24. Januar – Der Birkenhain

Die Sonne schien durch die weit auseinanderstehenden Birkenstämme. Ein kleiner Bach plätscherte leise und stetig. Kein Lufthauch wehte. Ein Ameisenhügel lag zerstört im hellen Sonnenlicht.

Ein paar Kinder hatten mit langen Stöcken darin gewühlt und den Erdhügel auseinandergerissen. Die Ameisen rannten aufgeregt umher.

Es war still.

Die Sonne schien auf den Birkenhain, auf den Bach, auf den Hügel und die Ameisen. Und es regte sich kein Hauch.

23. Januar – Michaela Köhler – das warme Herz

Michaela Köhler schloss leise die Tür und bat die Eltern der kleinen Nicole, Platz zu nehmen. Die Mutter schaute sie mit vertrauensvollen Augen an. Michaela setzte sich und holte tief Luft.

„Leider habe ich keine guten Nachrichten für Sie“, begann sie, „der Tumor wächst wieder und hat bereits Metastasen gebildet.“

Die Mutter schluchzte, der Vater umklammerte die Hand seiner Frau. Dann fragte er mit belegter Stimme.

„Und was jetzt?“

Michaela schüttelte unmerklich mit dem Kopf.

„Ich kann Ihre Tochter leider nicht mehr gesund machen. Alle Therapiemaßnahmen sind gescheitert. Wir können nur noch die Schmerzen lindern. Und Sie, soweit es möglich ist, darin unterstützen, Ihre Tochter gehen zu lassen.“

Michaela konnte die Mutter kaum ansehen. Wenn sie nur bessere Nachrichten hätte, wenn sie nur jedes einzelne Kind heilen könnte, wenn sie nur den Schmerz nicht immer und immer wieder fühlen müsste. Ihr Herz zog sich zusammen und sie wünschte sich mindestens zum tausendsten Mal, dass sie so kaltschnäuzig sein könnte wie ihr Chef.

Der war routiniert und dabei sehr freundlich zu den Patienten und deren Angehörige, aber er fühlte niemals mit. Die Schicksale prallten an ihm ab. Und Michaela hatte er unprofessionell genannt, weil sie nur allzu gut nachempfinden konnte, was in den Eltern vorging und wie sehr die Kinder litten, die endlich gehen wollten und nicht durften, weil die Eltern es nicht aushielten, ihr Kind sterben zu sehen. Und so griffen die Eltern nach jedem Strohhalm und drängten darauf, jede Therapie auszuprobieren, die es gab.

Das war richtig so, natürlich. Aber manchmal, wenn es keine große Chance zur Heilung gab, da war jeder Patient irgendwann austherapiert. Es gab nichts mehr, was den Tod verhindern könnte. Vielleicht konnten sie das Leiden und die Qualen noch etwas verlängern. Aber das war es auch schon.

War es da nicht besser, wenn sie den Eltern dabei half loszulassen. Wenn Sie den Eltern dabei half, sich und ihrem Kind noch eine gute Zeit des Abschieds zu ermöglichen.
Natürlich machte das Angst, natürlich erforderte das sehr viel Kraft von den Eltern und auch von Michaela.

„Ich habe mit Nicole gesprochen. Sie möchte so gerne noch einmal auf ihrem Pony reiten. Und sie möchte gerne nach Hause, um Ihnen allen so nah wie möglich zu sein.“
Beide Eltern weinten jetzt.

„Ihre Tochter ist sehr tapfer.“

Michaela kämpfte ebenfalls mit den Tränen.

„Wir können wirklich nichts mehr tun?“, fragte die Mutter. „Ich habe von einer Therapie gelesen, vielleicht…“ Sie verstummte.

„Lass uns zu Nicole gehen. Sie braucht uns“, sagte der Vater.

Die beiden verabschiedeten sich.

Auf dem Regal stand ein großes Modell vom menschlichen Herzen, aus kaltem, hartem Kunststoff.

