18. Januar – Schnipsel – In die Freiheit

Schnipsel, der Zwerghase saß in seinem Hasenstall und mümmelte vor sich hin. Solange die Kinder in der Schule waren, ging es ihm gut. Keiner schleppte ihn ständig herum, keiner zog ihm Puppenkleider an oder zwang ihn sogar dazu mit einer albernen Spielzeugtasche um den Bauch herumzuhoppeln. Nein, nein, das Leben war entschieden angenehmer und friedlicher, wenn er keines dieser lästigen Kinder zu Gesicht bekam.

Und am liebsten, am allerliebsten wäre er gänzlich verschwunden, würde verduften, sich in Luft auflösen. Aber wie sollte Schnipsel das gelingen? Schon lange brütete er über einem Ausbruchsplan. Und jetzt mal ehrlich, so schwer konnte das doch nicht sein. Ein Hasenstall war schließlich nicht Stammheim.

Trotzdem bisher war keiner seiner Pläne aufgegangen. Durchbuddeln ging nicht, der Boden des Hasenstalles war massiv. Gitterstäbe durchnagen ging auch nicht, die waren zu fest. Und die Tür bekam er auch nicht auf, obwohl er doch so genau aufgepasst hatte, wie die Kinder die Tür auf und zu machten. Aber er konnte sie einfach nicht öffnen.

Schnipsel hörte die Türklingel. Einen Augenblick später trampelten die Kinder herein, warfen ihre Schultaschen in die Ecke und stürzten sich auf ihn. Ein Glück, dass der Vater zum Mittagessen rief. Galgenfrist.

Doch dann bemerkte Schnipsel, dass die Kinder vergessen hatten die Tür zu seinem Hasenstall richtig zu schließen. Er jubelte innerlich. Endlich die ersehnte Chance auf Freiheit. Schnipsel stieß die Tür auf und hüpfte aus dem Stall, drückte die angelehnte Zimmertüre mit seinem Kopf auf und hoppelte langsam Richtung Eingangstür. Die war natürlich verschlossen.

Also quetschte er sich in die Ecke neben den Schuhschrank, zog mit den Zähnen noch eine leichte Sommerjacke von der Garderobe auf sich. So würde ihn keiner entdecken. Jetzt hieß es warten. Normalerweise kam die Mutter mittags zum Essen nach Hause, wenn er vorsichtig war, konnte er schnell entwischen, wenn sie die Haustür öffnete. Und tatsächlich, nach kurzem Warten hörte er Schritte und einen Schlüssel im Schloss. Schnipsels Herz pochte wild, seine Nase zuckte aufgeregt.

Dann stieß die Mutter die Tür auf und rief: „Ich bin da!“. Sie warf ihren Schlüssel auf den Schuhschrank, ihre Aktenmappe stellte sie daneben. Den Augenblick nutzte Schnipsel zur Flucht.

Mit einem großen Satz hüpfte er durch die immer noch geöffnete Haustür, sauste die vier Stufen der Steintreppe hinab und warf sich seitlich ins Gebüsch. Schwer atmend kauerte er dort und wartete darauf, dass endlich die Haustür zuschlug. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis das ersehnte Klappen der Tür ertönte. Sie hatten also nichts bemerkt.

Schnipsel schaute sich um, in welche Richtung er weiterhoppeln wollte. Im Garten nebenan schraubte der Nachbarsjunge an einem alten Opel Manta. Dort sollte er sich lieber nicht hinwenden. Auf der anderen Seite grenzte das Grundstück an ein Weizenfeld. Schnipsel hoppelte schnell über den Rasen, tauchte unter dem Zaun durch, überquerte den Feldweg und verschwand zwischen den Halmen.

Nach dem Mittagessen liefen die Kinder ins Spielzimmer. Die Tür des Hasenstalls stand sperrangelweit offen. Schnipsel war nicht zu sehen.

„Welcher Blödmann hat den Hasenstall offen gelassen!“, brüllte der Vater, als er vom Geschrei der Kinder angelockt ins Zimmer kam.

Nun suchten sie überall, unter dem Bett, hinter dem Schrank, im Sofakasten, im Flur, im Wohnzimmer, in den Schlafzimmern, in der Küche. Aber Schnipsel blieb verschwunden.

