30. Januar – Helga und ihre Masken

Helga ging durchs Labor. Im Vorbeigehen sah sie sofort jeden Fehler, jede Nachlässigkeit ihrer Assistenten und machte sie mit einem Fingerzeig und einer kurzen Bemerkung aufmerksam.

Es durfte einfach nicht geschehen, dass irgendein Gutachten durch die Nachlässigkeit ihrer Mitarbeiter nicht standhielt. Deshalb war sie gefürchtet. Viele Kollegen sagten ihr, sie solle es doch mal etwas lockerer angehen, sie solle die Welt positiver betrachten. Aber wie sollte sie das, wenn von ihren Ergebnissen das Leben von Menschen abhing. Nachlässigkeit war nicht erlaubt.

Am Abend schloss Helga ihre Haustür auf und wurde gähnend von ihrer Katze begrüßt. Die strich ihr kurz um die Beine und schlenderte dann gemütlich voran in die Küche zum Futternapf. Helga zog ihre Pumps aus und schlüpfte in bequeme Hausschuhe, bevor sie in die klinisch saubere Küche ging. Die Katze bekam ihr Futter und Helga schenkte sich selbst ein Glas Rotwein ein. Dann ging sie ins Wohnzimmer.

Dort stand eine große Staffelei, rundherum waren Kleckse von Ölfarbe am Boden und an der Wand. Sie stellte das Weinglas auf einen Beistelltisch und griff zur Palette. In großen, schwungvollen Bewegungen schleuderte sie Farbe auf die Leinwand. Die Katze kam herein und leckte sich das Maul. Dann sprang sie auf die Fensterbank und schaute Helga zu. Sie blinzelte ein bisschen, wenn ein Farbtropfen in ihre Richtung flog.

Dann klopfte Bettina von nebenan an der Terrassentür. Helga machte ihr auf. „Wein ist in der Küche“, sagte sie und schleuderte weiter Farbe auf die Leinwand. Bettina ließ sich aufs Sofa fallen. „Du hast es gut. Bei mir im Wohnzimmer könnte ich nie so rumsauen. Toll, dass Du so locker bist.“

29. Januar – Die Rettung der Welt

Die Welt kratzte sich ein bisschen am Bauch. Es juckte da so doll. Das waren doch bestimmt wieder diese Menschen. Langsam entwickelten die sich zur Plage. Am Anfang hatte die Welt es ja ganz lustig gefunden, dieses ganze Gewimmel.

Und sie fand es auch faszinierend, was sich diese kleinen Leutchen alles einfallen ließen. Nur manchmal wurde es ihr doch ein bisschen zu bunt. War es denn nötig, unbedingt so viele Bäume abzuschlagen, dann wurde ihre Haut ganz trocken und spröde.

Dann diese merkwürdigen Abfälle in großen Fässern, die strahlten bis in alle Ewigkeit und wurden einfach irgendwo ganz tief unter der Erde verbuddelt. Als würde die Welt dann nichts merken. Ein bisschen dumm waren diese Menschen schon. Und dann immer wieder dieser Ölfilm auf dem Meer, der eklige Smog und diese albernen Hochhäuser.

Eine Weile würde sie sich das noch mit angucken. Irgendwann würden Menschen sowieso aus der Mode kommen und, bis dahin war es ja vielleicht doch ganz interessant. Danach würde sich die Welt einfach eine andere Spezies zulegen. Die Welt konnte schon ganz gut auf sich selbst aufpassen. Schließlich war sie alt genug.

28. Januar – Auf dem Weg in die Bretagne

Auf dem Weg in die Bretagne nahm ich den Thalys von Hamm über Köln zum Gare du Nord in Paris. Ich hatte einen kleinen Rucksack dabei, schließlich wollte ich nur eine knappe Woche bleiben. Die Zugfahrkarten hatten ein Vermögen gekostet. Aber mir war jeder Preis Recht, um möglichst weit fort von meinem damaligen Leben irgendwo ans Meer zu kommen.

Also hatte ich mir eine Bahncard gekauft und den immer noch horrenden, ermäßigten Fahrpreis beglichen. Hin- und Rückfahrt. Ich hatte nicht vor zu bleiben. Nur Durchatmen wollte ich. Am Gare du Nord musste ich umsteigen in die U-Bahn nach Montparnasse. Normalerweise gab es dort Fahrkartenautomaten. Aber an diesem Tag waren die Automaten ausgefallen, überall zeugten Schmutz, halbdurchsichtige Planen und Absperrband von Bauarbeiten. Fahrkarten gab es nur an einem schäbigen Schalter, die Schlange davor war unglaublich lang und schob sich nur im Schneckentempo vorwärts.