Michaela nahm es in die Hand. Es war schwer. Sie strich mit dem Finger über die glatte, künstliche Oberfläche. In dem Augenblick wusste sie, dass sie lieber ihr warmes Herz im Körper hatte, auch wenn es manchmal schmerzte.

22. Januar – Ein grüner Frosch

Es war einmal ein grüner Frosch, der saß in einem Gartenteich und quakte ohne Unterlass. Das Grundstück, auf dem sich der Gartenteich befand, gehörte einer alten Frau. Wenn sie sich abends schlafen legte, hörte sie bei geöffnetem Schlafzimmerfenster den Frosch quaken. Dann zog sie sich das Kissen über den Kopf und schlief schließlich ein.

Ihre Nachbarn waren nicht so unempfindlich und beschwerten sich bei der alten Frau, dass der Frosch so laut quakte.

Aber die Frau schüttelte nur den Kopf und sagte: „Sagt mir Bescheid, wenn Ihr gelernt habt, den Fröschen zu befehlen. Ich kann es nicht.“

Da wurden die Nachbarn böse und zogen vor Gericht. Dem Richter wurde eine Messung vorgelegt. Das Quaken des Frosches erreichte einen Lärmpegel, der als Belästigung galt. Also wurde der Frau mitgeteilt, dass ihr Frosch des Nachts nicht zu quaken habe, sonst würde ihr ein Ordnungsgeld auferlegt.

Die Frau aber sagte zum Richter: „Herr Richter, sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie gelernt haben, den Fröschen zu befehlen. Ich kann es nicht.“

Der Richter brummte der Frau wegen Missachtung des Gerichts drei Tagessätze auf.
Die alte Frau zuckte mit den Schultern und ging nach Hause. Der Frosch quakte und quakte.

Als es dunkel wurde, ging die Frau zu ihrem Gartenteich und sprach: „Lieber Frosch, ich weiß nicht, ob Du mich verstehst. Aber ich weiß, dass ich Dir nichts befehlen kann, davon verstehe ich nichts. Trotzdem möchte ich Dir erzählen, dass meine Nachbarn sich beschwert haben, weil Du ohne Unterlass quakst. Und sie haben einen Richter beauftragt, mich zu verurteilen. Und im Urteil steht, dass ich bestraft werde, wenn Du weiterhin nachts quakst. Du würdest mir einen großen Gefallen tun, wenn Du nachts aufhörst mit Quaken.“

Solange die Frau sprach, war der Frosch still geblieben. Nun machte er noch ein einziges Mal „Quak“ und schwieg bis zum Morgen.

Die Frau bedankte sich sehr bei dem Frosch.

Zwei Tage später zog der Frosch um und quakte fortan aus dem Gartenteich der Nachbarn, die die Frau verklagt hatten.

Die alte Frau aber beschwerte sich nicht, sie zog nachts einfach ihr Kissen über den Kopf und schlief schließlich ein.

21. Januar – Der Drache

Der Drache war des Kampfes müde. Lange Zeit hatte er Feuer gespuckt und gewütet, Bäume ausgerissen, Felsen gebrochen und auf Häuser fallen lassen. Er hatte Menschen gejagt und Menschen genagt, aber die schmeckten nicht besonders.

Ab und zu war ein großer Held vorbeigekommen, der ihn töten wollte. Die Lanzen und Schilde dieser Männer hatte er vor dem Eingang seiner Höhle in den Boden gerammt. Zur Abschreckung.

Tatsächlich, es hatte sich seit mindestens 50 Jahren kein Mensch mehr zu seiner Höhle verirrt. Obwohl er noch regelmäßig alle Jahrzehnte ausflog und ab und zu um der alten Zeiten willen auch ein paar Steine auf die Häuser fallen ließ und ein bisschen zündelte, schienen sich die Menschen damit abgefunden zu haben.