17. Januar – Der vermaledeite Nebelscheinwerfer

Das war eine Suppe da draußen, solch einen elenden Nebel hatte Celine noch nie erlebt. Sie konnte kaum die nächste Laterne erkennen, geschweige denn sehen, wo diese blöde Straße weiterging. Nebelscheinwerfer und Nebelschlussleuchte hatte sie längst eingeschaltet. Aber Celine hatte den Eindruck, dadurch noch weniger zu sehen.

Jedenfalls nach vorn! Die Nebelschwaden rechts und links der Straße wurden von den Scheinwerfern ganz hervorragend ausgeleuchtet. Eine Wand aus Watte! Celine hörte als einziges Geräusch auf dieser Welt nur noch den Motor ihres Autos, aber ganz hohl und halb verschluckt. Sie kroch inzwischen dahin. Es schien ihr, dass die weiße Wand vor ihr nur widerwillig den dunkelgrauen Straßenbelag ausspuckte. Am liebsten wäre sie stehen geblieben, aber es gab keinen Seitenstreifen an dieser kleinen Kreisstraße und Celine hatte auch keine Lust im Graben zu landen.

Hätte sie nur auf ihren Vater gehört, dann würde sie jetzt mit einer dampfenden Tasse Tee in der Küche ihrer Eltern sitzen anstatt mit dem Nebel, um jeden Meter Straße zu ringen. Sie versuchte mit dem Fernlicht, die dicken Schwaden zu durchdringen. Aber der Nebel blieb genauso dicht, wurde nur strahlender angeleuchtet und blendete sie sogar. Also wirklich, irgendwo hinter diesem Nebel war Sonnenschein, grünes Gras, Luft, Weite, schlicht die Welt.

Dann fiel Celine ein, was ihr Vater heute noch gesagt hatte. Laut einer Statistik gab es in den Bundesstaaten der USA, die die Todesstrafe abgeschafft hatten, weniger Mordfälle als in denen die Todesstrafe noch durchgeführt wurde. Wenn es ohne Todesstrafe weniger Mörder gab, dann gab es ohne diesen vermaledeiten Nebelscheinwerfer vielleicht auch weniger Nebel.

Celine schaltete zuerst die Nebelschlussleuchte aus. Der Nebel lichtete sich. Dann drehte sie den Schalter für die Nebelscheinwerfer auf 0. Der Nebel riss auf und gab den Blick auf einen atemberaubend blauen Himmel frei.

16. Januar – Nach Hause

Eines Abends kam ich wie gewöhnlich von der Arbeit nach Hause, hängte meine Schildmütze an den Haken, zog die schweren Arbeitsstiefel aus und wunderte mich über den merkwürdigen, heulenden Lärm, der aus der Küche drang.

Also öffnete ich die Küchentür und schaute nach. Meine Frau hatte gerade die Teekanne in der Hand, um meinem Vater Tee einzugießen. Ihr Gesicht sah verweint aus, die Augen gerötet, die Wangen ganz verquollen.

Meine Kinder saßen um den Tisch, ließen die Köpfe hängen, die Kleinste schniefte leise. Sogar mein Ältester hatte ganz verweinte Augen. Mein alter Vater saß mit dem Rücken zur Tür und sah mich nicht, unsere Nachbarin, die alte Schmidt stand neben dem Herd und knetete ihren Rosenkranz. Ich wunderte mich sehr. Mir kam es fast so vor, als müsse jemand gestorben sein, nur fehlte keiner. Sogar die Katze saß auf dem Fensterbrett und putzte sich das Fell.

Immer noch hatte mich keiner bemerkt. Ich räusperte mich und fragte leise: „Ist jemand gestorben!“ Meine Frau blickte auf, ließ die Teekanne fallen. Die traf zuerst die gerade gefüllte Tasse am Rand, so dass sie im weiten Bogen den Tee über den Tisch spie und dann Richtung Tischkante sprang. Dann knallte die Kanne auf die Untertasse und zersprang in tausend Stücke. Der Tee spritzte in alle Richtungen.

