dann meinen Freundinnen zeigte, hat mich eine meiner lieben Freundinnen doch tatsächlich verunsichert. Sie fragte mich, ob vielleicht auf dem Feld alle Kleeblätter vierblättrig gewesen wären.

Da ich ja bisher noch niemals ein vierblättriges Kleeblatt gefunden hatte und dort praktisch auf den ersten Blick gleich eines entdeckt hatte, kam mir der Gedanke überhaupt nicht abwegig vor. Und glaubt mir, ich habe ihn meiner Kindheit und Jugend verzweifelt nach den seltenen Kleeblättern Ausschau gehalten. Also konnte es doch gut sein, dass irgendein ähnlich verzweifelter nun vierblättrige Kleeblätter züchtet.

Heute bin ich noch einmal auf meinem Spaziergang an dem kleinen Kleefeld vorbeigekommen. Und nein, es handelt sich wirklich um meistenteils völlig herkömmlichen Klee mit drei Blättern. Bis auf ein Kleeblatt, das war fünfblättrig. Ich habe es mitgenommen. Und natürlich gleich ein Beweisfoto geschossen.
Jetzt frage ich mich nur, was hat denn nun ein fünfblättriges Kleeblatt zu bedeuten? Noch mehr Glück? Der verwendete Dünger sollte mal von einer staatlichen Stelle auf genverändernde Substanzen untersucht werden? Oder ganz etwas anderes? Kennt sich jemand damit aus?

Jedenfalls habe ich erst einmal beschlossen, das Kleeblatt als ein Zeichen dafür zu sehen, dass ich bereits im reinsten Glückszustand lebe. Worüber kann ich mich beschweren – außer so den üblichen Kram, der bei genauer Betrachtung gar nicht so wichtig ist. Dem seltenen Kleeblatt habe ich erst einmal Wasser gegeben, es steht in einer Vase auf meinem Schreibtisch. Es leidet sicherlich schon genug darunter, dass ich es einfach so ausgerupft habe. Ihm hat seine Besonderheit jedenfalls kein Glück gebracht.

10. November – Der Sturmteufel

Es war einmal ein Sturmteufel, der hasste seinen Beruf. Immer sollte er den Wind anstacheln, nur ja ordentlich heftig zu wehen, die Gräser zu peitschen, die Bäume zu krümmen und die Häuser zum Wackeln zu bringen.

Dann blähte sich der Wind und wütete und stürmte. Dachziegel fielen herunter und zersprangen in tausend Stücke. Äste krachten auf die Straße und trafen manchmal sogar ein Auto oder einen Menschen. Und die Blätter flogen besonders in der Zeit der Herbststürme wehr- und hilflos durch die Lüfte davon, sammelten sich in den Ecken, wo sie raschelnd liegenblieben.

Der Sturmteufel aber hatte das gründlich satt. Stets musste er seine Zeit im Sturm verbringen, den er ständig herbeizureden, zu flüstern, anzustacheln hatte. Dabei sehnte er sich so sehr nach den linden Lüften des Frühlings, nach den warmen Sommerwinden, die sanft über die Felder strichen und die Bäume zum Singen brachten. Ach und er sehnte sich noch mehr nach Ruhe, nach Stille. Denn die fand er niemals. Immer umgab ihn das Tosen des Sturms.

Da beschloss er, seinen Job hinzuschmeißen. Sturmteufel hatten auch ein Recht auf freie Berufswahl und auf eine eigene Meinung sowieso. Wer wollte ihn zwingen, seiner Bestimmung nachzukommen. Wenn das überhaupt seine Bestimmung war. Nur weil er als Sturmteufel geboren war, hieß das doch noch lange nicht, dass er in seinem tiefsten Herzen nicht doch ein Lüftchenflüsterer war oder ein Wasserkräusler oder ein Blumenleuchter. Ja, solche Geister gibt es nämlich alle.
Als der Sturmteufel nun seinen Posten verließ, hörte der Sturm urplötzlich auf. Die Wolken lösten sich und die Sonne lugte hervor. Ein paar Tiere wagten sich vorsichtig hervor und blickten sich staunend um. Sie raunten sich zu: „Der Sturmteufel ist fort.“ Viele freuten sich und lachten, aber die Eule und der Iltis wiegten bedächtig die Köpfe. Sie hatten Erfahrung. Sowas ging doch niemals gut aus.