Zwar reckten sie noch die Fäuste in seine Richtung. Aber dann kamen sie schon mit Löschwagen angerollt und beseitigten emsig die Schäden, die der Drache angerichtet hatte. Und es machte dem Drachen einfach keinen rechten Spaß mehr, das zu tun, was Drachen gewöhnlich tun. Also schlief er jetzt meistens unter dem Berg und träumte.

Eines Tages wurde er davon geweckt, dass ihn irgendetwas ständig in die Schulter pikste. Er öffnete ein Auge halb und sah ein Mädchen vor sich stehen. Er seufzte. Hatten sie ihm schon wieder so eine lästige Jungfrau geschickt? Er ließ das Lid wieder nach unten klappen. Aber nein, überlegte der Drache, die Jungfrauen hatten sie ihm früher, lange, lange ist es her, draußen an den Felsen gekettet. Und die hatten geschrien und geschluchzt, aber niemals gepikst. Es pikste wieder.

„Hey, Du, Schlafmütze, wach auf!“, hörte er nun eine helle Stimme rufen. Also klappte er das Augenlid wieder hoch.

„Was willst Du?“, grollte es aus seinem tiefsten Innern.

„Ich komme von der Vereinigung ‚Schutz mythologischer Wesen international‘. Unsere Aufgabe ist es die mythologischen Wesen zu retten, die Drachen, die Einhörner, die Elfen, die Zwerge, die Werwölfe, die Vampire, die Nymphen, die Hausgeister, die olympischen Götter und was es sonst noch so alles gibt.“

Der Drache rümpfte die Nase, ein paar Rauchwölkchen quollen hervor. Er wusste nicht genau, was das Gerede bedeuten sollte, aber aus irgendeinem Grunde vermutete er, dass diese Frau noch lästiger sein würde als die Jungfrauen und die Helden zusammen. Ach, sie sollte ihn einfach schlafen lassen, er hatte gerade so schön davon geträumt, dass er einen ganzen Wald in Brand… Es pikste wieder. Jetzt reichte es aber, einen Drachen beim Schlafen zu stören, was für eine Unverfrorenheit. Nun öffnete er beide Augen und fixierte das kleine Menschlein vor sich böse.

„Was?“, blaffte er. „Ich komme von…“ fing die junge Frau wieder an.

„Interessiert mich nicht“, raunzte der Drache.

„Aber Du bist der letzte Drache, und wenn wir nicht dafür sorgen, dass Du…“

„Interessiert mich nicht! Lass mich schlafen!“ Er schloss die Augen. Mit einer schnellen Bewegung schlug er der jungen Frau mit seiner Kralle den Regenschirm aus der Hand, bevor sie wieder piksen konnte. Er öffnete die Augen noch einmal halb, hielt der Frau seine Kralle vor die Nase und sagte.

„Wag es nicht noch einmal her zu kommen, wag es nicht mich noch einmal mit Deinem Dingsda zu pieksen, wag es nicht mir helfen zu wollen. Ich bin ein Drache. Ich brauche keine Hilfe.“

Er spuckte ein bisschen Feuer, um seine Rede zu unterstreichen. Aber er bekam schon gar nicht mehr mit, wie die Frau seine Höhle verließ. Er träumte schon wieder und stieß wohlig grunzend ein paar Rauchwolken aus. Und wenn er nicht gestorben ist, schläft der Drache heute noch irgendwo unter dem Berg.

20. Januar – Die Trauerweide

Im Sommer spielten die Kinder verstecken unter den lang herabhängenden Zweigen der Trauerweide. Manchmal am Abend fanden sich Liebespaare unter ihrer Krone ein, um ungestört zu sein. Aber jetzt im Winter stand sie nackt und ungeschützt im Sturm, im Regen und im Schnee. Nur selten verirrte sich ein Mensch in ihre Nähe. Nur die Hunde kamen nach wie vor jeden Tag und hoben ihr Bein an ihrem Stamm.