Mein Vater fuhr mitsamt dem Stuhl ein Stück nach hinten und stieß mich dabei fast um. Meine Frau hingegen streckte mit einem Blick voller Entsetzen die Hand aus und deutete mit ihrem ausgestreckten Zeigefinger auf mich. Ein ersticktes Gurgeln kam aus ihrer Kehle, dann wurde sie ganz weiß und kippte einfach um. Mit einem lauten Krachen landete sie hart auf dem Boden. Ich wollte schnellstens zu ihr, aber mein Vater saß im Weg. Er versuchte noch, seine mit heißem Tee durchnässten Hosenbeine vom Körper fernzuhalten und drehte sich endlich zu mir um.

„Mach Platz“, rief ich. Aber mein Vater wurde ebenfalls blass, seine Kinnlade sank so weit hinab, dass ich befürchtete, sein Gebiss würde mir entgegenspringen. Gleichzeitig hörte ich meine Kinder hilflos wimmern. Mein Vater sprang plötzlich auf, packte den Stuhl an der Lehne und brachte ihn zwischen sich und mich.

„Jesus, keuchte er mühsam und richtete die linke Hand mit ausgestrecktem kleinen und Zeigefinger auf mich. Die Nachbarin brach lauthals in ein „Vater unser“ aus.
Nur meine Jüngste begriff, krabbelte von der Bank einfach unter dem Tisch durch, rannte zu mir und umarmte mich ganz fest.

„Mama, Mama, Papa ist wieder da, Mama, guck doch. Papa ist wieder da.“

15. Januar – Eine tapfere Frau

Eine tapfere Frau hat mir erzählt, dass sie zwei Kinder habe, eine große Tochter und einen Sohn. Der Sohn habe sich im Alter von 19 Jahren das Leben genommen, das sei inzwischen fast 6 Jahre her. Ihre Tochter habe schon Kinder. Sie selbst sei also bereits Großmutter.

Aber es sei ihr doch schwergefallen, nicht einfach aus dem Fenster zu springen, als Anfang des Jahres ihre Gebärmutter entfernt worden sei und sie plötzlich wieder über all das nachgedacht habe: Den Selbstmord ihres Sohnes, den Tod ihrer Mutter mit nur 73 Jahren, nachdem sie sie gepflegt habe und nun eben die Operation.

Wie sie so vor mir steht, erscheint mir diese Frau als ein fröhlicher und optimistischer Mensch, sie redet einfach über ihr Schicksal, macht sich Luft. Reden zu können ist doch schon ein erster Schritt zur Heilung. Oder? Aber vielleicht trifft sie andere Menschen wie mich nur an ihren „guten“ Tagen.

Die finsteren Tage verbringt sie allein in ihrer Kammer und da gibt es keine Rettung. Dann ist sie allein, nur sie und die Geister der Vergangenheit.

14. Januar – Friedensbewegt

In den 1980er Jahren bin ich an Ostern zu Friedensmärschen aufgebrochen, ich habe gegen die Stationierung der Pershing II Raketen demonstriert und unsere Gemeinde hat sich zur „Atomwaffenfreien Zone“ erklärt. Was war ich damals friedensbewegt! „Schwerter zu Pflugscharen“ war mein Slogan, Mahatma Gandhi mein Vorbild und die weiße Taube mein Symbol.

Heute denke ich lieber nicht darüber nach, dass deutsche Soldaten weltweit im Einsatz sind. Und falls doch, dann mache ich mir unterstützt von beruhigenden Medienberichten romantische Vorstellungen: Unsere Soldaten sorgen für Ruhe und Ordnung. Und die einheimische Bevölkerung ist unseren Jungs dafür dankbar.

Keiner meiner Freunde und Bekannten kam auf die Idee eine Karriere bei der Bundeswehr anzustreben. Die Chancen standen also gut, dass ich niemals mit den Realitäten der deutschen Auslandseinsätze konfrontiert würde.

Dann begegnete ich Klaus! Er saß mir im Zug gegenüber und schüttete mir ungefragt sein Herz aus. Klaus ist Anfang vierzig und wie ich ihn verstanden habe Reserveoffizier mit Spezialausbildung. Er entschied sich zu einer Zeit für diese Laufbahn, als ich noch für den Frieden marschierte. Und er hat sich damals auch nicht träumen lassen, dass es mit dem Job jemals richtig Ernst würde.