Nach kurzer Zeit war mir klar, dass ich niemals den TGV erreichen würde, für den ich eine Reservierung hatte. Schließlich war ich bis zum Fahrkartenverkäufer vorgerückt, reichte meine Münzen hin und erhielt ein „Billet“. Aber als ich zu den Drehkreuzen kam, waren die längst von den Bauarbeitern abgeschaltet. Jeder konnte auch ohne Karte passieren.

Durch endlose, deckenhoch gekachelte Gänge ging es zum richtigen Fahrsteig. Schließlich hatte ich mich in einen Waggon gezwängt, blieb stehen, hielt mich an einer Haltestange fest und schaute mich um. Ich war die größte im Abteil, sogar die Männer waren kleiner als ich. In Deutschland gehöre ich zu den kleinen Personen. Mit meiner blonden Kurzhaarfrisur, dem üppigen Busen und reichlich Übergewicht kam ich mir neben den kleinen zarten Franzosen, Algeriern und Tunesiern wie eine waschechte Walküre vor.

Plötzlich war ich die einzige Fremdartige im ganzen U-Bahn-Waggon. Alle anderen gehörten hierher, fuhren wahrscheinlich jeden Tag diese Strecke, wünschten sich bereits, zu Hause zu sein, an der Arbeit oder wo auch immer sie gerade hin unterwegs waren.

In Montparnasse stand ich dann wieder an, am Fahrkartenschalter, um meine Reservierung umzutauschen. Aus irgendeinem Grunde war eine Frau, die hinter mir in der Schlange stand der Meinung, ich könnte der Landessprache mächtig sein und fragte mich etwas. Die Worte perlten aber so schnell aus ihrem Mund, dass mein Schulfranzösisch längst nicht ausreichte, daraus einen verständlichen Satz zu filtern.

Ich zuckte nur entschuldigend mit den Schultern und sagte: „Ich bin Deutsche“. Das verwirrte die Frau zwar, aber sie plapperte immer noch weiter. Erst als ich entschuldigend die Schultern hob und mit dem Kopf schüttelte, wandte sie sich schließlich jemandem anderen zu. Der Mann am Fahrkartenschalter war Menschen ohne Französischkenntnisse gewöhnt und wir verstanden uns fast auf Anhieb. Schließlich hatte ich die Reservierung für den nächsten TGV und musste mich nur noch auf eine Stunde Aufenthalt einrichten. Den Bahnhof zu verlassen erschien mir zu riskant, also setze ich mich in ein Café und beobachtete die Leute.

27. Januar – Eine Mutter sagte zu ihrem Kinde

Eine Mutter sagte zu ihrem Kinde: „Liebes Kind, ich muss Dich leider verlassen. Vor vielen Jahren habe ich Dich geboren. Ich habe Dich groß gezogen. Ich habe Dich genährt und ich habe Dich gelehrt, was ich wusste, so gut ich es vermochte.

Ich habe Dich gehen lassen, als Du soweit warst, mein Haus zu verlassen. Und ich war dennoch immer für Dich da, wenn Du mich brauchtest. Nun ist es für mich Zeit zu gehen. Und ich bitte Dich darum, mich ein kleines Stück zu begleiten.

Es ist schwer für mich, leb wohl zu sagen. Ich möchte so gerne hier sein, wenn Du Kinder bekommst. Ich möchte so gerne hier sein, wenn all Deine Wünsche in Erfüllung gehen. Ich möchte so gerne bei Dir sein, wenn Du lachst und wenn Du weinst.

Ich wünsche Dir, dass Du Dein Leben genießt. Ich wünsche Dir, dass Du glücklich sein mögest. Ich wünsche Dir, dass Du findest, was Du suchst. Ich bitte Dich nur, begleite mich ein kleines Stück. Halte mich an der Hand, so wie ich Deine Hand gehalten habe, wenn Du krank warst. Lass mich eine Weile Deine Nähe spüren. Und dann gehe ich. Dann lass mich los. Es wird mir gut ergehen. Ich habe keine Angst mehr.