Nicht dass es der Weide etwas ausmachte, dass jetzt im Winter die Säfte ruhten und auch ihre Umgebung ruhiger wurde. Jetzt war die Zeit, Kraft zu sammeln, für das Frühjahr, wenn die Blätter wieder austrieben und sie allmählich und stetig weiter wachsen würde und ein bisschen älter werden würde, wie jedes Jahr seitdem sie ein Sprössling gewesen war.

Irgendwann, das wusste die Weide, da würde sie morsch werden oder eine Krankheit würde sie befallen oder sie würde im Weg stehen und dann weit vor ihrer Zeit abgeholzt werden. Sie würden kommen mit Motorsägen und Äxten, sie würden sie kurz und klein machen und ihre Wurzeln ausbaggern wie bei den Platanen, die vorne am Wegesrand gestanden hatten.

Dann würde ihr Holz verbrannt werden und der Rauch würde in den Himmel getragen und weit oben würden die Rauchpartikel Wasser einfangen und eine Wolke bilden und später würde die Trauerweide mit dem Regen aus dieser Wolke wieder zu Boden stürzen. Und dort würde sie für irgendeine andere Pflanze kostbare Nahrung sein und so für immer im Kreislauf des Lebens eingebunden sein.

Nichts und niemand geht jemals verloren.

19. Januar – Texas

Karl war noch nie in Texas. Dabei hatte er sich als kleiner Junge bereits vorgenommen, irgendwann in Texas Öl zu fördern oder wenigsten Rinder zu weiden. Nur hatte das bis heute nicht geklappt. Stattdessen arbeitete er in der Bank am Schalter. Dort konnte er nicht einmal seinen geliebten Stetson tragen und auch seine Cowboystiefel wurden schief angeguckt. Sah ja auch blöd aus zum Anzug. Das wusste er selbst.

Jeden Tag träumte er vom Auswandern, schmiedete Pläne. Aber seine Frau wollte unbedingt in Deutschland bleiben, bei ihrer Familie. Die Kinder hatten ihre Freunde, die Schule. Ausbildung war wichtig. Sie sollten es schließlich zu etwas bringen. Bankkaufmann vielleicht oder Verwaltungsfachangestellte. Das war doch was Ordentliches, was mit Zukunft. Leider nicht mehr so gut bezahlt wie früher und ganz so sicher waren die Jobs auch nicht mehr.

Karl selbst war nur dank des Sozialplans noch immer Angestellter bei der Bank. Als Vater von drei Kindern konnten sie ihn nicht so einfach rauswerfen. Andere hatte es härter getroffen. Frau Schmitz als Ledige ohne Kinder hatte gehen müssen, dabei war sie viel besser qualifiziert als er. Er wusste gar nicht, was die jetzt machte. Im Grunde hatte sie es doch gut. Keine Verpflichtungen. Die konnte jetzt ungehindert aufbrechen zu neuen Ufern. Und er träumte immer noch – von Texas.

18. Januar – Schnipsel – In die Freiheit

Schnipsel, der Zwerghase saß in seinem Hasenstall und mümmelte vor sich hin. Solange die Kinder in der Schule waren, ging es ihm gut. Keiner schleppte ihn ständig herum, keiner zog ihm Puppenkleider an oder zwang ihn sogar dazu mit einer albernen Spielzeugtasche um den Bauch herumzuhoppeln. Nein, nein, das Leben war entschieden angenehmer und friedlicher, wenn er keines dieser lästigen Kinder zu Gesicht bekam.

Und am liebsten, am allerliebsten wäre er gänzlich verschwunden, würde verduften, sich in Luft auflösen. Aber wie sollte Schnipsel das gelingen? Schon lange brütete er über einem Ausbruchsplan. Und jetzt mal ehrlich, so schwer konnte das doch nicht sein. Ein Hasenstall war schließlich nicht Stammheim.