Aber heute reicht es ihm – nach insgesamt 12 mehrmonatigen Auslandseinsätzen in Kriegsgebieten vom Kosovo bis Afghanistan und bald im Sudan, von denen er zehnmal verwundet heimgekehrt ist. Vor allem, weil die Bilder ihn nicht loslassen. Bei seinem letzten Einsatz sei er auf eine Mine gefahren, bei dem Einsatz davor in Afghanistan sei er angeschossen worden. Der Schütze sei ein höchstens vierzehn Jahre alter Junge gewesen. Da hieß es: „Der oder ich“. Klaus habe das Kind getötet. Er selbst kam mit dem Leben davon.

Ich habe mich nicht getraut, Klaus zu fragen, ob er sich deshalb schlecht fühlt, ob es ihm leidtut, dass er ein Kind erschießen musste. Stattdessen erzählt er mir, dass durch die ständigen Auslandseinsätze bereits seine erste Ehe gescheitert sei. Und er befürchte, dass dies auch seiner jetzigen Beziehung blühe. Heiraten wolle er seine Freundin trotzdem. Er überlege noch, wie er um weitere Einsätze herumkommen könne. Er erzählt, dass er bereits versucht habe, sich zu weigern. Leider sei ihm daraufhin vorgerechnet worden, wie viel Geld seine Ausbildung den Staat gekostet habe. Er habe unterschrieben, die Vorteile genutzt, nun müsse er auch dienen.

Und Klaus erzählt weiter. Kürzlich habe er sich auf einen Einsatz vorbereitet, bei dem ein Kamerad befreit werden sollte. Aber der Einsatz habe sich dann erledigt. Der Kamerad sei hingerichtet worden. Und dessen Ehefrau habe ihr Kind verloren. Totgeburt im sechsten Monat. Wir schweigen einen Augenblick, beide Tränen in den Augen. Dann hält der Zug und Klaus steigt aus.

Zweifel steigen in mir auf, das kann, das darf doch alles nicht wahr sein. Falls es wahr wäre, dann dürfte das ein Soldat niemals einer wildfremden Person erzählen, oder? Vielleicht lacht sich Klaus jetzt auf dem Bahnsteig schlapp, welchen Bären er mir aufgebunden hat.
Ganz ehrlich: Mir hat die Vorstellung besser gefallen, dass die deutschen Soldaten im Ausland alles gute Kerle sind, die sich ganz freundschaftlich für den Weltfrieden einsetzen, niemanden töten müssen, niemals sterben und niemals verletzt werden.

13. Januar – Auf dem Lande

Wer auf dem Lande lebt, hat einen entscheidenden Vorteil. Es gibt Momente der Ruhe und Entspannung im Wald, auf dem Feld oder im eigenen Garten – am Tage vielleicht mit einem Kaffee und einer Zigarette oder in tiefer Dunkelheit und schweigsamer Nacht, wenn jedes Geräusch ohrenbetäubend wird.

In solchen Momenten bemerkst Du plötzlich, dass alles wächst und gedeiht. Auf einem Stein tummeln sich Dutzende oder Hunderte von Ameisenköniginnen. Jede bereit, ihren eigenen Staat zu erschaffen. Es wird nicht jeder gelingen, viele werden scheitern. Die Natur ist nicht geizig.

Sie lässt soviel Leben entstehen, dass eine ausreichende Zahl durchkommen wird, um wieder neues Leben zu erschaffen. Immer wieder und ohne Unterlass: Ein stetes Werden und Vergehen. Das Vergehen gehört dazu, es ist genauso wichtig und bedeutend wie das Werden. Die Natur ist nicht geizig und sie liebt all ihre Geschöpfe – auch Dich!

12. Januar – Im Reinhardswald

Beruflich bin ich viel im Auto unterwegs und manchmal zwischendurch brauche ich einfach ein bisschen Bewegung. Dann halte ich irgendwo an, wo es schön und friedlich aussieht, und drehe eine Runde durch einen Park oder über das Feld. Vor einiger Zeit führte mich mein Weg durch den Reinhardswald, einen großen Staatsforst in Nordhessen, in dem viele Eichen stehen aber auch einiges Nadelgehölz. Angelockt von einem wunderbar lichten Nadelwald und der Nachmittagssonne, hielt ich kurzentschlossen auf einem Waldparkplatz an und machte mich auf einen kleinen Spaziergang.