Und vergiss niemals: Ich liebe Dich“.

26. Januar – Zahra im Bilde

Die Tischszene war fast fertig. Nur noch wenige Pinselstriche. Zahra trat einen Schritt zurück und betrachtete ihr Werk. Das Gemälde zeigte eine traute Runde von Frauen an einem Kneipentisch, im Hintergrund räumte die Wirtin bereits auf und stellte die Stühle hoch.

Alle Lichter waren schon gelöscht, nur über dem Tisch der Frauen verbreitete eine Lampe heimeliges Licht. Die Gesichter wurden sanft mit einem rosa Schein überglänzt. An der linken Seite steckten zwei Frauen die Köpfe zusammen und erzählten sich etwas Vertrauliches, auf der rechten Seite wurde gelacht.

Die Frau in der Mitte des Bildes trug ein rosafarbenes Tutu und hatte ihren Federkopfschmuck auf den Tisch geworfen. Ihr Mund war geöffnet, als erzähle sie gerade eine fantastische Geschichte, über die die anderen lachten. Die Gläser waren halb geleert. Aber etwas fehlte.

Zahra überlegte, was es wohl sein könnte. Sie hatte die Szene fast lebensecht eingefangen. Die Frauen auf dem Bild könnten ihr jeden Augenblick zuprosten. Und dann merkte sie, was fehlte. Sie machte einen Schritt und setzte sich auf den freien Stuhl im Vordergrund.

„Da bist du ja endlich!“, rief die Frau im Tutu und hob ihr Glas.

25. Januar – Mal was Lustiges

„Schreib doch mal was Lustiges“, habe ich zu mir selbst gesagt und lange überlegt. Danach habe ich meinen allerliebsten Gefährten gefragt, was er von folgender Idee hält.

„Stell Dir mal vor“, hab‘ ich gesagt, „einer recherchiert etwas im Internet und überall steht das Gleiche.

Dann sagt er zu seinem Kumpel: ‚Du die Typen im Internet schreiben aber auch alle voneinander ab.’

Fragt der Kumpel: ‚Wieso, was steht denn da?’

‚Paris ist die Hauptstadt von Frankreich.’“

Mein allerliebster Gefährte schaut mich mit ausdruckslosem Gesicht an.

„Das ist wohl nicht lustig?“, frage ich.

„Ja!“, sagt er.

„Dann gib mir doch mal irgendein Thema, eine Idee, wo ich etwas Lustiges draus machen kann.“

„Wasserkocher.“

„Was soll denn daran lustig sein?“, frage ich.

„Keine Ahnung“, sagt er, „Du bist doch die Autorin!“

Ich schüttele den Kopf.

„Okay“, sagt er, „dann Bohrmaschine, irgendwas mit Männern und Bohrmaschinen“.

Ich habe mich artig bedankt und dann das hier geschrieben.

24. Januar – Der Birkenhain

Die Sonne schien durch die weit auseinanderstehenden Birkenstämme. Ein kleiner Bach plätscherte leise und stetig. Kein Lufthauch wehte. Ein Ameisenhügel lag zerstört im hellen Sonnenlicht.

Ein paar Kinder hatten mit langen Stöcken darin gewühlt und den Erdhügel auseinandergerissen. Die Ameisen rannten aufgeregt umher.

Es war still.

Die Sonne schien auf den Birkenhain, auf den Bach, auf den Hügel und die Ameisen. Und es regte sich kein Hauch.

23. Januar – Michaela Köhler – das warme Herz

Michaela Köhler schloss leise die Tür und bat die Eltern der kleinen Nicole, Platz zu nehmen. Die Mutter schaute sie mit vertrauensvollen Augen an. Michaela setzte sich und holte tief Luft.

„Leider habe ich keine guten Nachrichten für Sie“, begann sie, „der Tumor wächst wieder und hat bereits Metastasen gebildet.“

Die Mutter schluchzte, der Vater umklammerte die Hand seiner Frau. Dann fragte er mit belegter Stimme.

„Und was jetzt?“

Michaela schüttelte unmerklich mit dem Kopf.