Trotzdem bisher war keiner seiner Pläne aufgegangen. Durchbuddeln ging nicht, der Boden des Hasenstalles war massiv. Gitterstäbe durchnagen ging auch nicht, die waren zu fest. Und die Tür bekam er auch nicht auf, obwohl er doch so genau aufgepasst hatte, wie die Kinder die Tür auf und zu machten. Aber er konnte sie einfach nicht öffnen.

Schnipsel hörte die Türklingel. Einen Augenblick später trampelten die Kinder herein, warfen ihre Schultaschen in die Ecke und stürzten sich auf ihn. Ein Glück, dass der Vater zum Mittagessen rief. Galgenfrist.

Doch dann bemerkte Schnipsel, dass die Kinder vergessen hatten die Tür zu seinem Hasenstall richtig zu schließen. Er jubelte innerlich. Endlich die ersehnte Chance auf Freiheit. Schnipsel stieß die Tür auf und hüpfte aus dem Stall, drückte die angelehnte Zimmertüre mit seinem Kopf auf und hoppelte langsam Richtung Eingangstür. Die war natürlich verschlossen.

Also quetschte er sich in die Ecke neben den Schuhschrank, zog mit den Zähnen noch eine leichte Sommerjacke von der Garderobe auf sich. So würde ihn keiner entdecken. Jetzt hieß es warten. Normalerweise kam die Mutter mittags zum Essen nach Hause, wenn er vorsichtig war, konnte er schnell entwischen, wenn sie die Haustür öffnete. Und tatsächlich, nach kurzem Warten hörte er Schritte und einen Schlüssel im Schloss. Schnipsels Herz pochte wild, seine Nase zuckte aufgeregt.

Dann stieß die Mutter die Tür auf und rief: „Ich bin da!“. Sie warf ihren Schlüssel auf den Schuhschrank, ihre Aktenmappe stellte sie daneben. Den Augenblick nutzte Schnipsel zur Flucht.

Mit einem großen Satz hüpfte er durch die immer noch geöffnete Haustür, sauste die vier Stufen der Steintreppe hinab und warf sich seitlich ins Gebüsch. Schwer atmend kauerte er dort und wartete darauf, dass endlich die Haustür zuschlug. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis das ersehnte Klappen der Tür ertönte. Sie hatten also nichts bemerkt.

Schnipsel schaute sich um, in welche Richtung er weiterhoppeln wollte. Im Garten nebenan schraubte der Nachbarsjunge an einem alten Opel Manta. Dort sollte er sich lieber nicht hinwenden. Auf der anderen Seite grenzte das Grundstück an ein Weizenfeld. Schnipsel hoppelte schnell über den Rasen, tauchte unter dem Zaun durch, überquerte den Feldweg und verschwand zwischen den Halmen.

Nach dem Mittagessen liefen die Kinder ins Spielzimmer. Die Tür des Hasenstalls stand sperrangelweit offen. Schnipsel war nicht zu sehen.

„Welcher Blödmann hat den Hasenstall offen gelassen!“, brüllte der Vater, als er vom Geschrei der Kinder angelockt ins Zimmer kam.

Nun suchten sie überall, unter dem Bett, hinter dem Schrank, im Sofakasten, im Flur, im Wohnzimmer, in den Schlafzimmern, in der Küche. Aber Schnipsel blieb verschwunden.

17. Januar – Der vermaledeite Nebelscheinwerfer

Das war eine Suppe da draußen, solch einen elenden Nebel hatte Celine noch nie erlebt. Sie konnte kaum die nächste Laterne erkennen, geschweige denn sehen, wo diese blöde Straße weiterging. Nebelscheinwerfer und Nebelschlussleuchte hatte sie längst eingeschaltet. Aber Celine hatte den Eindruck, dadurch noch weniger zu sehen.