Der Sturmteufel aber tauschte seinen Aufgabenbereich mit einem Wasserkräusler, der diesen bedächtigen und nach Genauigkeit verlangenden Beruf ebenfalls gründlich satthatte. So fand letztendlich doch alles wieder seine Ordnung, und der Iltis und die Eule konnten aufhören, mit dem Kopf zu schütteln.

9. November – Administratorrechte

Bist du sicher, dass du über die Administratorrechte für dein Leben verfügst? Oder hat die jemand anders? Vielleicht Gott oder die kosmische Kraft oder womöglich ein anderer Mensch? Was bleibt dir dann übrig als die neue Software nicht zu installieren und irgendwie mit dem klar zu kommen, was du bereits auf deiner Festplatte laufen hast.

Aber vielleicht ist es ja auch so, dass du tatsächlich und wirklich komplette Rechte über dein Leben besitzt und es allein an dir liegt zu entscheiden, ob du dein WLAN offen oder gesichert betreibst, ob du einfach alles Mögliche runterlädst und installierst, ob du andere einlädst mit dir in deinem Netzwerk zu spinnen oder doch lieber autonom gänzlich ohne Anbindung an die Datenautobahnen dein Dasein genießt und aus dir selbst schöpft.

Aber auch mit vollen Administratorrechten unterliegst du Einschränkungen, die dir die Hardware auferlegt. Und wenn du die Gebrauchsanweisung nicht gelesen hast, kann es zu üblen Zwischenfällen kommen. Überhaupt sind die meisten Probleme im Leben wie auch am Computer auf Anwenderfehler zurückzuführen. Nicht alle sind zu reparieren. Trotzdem wird dir oft genug nichts anderes übrig bleiben, als einfach mit OK zu bestätigen, obwohl du rein gar nichts verstanden hast, worum es überhaupt gerade geht. Weil die Alternative nur die völlige Blockade wäre.

Eben fast wie im richtigen Leben, aber nur fast.

8. November – Dreiheit

Dreiheit: Ich bin Körper. Mein Schweiß dringt aus jeder Pore. Mein Blut pulsiert. Wenn ihr mich lasst, dann funktioniere ich wie ein Uhrwerk. Nur bin ich viel wundersamer als das. Ein Wunder der Natur. Ein Wunder an Kollaboration. Jede Zelle in mir arbeitet mit den anderen auf erstaunlichste Weise zusammen. Ich überlebe in Kälte und Hitze. Ich ertrage Schmerz und Leid. Ich springe in die Luft aus höchster Freude. Ich schütze euch immer und ewig, solange ich lebe. Ich bekomme Beulen von eurer Unachtsamkeit. Ich bringe euch den großen Genuss von Lust und den großen Verdruss mit der Lust auch. Ich bin ein Abbild der Seele und die Verschmelzung zweier fremder DNA-Stränge zu einem. Mein Bauplan steckt in jeder meiner lebendigen Zellen und ich bin einzigartig, wandlungsfähig, eigensinnig. Ich bin Körper.

Ich bin Geist. Mein Sitz ist in den Außenregionen, den Spitzen, den Höhen. Mein Werkzeug ist das Wort, meine liebste Tugend die Ordnung. Am liebsten habe ich alles hübsch kategorisiert, erklärt, abgeheftet. Ich mag keine Überraschungen. Manchmal schwebe ich in hohen Sphären. Ich versuche zu verstehen, ich versuche, logische Schlüsse zu ziehen aus den Informationen, die ich hereinbekomme. Manchmal ist das schwierig für mich. Die ordentlich abgelegten Anweisungen stimmen nicht immer mit dem aktuellen Input überein. Was verwerfe ich dann? Die neue Erfahrung oder die überlieferte Tradition? Das Ist oder das Soll? Dürfen Widersprüche unaufgelöst nebeneinander existieren? Ich bin bemüht gut dazustehen. Meine Ordnung muss stimmen. Ich kann mir keine Fehler erlauben. Ich bin Geist. Ich bin Logos.

Ich bin Seele. Unwandelbare Wandlung. Meinen Sitz habe ich tief in den Wurzeln von Körper und Geist: im Unterleib, im Bauch, im Herzen, im Kopf. Ich wundere mich über nichts und staune ständig. Manchmal trauere ich. So lange bin ich hier und der Schmerz bleibt immerdar. Tränen fließen. Manchmal freue ich mich. So lange bin ich hier und der Quell der Freude versiegt nie. Lachen perlt aus mir. Es sind die kleinen Zeichen mit denen ich zu euch spreche, lieber Körper, lieber Geist. Ihr beide wärt ohne mich vielleicht ganz zufrieden aber doch nicht komplett. Ihr braucht mich, um den ewigen Streit zu schlichten. Ihr braucht mich, um heil zu werden. Ich bin Seele.