Es gab fast kein Unterholz in diesem Kiefernwald, also ließ ich mich nach einer Weile verleiten den breiten Weg zu verlassen und einfach in den Wald hinein zu gehen. Es war etwas schattig da unter den immergrünen Kiefern. Ihre Stämme waren glatt und hoch, die Kronen konnte ich nur sehen, wenn ich meinen Kopf in den Nacken legte. Je tiefer ich in den Wald kam, umso lauter knarzten und knackten die Bäume, manche Stämme bogen sich leicht im Wind. Ich legte meine Hand an die Rinde eines besonders mächtigen Stammes und fühlte ihn zittern und beben.

Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich gar nicht auf meine Füße geachtet hatte. Ich drehte mich um und sah, dass hinter mir nur Nadelwald lag, licht und schön, aber dennoch kein Weg weit und breit, weder hinter mir, noch rechts, noch links, noch geradeaus. Mir fröstelte plötzlich, die Bäume knackten jetzt ein bisschen lauter.

„Nur nicht die Nerven verlieren“, sagte ich mir selbst. „Du bist in diesen Wald hineingekommen, Du wirst auch wieder hinausfinden.“

Auf keinen Fall aber wollte ich den Weg zurückgehen, den ich gekommen war. Erstens war ich mir nicht sicher, der Wald sah überall gleich aus. Zweitens hasse ich es, den gleichen Weg zwei Mal zu laufen. Ich war von jeher eine Freundin von Rundwegen. Also ging ich rund.

„Aber ohje“, fragte ich mich bei jedem zweiten Schritt, „würde ich jemals ankommen? Kann ich in einem deutschen Forst einfach verloren gehen, verhungern und verdursten?“

Ich wurde etwas langsamer.

„Ach, nein“, machte ich mir Mut, „Du wirst den richtigen Weg schon finden. Hab einfach Vertrauen, in Dich selbst und Dein Schicksal. Das sieht bestimmt nicht vor, dass Du im Reinhardswald verreckst.“

So schritt ich wieder forscher aus.

„Hatte ich nicht letztens in der Zeitung gelesen, dass ein Forstarbeiter im Wald erstochen aufgefunden wurde. Was, wenn sich hier ein Irrer rumtreibt?“

Wieder zögerte ich und blickte ängstlich um mich, lauschte, ob sich jemand Unbekanntes näherte.

„Reg‘ Dich ab, das war doch eine Beziehungstat, die haben den Täter doch längst“, sprach ich mir wieder Mut zu.

„Aber Wildschweine, die sind doch gewiss gefährlich!“ „Nein, nein, die lieben den Eichenwald und halten sich dort auf.“

Merkwürdigerweise trat ich genau in dem Moment, als ich endgültig aufgeben wollte, mit einem letzten Schritt aus dem Wald und stand direkt vor meinem Auto auf dem Waldparkplatz.

11. Januar – Das muss Liebe sein

Ich war vielleicht drei Jahre alt. Ich weiß noch, dass ich mit Mühe aber ohne Hilfe auf unsere Küchenbank klettern konnte. Es war Abend und die Sonne schien durch das Fenster. Meine Mutter saß am Küchentisch und rieb mir einen Apfel. In diesem Moment, als die Abendsonne golden durchs Fenster strahlte, noch wärmend zwar aber schon zur Nacht geneigt, und mir der säuerlich-süße Duft des Apfels in die Nase stieg, da wusste ich plötzlich, was Liebe ist. Dieses Gefühl durchströmte mich, meinen ganzen Körper und es war das erste Mal, dass ich wusste, was ich da fühlte.

10. Januar – Short Story

„Fasse Dich kurz“, sagte mein Vater als ich von meinem neuen Job erzählte, „wir müssen uns beeilen.“ Also verstummte ich.

„Fassen Sie sich kurz“, sagte meine Therapeutin, als ich ihr endlich von meinen Problemen erzählen konnte, „die Stunde ist gleich zu Ende.“ Also beeilte ich mich.

„Fass Dich kurz“, sagte ich mir, als ich diese Geschichte schreiben wollte, „es ist Zeit schlafen zu gehen.“ Also ging ich zu Bett und träumte einen langen Traum.