Jedenfalls nach vorn! Die Nebelschwaden rechts und links der Straße wurden von den Scheinwerfern ganz hervorragend ausgeleuchtet. Eine Wand aus Watte! Celine hörte als einziges Geräusch auf dieser Welt nur noch den Motor ihres Autos, aber ganz hohl und halb verschluckt. Sie kroch inzwischen dahin. Es schien ihr, dass die weiße Wand vor ihr nur widerwillig den dunkelgrauen Straßenbelag ausspuckte. Am liebsten wäre sie stehen geblieben, aber es gab keinen Seitenstreifen an dieser kleinen Kreisstraße und Celine hatte auch keine Lust im Graben zu landen.

Hätte sie nur auf ihren Vater gehört, dann würde sie jetzt mit einer dampfenden Tasse Tee in der Küche ihrer Eltern sitzen anstatt mit dem Nebel, um jeden Meter Straße zu ringen. Sie versuchte mit dem Fernlicht, die dicken Schwaden zu durchdringen. Aber der Nebel blieb genauso dicht, wurde nur strahlender angeleuchtet und blendete sie sogar. Also wirklich, irgendwo hinter diesem Nebel war Sonnenschein, grünes Gras, Luft, Weite, schlicht die Welt.

Dann fiel Celine ein, was ihr Vater heute noch gesagt hatte. Laut einer Statistik gab es in den Bundesstaaten der USA, die die Todesstrafe abgeschafft hatten, weniger Mordfälle als in denen die Todesstrafe noch durchgeführt wurde. Wenn es ohne Todesstrafe weniger Mörder gab, dann gab es ohne diesen vermaledeiten Nebelscheinwerfer vielleicht auch weniger Nebel.

Celine schaltete zuerst die Nebelschlussleuchte aus. Der Nebel lichtete sich. Dann drehte sie den Schalter für die Nebelscheinwerfer auf 0. Der Nebel riss auf und gab den Blick auf einen atemberaubend blauen Himmel frei.

15. Januar – Eine tapfere Frau

Eine tapfere Frau hat mir erzählt, dass sie zwei Kinder habe, eine große Tochter und einen Sohn. Der Sohn habe sich im Alter von 19 Jahren das Leben genommen, das sei inzwischen fast 6 Jahre her. Ihre Tochter habe schon Kinder. Sie selbst sei also bereits Großmutter.

Aber es sei ihr doch schwergefallen, nicht einfach aus dem Fenster zu springen, als Anfang des Jahres ihre Gebärmutter entfernt worden sei und sie plötzlich wieder über all das nachgedacht habe: Den Selbstmord ihres Sohnes, den Tod ihrer Mutter mit nur 73 Jahren, nachdem sie sie gepflegt habe und nun eben die Operation.

Wie sie so vor mir steht, erscheint mir diese Frau als ein fröhlicher und optimistischer Mensch, sie redet einfach über ihr Schicksal, macht sich Luft. Reden zu können ist doch schon ein erster Schritt zur Heilung. Oder? Aber vielleicht trifft sie andere Menschen wie mich nur an ihren „guten“ Tagen.

Die finsteren Tage verbringt sie allein in ihrer Kammer und da gibt es keine Rettung. Dann ist sie allein, nur sie und die Geister der Vergangenheit.

14. Januar – Friedensbewegt

In den 1980er Jahren bin ich an Ostern zu Friedensmärschen aufgebrochen, ich habe gegen die Stationierung der Pershing II Raketen demonstriert und unsere Gemeinde hat sich zur „Atomwaffenfreien Zone“ erklärt. Was war ich damals friedensbewegt! „Schwerter zu Pflugscharen“ war mein Slogan, Mahatma Gandhi mein Vorbild und die weiße Taube mein Symbol.

Heute denke ich lieber nicht darüber nach, dass deutsche Soldaten weltweit im Einsatz sind. Und falls doch, dann mache ich mir unterstützt von beruhigenden Medienberichten romantische Vorstellungen: Unsere Soldaten sorgen für Ruhe und Ordnung. Und die einheimische Bevölkerung ist unseren Jungs dafür dankbar.