„Ich kann Ihre Tochter leider nicht mehr gesund machen. Alle Therapiemaßnahmen sind gescheitert. Wir können nur noch die Schmerzen lindern. Und Sie, soweit es möglich ist, darin unterstützen, Ihre Tochter gehen zu lassen.“

Michaela konnte die Mutter kaum ansehen. Wenn sie nur bessere Nachrichten hätte, wenn sie nur jedes einzelne Kind heilen könnte, wenn sie nur den Schmerz nicht immer und immer wieder fühlen müsste. Ihr Herz zog sich zusammen und sie wünschte sich mindestens zum tausendsten Mal, dass sie so kaltschnäuzig sein könnte wie ihr Chef.

Der war routiniert und dabei sehr freundlich zu den Patienten und deren Angehörige, aber er fühlte niemals mit. Die Schicksale prallten an ihm ab. Und Michaela hatte er unprofessionell genannt, weil sie nur allzu gut nachempfinden konnte, was in den Eltern vorging und wie sehr die Kinder litten, die endlich gehen wollten und nicht durften, weil die Eltern es nicht aushielten, ihr Kind sterben zu sehen. Und so griffen die Eltern nach jedem Strohhalm und drängten darauf, jede Therapie auszuprobieren, die es gab.

Das war richtig so, natürlich. Aber manchmal, wenn es keine große Chance zur Heilung gab, da war jeder Patient irgendwann austherapiert. Es gab nichts mehr, was den Tod verhindern könnte. Vielleicht konnten sie das Leiden und die Qualen noch etwas verlängern. Aber das war es auch schon.

War es da nicht besser, wenn sie den Eltern dabei half loszulassen. Wenn Sie den Eltern dabei half, sich und ihrem Kind noch eine gute Zeit des Abschieds zu ermöglichen.
Natürlich machte das Angst, natürlich erforderte das sehr viel Kraft von den Eltern und auch von Michaela.

„Ich habe mit Nicole gesprochen. Sie möchte so gerne noch einmal auf ihrem Pony reiten. Und sie möchte gerne nach Hause, um Ihnen allen so nah wie möglich zu sein.“
Beide Eltern weinten jetzt.

„Ihre Tochter ist sehr tapfer.“

Michaela kämpfte ebenfalls mit den Tränen.

„Wir können wirklich nichts mehr tun?“, fragte die Mutter. „Ich habe von einer Therapie gelesen, vielleicht…“ Sie verstummte.

„Lass uns zu Nicole gehen. Sie braucht uns“, sagte der Vater.

Die beiden verabschiedeten sich.

Auf dem Regal stand ein großes Modell vom menschlichen Herzen, aus kaltem, hartem Kunststoff.

Michaela nahm es in die Hand. Es war schwer. Sie strich mit dem Finger über die glatte, künstliche Oberfläche. In dem Augenblick wusste sie, dass sie lieber ihr warmes Herz im Körper hatte, auch wenn es manchmal schmerzte.

22. Januar – Ein grüner Frosch

Es war einmal ein grüner Frosch, der saß in einem Gartenteich und quakte ohne Unterlass. Das Grundstück, auf dem sich der Gartenteich befand, gehörte einer alten Frau. Wenn sie sich abends schlafen legte, hörte sie bei geöffnetem Schlafzimmerfenster den Frosch quaken. Dann zog sie sich das Kissen über den Kopf und schlief schließlich ein.

Ihre Nachbarn waren nicht so unempfindlich und beschwerten sich bei der alten Frau, dass der Frosch so laut quakte.

Aber die Frau schüttelte nur den Kopf und sagte: „Sagt mir Bescheid, wenn Ihr gelernt habt, den Fröschen zu befehlen. Ich kann es nicht.“

Da wurden die Nachbarn böse und zogen vor Gericht. Dem Richter wurde eine Messung vorgelegt. Das Quaken des Frosches erreichte einen Lärmpegel, der als Belästigung galt. Also wurde der Frau mitgeteilt, dass ihr Frosch des Nachts nicht zu quaken habe, sonst würde ihr ein Ordnungsgeld auferlegt.

Die Frau aber sagte zum Richter: „Herr Richter, sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie gelernt haben, den Fröschen zu befehlen. Ich kann es nicht.“

Der Richter brummte der Frau wegen Missachtung des Gerichts drei Tagessätze auf.
Die alte Frau zuckte mit den Schultern und ging nach Hause. Der Frosch quakte und quakte.