7. November – Bruder

Mein großer Bruder ist überhaupt nicht wie der oftmals bemühte Klischee-Bruder, der gerufen wird, um die bösen Kerle zu verhauen.

Mein Bruder hat sich nämlich noch nie gerne geprügelt. Außerdem war er auch nicht der angeberische Machertyp, eher der feinsinnige Künstler.

Anfangs hatte er überhaupt wenig Lust, sich mit der kleinen Schwester zu beschäftigen. Schließlich wollte die immer dabei sein. Ärgerte die Freunde, die er zu Besuch hatte, und war überhaupt eine ganz schöne Nervensäge.

Dabei war das für mich, die kleine Schwester, doch alles nur Spaß und Spiel und manchmal Lust am Provozieren. Trotzdem haben wir uns bemerkenswert wenig gestritten. Als ich langsam älter wurde, hat mich mein Bruder sogar manchmal mitgenommen zu Konzerten. Eine seiner Ex-Freundinnen wurde eine gute Freundin von mir.

Seit er vor langer Zeit ein paar Jahre vor mir aus unserem Elternhaus ausgezogen ist, sehen wir uns vielleicht ein oder zwei Mal pro Jahr, telefonieren ab und zu. Aber das gute Gefühl, einen großen Bruder zu haben, das bleibt tief in meinem Herzen – auch wenn er sich niemals für mich prügeln wollte.

6. November – Tipi

Tipi ist ein kleiner Hund. Er sitzt in Martins Bett und bewacht seinen Schlaf. Seine Knopfaugen bleiben in der Dunkelheit starr auf Martin gerichtet. Kein Blinzeln, kein Gähnen, kein mit den Augenrollen. Nur eiserne Konzentration.

Martin wälzt sich herum und stößt jammernde Laute aus. Tipi zuckt mit keiner Wimper. Stoisch sitzt er da und wacht. Er fragt sich auch nicht, was Martin wohl träumen mag. Tipi ist doch nur ein Stoffhund. Er denkt überhaupt nicht. Und wenn Martin schläft, da verlässt ihn jegliche Lebendigkeit. Seine Stimme, seine Beweglichkeit schlafen mit Martin die ganze Nacht.

Erst am nächsten Morgen, wenn Martin ihn mit heller Stimme begrüßt und in die Arme schließt, da wird Tipi wieder zum besten Freund des kleinen Jungen.

5. November – „Nichts geht mehr“

„Nichts geht mehr“, sagt der Croupier und ich beobachte die gierigen, hoffnungsfrohen, angespannten oder verzweifelten Gesichter. Die verbliebenen Jetons werden in den Händen hin und her gedreht. Die Augen folgen der Kugel, die nun springt und tanzt, bevor sie zur Ruhe kommt, langsam auf eine der Ziffern rollt und liegenbleibt.

„Zero“ sagt der Croupier. Dann schiebt er in unbeteiligter Geschäftigkeit die Jetons von hier nach da, kassiert ein, zahlt aus. Die Spieler um den Tisch scheinen sich allesamt auszukennen. Benötigen keine Erklärung, keine Anweisung. Nur einer entspannt sich, den Übrigen ist die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben.

Doch nur ein Enttäuschter sieht wirklich blass aus, angeschlagen, fast vernichtet. Vielleicht fällt ihm gerade ein, welche Rechnungen er nun noch nicht bezahlen kann – außer denen, die er bereits nicht bezahlt hat. Die Sucht treibt ihn. Die Sucht nach vergeblicher Hoffnung. Die Sucht nach dem Traum vom schnellen Geld. Die Sucht nach dem Unglück. Die Sucht nach dem Drama.

Jeder kann langweilig arbeiten gehen und doch nicht genug auf Tasche haben. Aber in Größe untergehen, das kann nicht jeder. So blass, so weiß um die Nase. Die Augen glimmen tiefschwarz. Er setzt seine letzten Jetons. Ich muss gehen. Ich kann mir den Ausgang nicht ansehen.

Selbst wenn er jetzt gewinnt, so zögert das seinen endgültigen Untergang nur kurz hinaus. Nein, treibt ihn noch weiter hinein. Vorbei. Eine sehr kostspielige Methode dem Leben mit seinen Höhen und Tiefen, mit seinen Zufällen und Glücksmomenten aus dem Wege zu gehen. Roulette ist sicher: Das Gewinnen ist nur eine Illusion, der Verlust garantiert.