Keiner meiner Freunde und Bekannten kam auf die Idee eine Karriere bei der Bundeswehr anzustreben. Die Chancen standen also gut, dass ich niemals mit den Realitäten der deutschen Auslandseinsätze konfrontiert würde.

Dann begegnete ich Klaus! Er saß mir im Zug gegenüber und schüttete mir ungefragt sein Herz aus. Klaus ist Anfang vierzig und wie ich ihn verstanden habe Reserveoffizier mit Spezialausbildung. Er entschied sich zu einer Zeit für diese Laufbahn, als ich noch für den Frieden marschierte. Und er hat sich damals auch nicht träumen lassen, dass es mit dem Job jemals richtig Ernst würde.

Aber heute reicht es ihm – nach insgesamt 12 mehrmonatigen Auslandseinsätzen in Kriegsgebieten vom Kosovo bis Afghanistan und bald im Sudan, von denen er zehnmal verwundet heimgekehrt ist. Vor allem, weil die Bilder ihn nicht loslassen. Bei seinem letzten Einsatz sei er auf eine Mine gefahren, bei dem Einsatz davor in Afghanistan sei er angeschossen worden. Der Schütze sei ein höchstens vierzehn Jahre alter Junge gewesen. Da hieß es: „Der oder ich“. Klaus habe das Kind getötet. Er selbst kam mit dem Leben davon.

Ich habe mich nicht getraut, Klaus zu fragen, ob er sich deshalb schlecht fühlt, ob es ihm leidtut, dass er ein Kind erschießen musste. Stattdessen erzählt er mir, dass durch die ständigen Auslandseinsätze bereits seine erste Ehe gescheitert sei. Und er befürchte, dass dies auch seiner jetzigen Beziehung blühe. Heiraten wolle er seine Freundin trotzdem. Er überlege noch, wie er um weitere Einsätze herumkommen könne. Er erzählt, dass er bereits versucht habe, sich zu weigern. Leider sei ihm daraufhin vorgerechnet worden, wie viel Geld seine Ausbildung den Staat gekostet habe. Er habe unterschrieben, die Vorteile genutzt, nun müsse er auch dienen.

Und Klaus erzählt weiter. Kürzlich habe er sich auf einen Einsatz vorbereitet, bei dem ein Kamerad befreit werden sollte. Aber der Einsatz habe sich dann erledigt. Der Kamerad sei hingerichtet worden. Und dessen Ehefrau habe ihr Kind verloren. Totgeburt im sechsten Monat. Wir schweigen einen Augenblick, beide Tränen in den Augen. Dann hält der Zug und Klaus steigt aus.

Zweifel steigen in mir auf, das kann, das darf doch alles nicht wahr sein. Falls es wahr wäre, dann dürfte das ein Soldat niemals einer wildfremden Person erzählen, oder? Vielleicht lacht sich Klaus jetzt auf dem Bahnsteig schlapp, welchen Bären er mir aufgebunden hat.
Ganz ehrlich: Mir hat die Vorstellung besser gefallen, dass die deutschen Soldaten im Ausland alles gute Kerle sind, die sich ganz freundschaftlich für den Weltfrieden einsetzen, niemanden töten müssen, niemals sterben und niemals verletzt werden.

13. Januar – Auf dem Lande

Wer auf dem Lande lebt, hat einen entscheidenden Vorteil. Es gibt Momente der Ruhe und Entspannung im Wald, auf dem Feld oder im eigenen Garten – am Tage vielleicht mit einem Kaffee und einer Zigarette oder in tiefer Dunkelheit und schweigsamer Nacht, wenn jedes Geräusch ohrenbetäubend wird.

In solchen Momenten bemerkst Du plötzlich, dass alles wächst und gedeiht. Auf einem Stein tummeln sich Dutzende oder Hunderte von Ameisenköniginnen. Jede bereit, ihren eigenen Staat zu erschaffen. Es wird nicht jeder gelingen, viele werden scheitern. Die Natur ist nicht geizig.