Als es dunkel wurde, ging die Frau zu ihrem Gartenteich und sprach: „Lieber Frosch, ich weiß nicht, ob Du mich verstehst. Aber ich weiß, dass ich Dir nichts befehlen kann, davon verstehe ich nichts. Trotzdem möchte ich Dir erzählen, dass meine Nachbarn sich beschwert haben, weil Du ohne Unterlass quakst. Und sie haben einen Richter beauftragt, mich zu verurteilen. Und im Urteil steht, dass ich bestraft werde, wenn Du weiterhin nachts quakst. Du würdest mir einen großen Gefallen tun, wenn Du nachts aufhörst mit Quaken.“

Solange die Frau sprach, war der Frosch still geblieben. Nun machte er noch ein einziges Mal „Quak“ und schwieg bis zum Morgen.

Die Frau bedankte sich sehr bei dem Frosch.

Zwei Tage später zog der Frosch um und quakte fortan aus dem Gartenteich der Nachbarn, die die Frau verklagt hatten.

Die alte Frau aber beschwerte sich nicht, sie zog nachts einfach ihr Kissen über den Kopf und schlief schließlich ein.

21. Januar – Der Drache

Der Drache war des Kampfes müde. Lange Zeit hatte er Feuer gespuckt und gewütet, Bäume ausgerissen, Felsen gebrochen und auf Häuser fallen lassen. Er hatte Menschen gejagt und Menschen genagt, aber die schmeckten nicht besonders.

Ab und zu war ein großer Held vorbeigekommen, der ihn töten wollte. Die Lanzen und Schilde dieser Männer hatte er vor dem Eingang seiner Höhle in den Boden gerammt. Zur Abschreckung.

Tatsächlich, es hatte sich seit mindestens 50 Jahren kein Mensch mehr zu seiner Höhle verirrt. Obwohl er noch regelmäßig alle Jahrzehnte ausflog und ab und zu um der alten Zeiten willen auch ein paar Steine auf die Häuser fallen ließ und ein bisschen zündelte, schienen sich die Menschen damit abgefunden zu haben.

Zwar reckten sie noch die Fäuste in seine Richtung. Aber dann kamen sie schon mit Löschwagen angerollt und beseitigten emsig die Schäden, die der Drache angerichtet hatte. Und es machte dem Drachen einfach keinen rechten Spaß mehr, das zu tun, was Drachen gewöhnlich tun. Also schlief er jetzt meistens unter dem Berg und träumte.

Eines Tages wurde er davon geweckt, dass ihn irgendetwas ständig in die Schulter pikste. Er öffnete ein Auge halb und sah ein Mädchen vor sich stehen. Er seufzte. Hatten sie ihm schon wieder so eine lästige Jungfrau geschickt? Er ließ das Lid wieder nach unten klappen. Aber nein, überlegte der Drache, die Jungfrauen hatten sie ihm früher, lange, lange ist es her, draußen an den Felsen gekettet. Und die hatten geschrien und geschluchzt, aber niemals gepikst. Es pikste wieder.

„Hey, Du, Schlafmütze, wach auf!“, hörte er nun eine helle Stimme rufen. Also klappte er das Augenlid wieder hoch.

„Was willst Du?“, grollte es aus seinem tiefsten Innern.

„Ich komme von der Vereinigung ‚Schutz mythologischer Wesen international‘. Unsere Aufgabe ist es die mythologischen Wesen zu retten, die Drachen, die Einhörner, die Elfen, die Zwerge, die Werwölfe, die Vampire, die Nymphen, die Hausgeister, die olympischen Götter und was es sonst noch so alles gibt.“

Der Drache rümpfte die Nase, ein paar Rauchwölkchen quollen hervor. Er wusste nicht genau, was das Gerede bedeuten sollte, aber aus irgendeinem Grunde vermutete er, dass diese Frau noch lästiger sein würde als die Jungfrauen und die Helden zusammen. Ach, sie sollte ihn einfach schlafen lassen, er hatte gerade so schön davon geträumt, dass er einen ganzen Wald in Brand… Es pikste wieder. Jetzt reichte es aber, einen Drachen beim Schlafen zu stören, was für eine Unverfrorenheit. Nun öffnete er beide Augen und fixierte das kleine Menschlein vor sich böse.

„Was?“, blaffte er. „Ich komme von…“ fing die junge Frau wieder an.

„Interessiert mich nicht“, raunzte der Drache.