9. Januar – Der Kater ohne Namen

Es war einmal ein Kater, der war so wild, dass er keinen Namen hatte. Er unterhielt sich niemals mit den Hauskatzen, die sich von großen, zweibeinigen Wesen streicheln ließen und kamen, wenn man sie beim Namen rief. Diesen großen Wesen traute er nicht. Aber ihr Futter fraß er doch. Denn einige von ihnen stellten für wilde Katzen wie ihn Futter vor die Tür. Aber er schlich sich immer nur an den Napf, wenn er keines von diesen großen Wesen sehen konnte. Später dann fand er eine schöne warme Höhle vor einem Gartenhäuschen, nur 30 Katzenlängen vom Napf entfernt, der regelmäßig morgens und abends mit lecker duftendem Futter gefüllt wurde.

Die Höhle war in einem Holzkasten mit kreisrundem Loch, innen mit kuscheligen Decken rundum gepolstert. Wenn der Kater ohne Namen nachts darin schlief, spürte er auch in der kältesten Winternacht keinen beißenden Wind im Fell. Am Morgen hörte er dann immer, wenn die zweibeinigen Wesen ihr Haus verließen und etwas Futter für ihn in den Fressnapf taten. Dann quietschte das Garagentor und schließlich hörte er einen Motor dunkel und tief brummen. Erst wenn das tiefe Brummen des Autos verklungen war, schlich er sich schnell an den Napf und fraß eilig, was er dort vorfand. Nach einer Weile schlich er schon aus seiner Höhle, wenn er die Tür hörte, und rannte schnell hinter die Mülltonnen und beobachtete von dort, wie das Futter von den zweibeinigen Wesen ausgeteilt wurde. Sobald sich der Zweibeiner zur Garage wandte, sprang der Kater ohne Namen schnell zum Napf und fraß einen hastigen Bissen, immer auf dem Sprung sofort wieder hinter die Mülltonnen zu flüchten, falls der Zweibeiner sich wieder umdrehte.

Eines Tages kam noch ein anderer Kater zu seiner Futterquelle, ein großer schwarz-weißer Bolzer. Der wollte ihm sein Futter wegfressen, das konnte der Kater ohne Namen nicht zulassen. Also warnte er den Schwarz-weißen und fauchte ihn mit zurückgelegten Ohren böse an. Der sprang zurück, machte sich noch dicker, als er war und fauchte. So fauchten und heulten sich die Kater eine Weile bedrohlich an, bis schließlich der Kater ohne Namen angriff und dem Schwarz-weißen zeigte, was ein richtiger Straßenkämpfer ist. Wild kratzte er mit den Pfoten und versuchte, dem dicken Kater in die Schwanzwurzel zu beißen. Das tat am meisten weh. Aber dort kam er nicht heran.

Der andere Kater wehrte sich nach Kräften und versuchte, den Kater ohne Namen ebenfalls an einer empfindlichen Stelle zu erwischen. Nach einer kurzen erfolglosen Rangelei trennten sich die beiden und standen sich wieder lauernd gegenüber. Schließlich versuchte der Kater ohne Namen eine Finte und wirklich, es gelang ihm, den schwarz-weißen einen ordentlichen Biss in den Bauch zu verpassen. Das war noch besser als die Schwanzwurzel. Heulend strampelte sich der Schwarz-weiße frei und biss um sich. Dabei erwischte er den Hinterlauf des Katers ohne Namen. Aber der merkte fast gar nichts davon in seinem Triumph den dicken Bolzer besiegt zu haben. Zufrieden machte sich der Kater ohne Namen über das Futter her.

Aber am nächsten Tag hatte sich die kleine Wunde, eigentlich nur ein Kratzer, entzündet und der Kater ohne Namen hinkte nur zum Futternapf. Und am nächsten Tag konnte er das Hinterbein gar nicht mehr belasten und sprang nur noch auf drei Beinen. Trotzdem rannte er sofort weg, wenn ihm die zweibeinigen Wesen zu nahe kamen. Die versuchten nun den Kater ohne Namen zu locken. Sie hockten sich mit Futter in der Hand auf den Boden und riefen ihn. Aber der Kater ohne Namen lugte nur misstrauisch hinter den Mülltonnen hervor. Das Futter mochte er gerne haben, aber diesen Zweibeinern wollte er einfach nicht näher kommen.
Dann, eines Morgens war kein Futter im Napf. Traurig schlich der Kater ohne Namen zur Tür und schnupperte am leeren Schüsselchen. Er schlich eine Weile ums Haus und da endlich sah er Futter. Ach wie herrlich das duftete. Völlig ausgehungert stürzte er sich auf drei Beinen in den kleinen Drahtkäfig, in dem das Futter lockte. Er bemerkte gar nicht den metallischen Klang hinter sich, so sehr war er mit Schlingen beschäftigt. Erst als er satt war und wieder zu seiner Hütte laufen wollte, da merkte er, dass er gefangen war. Ein paar von den zweibeinigen Wesen näherten sich ihm. Der Kater drehte sich wild im Käfig, kratzte am Boden und biss in die Metallstäbe. Aber es nützte nichts. Die Zweibeiner kamen unaufhaltsam näher. „Wir werden ihn zum Arzt bringen“, sagte eine Stimme. „Er muss auch kastriert werden“, sagte eine andere.