Sie lässt soviel Leben entstehen, dass eine ausreichende Zahl durchkommen wird, um wieder neues Leben zu erschaffen. Immer wieder und ohne Unterlass: Ein stetes Werden und Vergehen. Das Vergehen gehört dazu, es ist genauso wichtig und bedeutend wie das Werden. Die Natur ist nicht geizig und sie liebt all ihre Geschöpfe – auch Dich!

12. Januar – Im Reinhardswald

Beruflich bin ich viel im Auto unterwegs und manchmal zwischendurch brauche ich einfach ein bisschen Bewegung. Dann halte ich irgendwo an, wo es schön und friedlich aussieht, und drehe eine Runde durch einen Park oder über das Feld. Vor einiger Zeit führte mich mein Weg durch den Reinhardswald, einen großen Staatsforst in Nordhessen, in dem viele Eichen stehen aber auch einiges Nadelgehölz. Angelockt von einem wunderbar lichten Nadelwald und der Nachmittagssonne, hielt ich kurzentschlossen auf einem Waldparkplatz an und machte mich auf einen kleinen Spaziergang.

Es gab fast kein Unterholz in diesem Kiefernwald, also ließ ich mich nach einer Weile verleiten den breiten Weg zu verlassen und einfach in den Wald hinein zu gehen. Es war etwas schattig da unter den immergrünen Kiefern. Ihre Stämme waren glatt und hoch, die Kronen konnte ich nur sehen, wenn ich meinen Kopf in den Nacken legte. Je tiefer ich in den Wald kam, umso lauter knarzten und knackten die Bäume, manche Stämme bogen sich leicht im Wind. Ich legte meine Hand an die Rinde eines besonders mächtigen Stammes und fühlte ihn zittern und beben.

Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich gar nicht auf meine Füße geachtet hatte. Ich drehte mich um und sah, dass hinter mir nur Nadelwald lag, licht und schön, aber dennoch kein Weg weit und breit, weder hinter mir, noch rechts, noch links, noch geradeaus. Mir fröstelte plötzlich, die Bäume knackten jetzt ein bisschen lauter.

„Nur nicht die Nerven verlieren“, sagte ich mir selbst. „Du bist in diesen Wald hineingekommen, Du wirst auch wieder hinausfinden.“

Auf keinen Fall aber wollte ich den Weg zurückgehen, den ich gekommen war. Erstens war ich mir nicht sicher, der Wald sah überall gleich aus. Zweitens hasse ich es, den gleichen Weg zwei Mal zu laufen. Ich war von jeher eine Freundin von Rundwegen. Also ging ich rund.

„Aber ohje“, fragte ich mich bei jedem zweiten Schritt, „würde ich jemals ankommen? Kann ich in einem deutschen Forst einfach verloren gehen, verhungern und verdursten?“

Ich wurde etwas langsamer.

„Ach, nein“, machte ich mir Mut, „Du wirst den richtigen Weg schon finden. Hab einfach Vertrauen, in Dich selbst und Dein Schicksal. Das sieht bestimmt nicht vor, dass Du im Reinhardswald verreckst.“

So schritt ich wieder forscher aus.

„Hatte ich nicht letztens in der Zeitung gelesen, dass ein Forstarbeiter im Wald erstochen aufgefunden wurde. Was, wenn sich hier ein Irrer rumtreibt?“

Wieder zögerte ich und blickte ängstlich um mich, lauschte, ob sich jemand Unbekanntes näherte.

„Reg‘ Dich ab, das war doch eine Beziehungstat, die haben den Täter doch längst“, sprach ich mir wieder Mut zu.

„Aber Wildschweine, die sind doch gewiss gefährlich!“ „Nein, nein, die lieben den Eichenwald und halten sich dort auf.“

Merkwürdigerweise trat ich genau in dem Moment, als ich endgültig aufgeben wollte, mit einem letzten Schritt aus dem Wald und stand direkt vor meinem Auto auf dem Waldparkplatz.