„Aber Du bist der letzte Drache, und wenn wir nicht dafür sorgen, dass Du…“

„Interessiert mich nicht! Lass mich schlafen!“ Er schloss die Augen. Mit einer schnellen Bewegung schlug er der jungen Frau mit seiner Kralle den Regenschirm aus der Hand, bevor sie wieder piksen konnte. Er öffnete die Augen noch einmal halb, hielt der Frau seine Kralle vor die Nase und sagte.

„Wag es nicht noch einmal her zu kommen, wag es nicht mich noch einmal mit Deinem Dingsda zu pieksen, wag es nicht mir helfen zu wollen. Ich bin ein Drache. Ich brauche keine Hilfe.“

Er spuckte ein bisschen Feuer, um seine Rede zu unterstreichen. Aber er bekam schon gar nicht mehr mit, wie die Frau seine Höhle verließ. Er träumte schon wieder und stieß wohlig grunzend ein paar Rauchwolken aus. Und wenn er nicht gestorben ist, schläft der Drache heute noch irgendwo unter dem Berg.

20. Januar – Die Trauerweide

Im Sommer spielten die Kinder verstecken unter den lang herabhängenden Zweigen der Trauerweide. Manchmal am Abend fanden sich Liebespaare unter ihrer Krone ein, um ungestört zu sein. Aber jetzt im Winter stand sie nackt und ungeschützt im Sturm, im Regen und im Schnee. Nur selten verirrte sich ein Mensch in ihre Nähe. Nur die Hunde kamen nach wie vor jeden Tag und hoben ihr Bein an ihrem Stamm.

Nicht dass es der Weide etwas ausmachte, dass jetzt im Winter die Säfte ruhten und auch ihre Umgebung ruhiger wurde. Jetzt war die Zeit, Kraft zu sammeln, für das Frühjahr, wenn die Blätter wieder austrieben und sie allmählich und stetig weiter wachsen würde und ein bisschen älter werden würde, wie jedes Jahr seitdem sie ein Sprössling gewesen war.

Irgendwann, das wusste die Weide, da würde sie morsch werden oder eine Krankheit würde sie befallen oder sie würde im Weg stehen und dann weit vor ihrer Zeit abgeholzt werden. Sie würden kommen mit Motorsägen und Äxten, sie würden sie kurz und klein machen und ihre Wurzeln ausbaggern wie bei den Platanen, die vorne am Wegesrand gestanden hatten.

Dann würde ihr Holz verbrannt werden und der Rauch würde in den Himmel getragen und weit oben würden die Rauchpartikel Wasser einfangen und eine Wolke bilden und später würde die Trauerweide mit dem Regen aus dieser Wolke wieder zu Boden stürzen. Und dort würde sie für irgendeine andere Pflanze kostbare Nahrung sein und so für immer im Kreislauf des Lebens eingebunden sein.

Nichts und niemand geht jemals verloren.

19. Januar – Texas

Karl war noch nie in Texas. Dabei hatte er sich als kleiner Junge bereits vorgenommen, irgendwann in Texas Öl zu fördern oder wenigsten Rinder zu weiden. Nur hatte das bis heute nicht geklappt. Stattdessen arbeitete er in der Bank am Schalter. Dort konnte er nicht einmal seinen geliebten Stetson tragen und auch seine Cowboystiefel wurden schief angeguckt. Sah ja auch blöd aus zum Anzug. Das wusste er selbst.

Jeden Tag träumte er vom Auswandern, schmiedete Pläne. Aber seine Frau wollte unbedingt in Deutschland bleiben, bei ihrer Familie. Die Kinder hatten ihre Freunde, die Schule. Ausbildung war wichtig. Sie sollten es schließlich zu etwas bringen. Bankkaufmann vielleicht oder Verwaltungsfachangestellte. Das war doch was Ordentliches, was mit Zukunft. Leider nicht mehr so gut bezahlt wie früher und ganz so sicher waren die Jobs auch nicht mehr.

Karl selbst war nur dank des Sozialplans noch immer Angestellter bei der Bank. Als Vater von drei Kindern konnten sie ihn nicht so einfach rauswerfen. Andere hatte es härter getroffen. Frau Schmitz als Ledige ohne Kinder hatte gehen müssen, dabei war sie viel besser qualifiziert als er. Er wusste gar nicht, was die jetzt machte. Im Grunde hatte sie es doch gut. Keine Verpflichtungen. Die konnte jetzt ungehindert aufbrechen zu neuen Ufern. Und er träumte immer noch – von Texas.