Dann warfen sie ein Tuch über den Käfig und der Kater ohne Namen konnte nicht mehr sehen, was draußen geschah. Er hockte sich ganz eng zusammengekauert hin. Sein Herz schlug schmerzhaft im Brustkorb. Er lauschte. Lange Zeit geschah nichts. Dann hörte er wieder Schritte, der Käfig wurde hochgehoben. Er schwankte leicht und wurde dann in einen hohlen Raum geschoben. Er hörte einen Kofferraumdeckel zuschlagen, dann hörte er Autotüren sich öffnen, Zweibeiner, bedrohlich nahe.

Die Türen schlugen zu, der Motor heulte unangenehm auf und brummte dann beständig. Sie bewegten sich, der Käfig schien sich zu bewegen und zu vibrieren. Der Kater ohne Namen kauerte immer noch abwartend. Er hatte davon gehört. Sie würden ihn wegbringen, sie würden gut zu ihm sein, sie würden ihm einen Namen geben. Und er würde nie mehr sein, wer er einmal war: stolz und frei, der Kater ohne Namen.

8. Januar – Bekannte

Drei Bekannte von mir wohnen in einer Straße, ihre Grundstücke liegen nebeneinander. Der ganz links wohnt, kommt zu mir und sagt: „Mein Nachbar ist so schrecklich, er lässt seinen Garten total verwildern, diese grässliche Wildblumenwiese mit lauter Unkraut, kein Beet ist ordentlich, kein Baum, kein Busch gepflegt und zurechtgestutzt. Immer wehen die Unkrautsamen in meinen ordentlichen Garten hinüber. Der ist doch Rentner, muss der denn so einen verlotterten Garten haben, der hat doch Zeit.

Und im Herbst da fällt immer das Fallobst auf meinen Rasen.“ Aber seinem Nachbarn, dem alten Mann, sagt mein Bekannter nichts. Er grüßt ihn freundlich, wenn er ihn sieht, und flucht innerlich, wenn er in seinem Garten Unkraut jätet oder Fallobst aufliest, denn an all seiner Mühsal ist nur der alte Nachbar schuld.

Auf der anderen Seite vom alten Mann wohnt eine Familie mit kleinen Kindern. Und sie beschweren sich auch bei mir über ihren Nachbarn, genauer gesagt über seine Katze. Denn die legt so häufig tote Mäuse oder manchmal sogar tote Vögel auf deren Terrasse. Und wenn sie nicht immer den Sandkasten der Kinder verdeckt halten, dann verscharrt die Katze dort ihren Kot. Die Familie möchte keinen Streit mit dem alten Mann und die Kinder lieben die Katze ja auch und graulen sie gerne und spielen mit ihr. Aber im Grunde stört sie es doch, dass der alte Mann seine Katze nicht besser erziehen kann.

#Und der alte Mann beschwert sich bei mir, weil seine Katze viel lieber bei den Nachbarn sei. Die Kinder lockten sie doch ständig rüber. Dabei wäre es ihm viel lieber, wenn die Katze bei ihm auf dem Sofa säße. Dann könnte er sie graulen und wäre nicht so allein. Zu ihm kommt sie doch fast nur zum Fressen. Und über den Nachbarn auf der anderen Seite beschwert er sich auch. Der sei ja verrückt, jede freie Minute renne der im Garten rum, zupfe Unkraut. Bei ihm stünden alle Pflanzen stramm wie auf dem Kasernenhof. Keiner dürfe dort über den sorgfältig gerechten Weg laufen. Der Rasen sei mit der Nagelschere getrimmt und fast immer, wenn der alte Mann gemütlich in seinem Garten sitzen wolle, die Zeitung lesen, ein Bierchen trinken, dann lärme unweigerlich da drüben beim Nachbarn irgendein Gerät: Der Rasenmäher, die Heckenschere, der Laubsauger oder sonst eine Höllenmaschine. Es sei doch viel schöner, die Natur einfach wachsen zu lassen. Ab und zu mal mähen, hie und da mal vom Obst naschen. Ihm sei das einfach zu anstrengend, in seinem Alter noch ständig im Garten zu wühlen. Wo bliebe denn da die Gemütlichkeit?

Jeder erzählt mir seine Geschichte und jede kommt mir völlig einleuchtend vor, jede der drei Parteien hat Recht. Ich werde mich auf keine Seite schlagen. Das einzige, was mir einfällt, ist jedem der drei zu sagen: „Sprecht miteinander, nicht mit mir!“ Wenn das nichts nützt, bleibt mir nur, mein Zuhören zu verweigern. Manchmal führt das dazu, dass Menschen miteinander sprechen. Aber meistens weichen sie nur auf einen anderen Zuhörer aus: ihren Friseur, den Pfarrer, ihren Hund oder sonst jemanden.

Früher habe ich in solchen Situationen häufig den Fehler begangen, die Parteien versöhnen zu wollen. Aber bis auf das Allmachtsgefühl, das sich kurzzeitig bei mir einstellte, blieb nur umso größere Ernüchterung beim Scheitern all meiner Bemühungen. Also bleibe ich bei dem, was ich kann: Zuhören. Zuhören und Lernen.

7. Januar – Stille Tage in Klischee

Wenn ich vom ganzen Trubel in unserem nordhessischen Dorf mal wieder gründlich die Nase voll habe, mache ich mich auf und verbringe ein paar Tage in Klischee. Dort ist alles genau so, wie es niemand erwartet, und das lüftet meine Gehirnzellen ganz vorzüglich.
Kaum in den Bahnhof eingefahren werde ich schon von drei Jugendlichen mit Migrationshintergrund freundlich empfangen. Der junge Mann mit Burka stolpert zwar etwas über den Saum seines langen Gewandes, als er mir den Blumenstrauß überreicht, aber die beiden anderen Burschen in ihren alpenländischen Trachten singen herzzerreißende Lieder von der verlorenen Liebsten, die nur in ihrem Heimatland Arbeit fand und jetzt jede Woche Geld schickt für Mann und Großeltern in Klischee.

Meinen Koffer muss ich selbst tragen. Das ficht mich nicht an, mein Hotel liegt nicht weit vom Bahnhof. Ich muss nur den Marktplatz überqueren, auf dem ständig ein schönes Lagerfeuer brennt, zu jeder vollen Stunde gibt es furchterregende Feuerspiele, die Glut spritzt in alle Richtungen und die Flammen schießen in großen Fontänen himmelwärts. Eine Punkerin mit Nickelbrille und strengem Kostüm schenkt mir einen Euro.

Die Straßenkehrerin kippt gerade den Müll auf den Platz und verteilt ihn großzügig. Am Ende stopft sie sich noch ein paar Kaugummis in den Mund, kaut hektisch und spuckt die klebrigen Klumpen auf den Gehweg. Einen mir genau vor die Füße, ich kann gerade noch ausweichen.

Im Hotel angekommen werde ich an der Rezeption mit einer lauten Schimpfkanonade empfangen. Ich kenne das bereits, nehme mir einfach meinen Schlüssel vom Schlüsselbrett, 349 steht auf dem großen Schlüsselanhänger in Knochenform.
Also laufe ich schnurstracks in den zweiten Stock und schließe Zimmer 785 auf.

Wunderbar, alles ist bereit: Das Zimmer verwüstet, alles in Unordnung. Ich suche mir frische Bettwäsche und Putzzeug aus dem großen Schrank im Frühstückszimmer. Das Frühstück wird dafür in der Besenkammer serviert aber nur abends zwischen sieben und neun. Kaum bin ich mit Aufräumen fertig, werfe ich mich mit angezogenen Schuhen aufs Bett, kreuze die Arme im Nacken und freue mich auf weitere, stille Tage in Klischee!